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Zu viele Sexual- und zu wenig Stresshormone

Das adrenogenitale Syndrom, kurz auch AGS, ist genau genommen keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Überbegriff für verschiedene erbliche Veränderungen des Stoffwechsels, die alle eines gemeinsam haben: Es werden vermehrt Sexualhormone gebildet. Eigentlich ist es aber das Stresshormon Kortisol, das dem Körper fehlt und den Überschuss an Sexualhormonen verursacht.

Mediziner unterscheiden die seltene klassische Form, bei der die Beschwerden schon bei der Geburt bestehen, von einer milden, sogenannten nicht-klassischen Verlaufsform, bei der Betroffene bis ins Vorschulalter oder sogar bis ins Erwachsenenalter beschwerdefrei bleiben. 

Die Ursache ist ein Enzymdefekt 

Das hormonelle Ungleichgewicht nimmt seinen Ursprung in der Nebenniere, die wie eine Zipfelmütze auf der Niere aufliegt. Beim adrenogenitalen Syndrom kann der Körper nicht genügend Kortisol bilden, weil ein Enzym nicht richtig funktioniert. Stattdessen werden (wegen der fehlenden negativen Rückkopplung auf der entsprechenden Hormonachse) mehr männliche Sexualhormone produziert.

Ähnlich wie mehrere, hintereinandergeschaltete Maschinen werden verschiedene Enzyme benötigt, um wie am Fließband Stück für Stück das fertige Hormon zu produzieren. Kommt nicht genug von einem Hormon im Körper an, kurbelt er automatisch die Hormonproduktion an. Als Folge nimmt die Nebenniere an Größe zu, daher wird die Erkrankung bei Säuglingen auch angeborene Nebennierenvergrößerung genannt. Dadurch werden auch mehr männliche Sexualhormone gebildet. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass sich unreife Hormonvorstufen von Kortisol wie Wasser in einem Stausee ansammeln und der Körper sie stattdessen zu den eng verwandten Sexualhormonen weiterverarbeitet.

Übrigens: Auch im Körper einer gesunden Frau werden männliche Sexualhormone gebildet. Wichtig für die Entwicklung der typischen Geschlechtsmerkmale ist vor allem die Balance zwischen männlichen und weiblichen Hormonen. 

Klassisches AGS: frühe Behandlung dank Neugeborenen-Screening

Das sogenannte klassische adrenogenitale Syndrom fällt meist schon in den ersten Lebenstagen oder -wochen auf, denn im Neugeborenen-Screening werden in Deutschland alle Kinder auf einen Enzymdefekt untersucht, der bei über 95 Prozent der Betroffenen vorliegt: den 21-Hydroxylasemangel. Etwa einer von über 10.000 Menschen ist betroffen. Insbesondere bei Mädchen kann den Eltern, den Hebammen oder den Kinderärzten nach der Geburt zudem auffallen, dass die Geschlechtsmerkmale denen von Jungen ähnlich sehen. Bei einer frühzeitigen und angepassten Therapie ist die Prognose in der Regel gut und die betroffenen Kinder können sich wie ihre gesunden Altersgenossen entwickeln.

Bei einigen Kindern kann auch der Wert des Hormons Aldosteron verringert sein, das den Salz- und Wasserhaushalt steuert. Dann geht dem kindlichen Körper viel Salz verloren. Mediziner sprechen vom sogenannten Salzverlustsyndrom, das schnell behandelt werden sollte. Trinkt Ihr Kind in den ersten Lebenswochen nicht richtig, erbricht oder verliert an Gewicht, suchen Sie zeitnah Ihren Kinderarzt auf.

Hilfe für Eltern betroffener Kinder

Über den Verein AGS - Eltern- und Patienteninitiative können Sie sich mit Eltern anderer betroffener Kinder vernetzen. Als eingeloggtes Mitglied können Sie dort zum Beispiel auch einen Notfallausweis oder Anweisungen für Erziehungs- und Lehrpersonal herunterladen. Auch der Verein Netzwerk Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen e. V. unterstützt Menschen mit bestimmten hormonellen Erkrankungen und bietet zum Beispiel spezielle Informationsmaterialien für Kinder. 

Nicht-klassische AGS: Beschwerden erstmals im Jugend- oder Erwachsenenalter

Nicht immer haben Betroffene schon im frühen Kindesalter Beschwerden. Mediziner sprechen dann von der nicht-klassischen Form, auch late onset AGS genannt, die schätzungsweise etwa einen von hundert bis tausend Menschen betrifft. Bei einem mild ausgeprägten Enzymmangel verursacht das "Mehr" an männlichen Sexualhormonen oft erst im Jugendalter Symptome. Hierzu gehören:

  • vermeintlich frühe Pubertät
  • unreine Haut (Akne)
  • bei Jungen ein vergrößerter Penis und kleine Hoden, typisch sind auch dunkle Pigmentflecken im Genitalbereich
  • bei Mädchen unregelmäßige oder ausbleibende Menstruation 

Die Kinder sind durch ein frühes Längenwachstum zunächst deutlich größer als ihre Altersgenossen. Später sind die Betroffenen dann oft kleiner als der Durchschnitt, wobei eine frühzeitige Behandlung Kindern ein normales Knochenwachstum ermöglicht.

Erwachsene sind zudem häufig übergewichtig und haben zum Beispiel einen Diabetes  mellitus. Die Beschwerden können denen einer Addison-Erkrankung ähneln. Einige Betroffene bleiben sogar ein Leben lang beschwerdefrei. Mitunter fällt die Erkrankung erstmals durch einen unerfüllten Kinderwunsch auf.

Seltene Tumore 

Auch bestimmte Tumore der Nebennierenrinde oder der Geschlechtsdrüsen, der sogenannten Gonaden, können männliche Sexualhormone bilden und ähnliche Beschwerden verursachen. Solche Tumore sind allerdings sehr selten.

Therapie beim Hormonspezialisten

Ein Endokrinologe ist ein Facharzt, der auf den Hormonhaushalt spezialisiert ist. Er kann die Hormonspiegel im Blut bestimmen und auch Ihren Urin im Labor auf typische Abbauprodukte untersuchen lassen. Besonders bei milden Verläufen wird manchmal erst mit einem speziellen Stimulanz-Test ein Hormonmangel nachgewiesen. Dabei wird die Nebennierenrinde durch eine Testsubstanz zur Produktion von Kortisol angeregt und anschließend die Hormonspiegel im Blut bestimmt. Eine anschließende genetische Untersuchung sichert die Diagnose.

Hormonersatztherapie 

Ziel ist es, den natürlichen Hormonhaushalt des Körpers bestmöglich mit Kortisonpräparaten nachzuahmen, um das fehlende Kortison zu ersetzen. Viele Eltern verunsichert anfangs der Gedanke an eine lebenslange Behandlung ihres Kindes, doch konsequent behandelt bilden sich die Beschwerden zurück. Wenn die Geschlechtsmerkmale bei Mädchen von Geburt an anders aussehen, gibt es zudem die Möglichkeit einer operativen Korrektur. Ihr Arzt kann Sie im Hinblick auf einen solchen kosmetischen Eingriff umfassend beraten. Wichtig sind regelmäßige Kontrollen, damit die Therapie an die zum Teil wechselnden Bedürfnisse des Körpers angepasst werden kann.

Beim nicht-klassischen adrenogenitalen Syndrom ist eine Therapie nur dann notwendig, wenn Sie Beschwerden haben. Niedrig dosierte Kortisonpräparate gleichen den leichten Hormonmangel aus, bei Frauen ohne aktuellen Kinderwunsch können auch orale Kontrazeptiva zum Einsatz kommen.

Körperliche Ausnahmesituationen

In bestimmten Situationen braucht Ihr Körper besonders viel Kortisol. Dazu zählen: 

  • starke körperliche Belastungen
  • eine Erkrankung mit Fieber
  • Operationen: Weisen Sie die behandelnden Ärzte vorab auf Ihre Erkrankung hin. 
  • Durchfall oder Erbrechen, da Ihr Körper mitunter weniger Medikament aufnimmt. Die Wirkstoffe können dann als Spritze oder als Zäpfchen verabreicht werden.

In Absprache mit Ihrem Arzt passen Sie Ihre Therapie an die Bedürfnisse Ihres Körpers an. Bemerken Sie Nebenwirkungen der Medikamente, sprechen Sie mit Ihrem Arzt. Wassereinlagerungen, Muskelschwund, Osteoporose , gedrückte Stimmung, Gewichtszunahme oder eine unregelmäßige Menstruation können ein Grund dafür sein, dass Ihre Therapie angepasst werden sollte.

Tipp: Tragen Sie stets Ihren Notfallausweis bei sich und bereiten Sie sich sorgfältig auf Reisen ins Ausland vor.

Wissenswertes zur Familienplanung 

Auch mit einem angeborenen Enzymmangel steht Ihrem Kinderwunsch in der Regel nichts im Wege. Ist Ihre Erkrankung gut eingestellt, können Sie auf natürlichem Wege schwanger werden. Sprechen Sie Ihren Endokrinologen auf eine geplante Schwangerschaft an.

Wichtig zu wissen: Ist ein Elternteil erkrankt, ist eine genetische Untersuchung des Partners sinnvoll. Denn jeder fünfzigste gesunde Mensch trägt eine Kopie des defekten Gens und gilt als Überträger der Erkrankung. Trägt nur ein Elternteil das jeweilige Gen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind gesund sein wird. Ist der Partner ein Überträger, beträgt die Wahrscheinlichkeit für ein gesundes Kind rund 50 Prozent. Dann kann eine vorgeburtliche Diagnostik durchgeführt und sogar vor der Geburt mit einer Therapie begonnen werden, damit sich bei Mädchen die weiblichen Geschlechtsmerkmale ausbilden können. Lassen Sie sich vorab von Ihrem Arzt beraten, auch um Ihre Therapie optimal einzustellen.