TK: Herr Prof. Dr. Schwab, wie hat sich die Arzneimittelsicherheit für Kinder in den vergangenen Jahren entwickelt?

Prof. Dr. Matthias Schwab: Medikamente für Kinder werden heute dank wissenschaftlicher Forschungsergebnisse evidenzbasierter verschrieben als noch vor Jahren. Dadurch hat sich die Arzneimittelsicherheit eindeutig verbessert. 

So darf zum Beispiel Hustensaft mit dem Inhaltsstoff Codein seit dem Jahr 2015 nicht mehr bei Kindern und Jugendlichen verordnet werden. Der Wirkstoff könnte zu schwerwiegenden Atemproblemen führen, das Risiko ist gegenüber dem Nutzen zu hoch. Ein weiteres Beispiel: Seit dem Jahr 2017 werden die Wirkstoffe Dimenhydrinat und Diphenhydramin bei Säuglingen und Kleinkindern mit Magen-Darm-Infekten nur noch nach strengen Vorgaben eingesetzt, nachdem diese Mittel vor allem in dieser Altersgruppe mit schweren zum Teil tödlichen Nebenwirkungen in Zusammenhang gebracht wurden. 

Prof. Dr. Matthias Schwab

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TK: Wie hat sich die EU-Regelung im Jahr 2007 ausgewirkt, die bei neuen Medikamenten mit Indikation im Kindesalter auch Studien bei Kindern vorschreibt?

Schwab: Die Regelung hat die Arzneimittelsicherheit signifikant verbessert. Die Vorschrift greift, wenn ein Arzneistoff neu auf den Markt kommt und es eine Indikation im Kindesalter gibt. Davor war es so, dass neue Arzneimittel, auch wenn es Indikationen im Kindesalter dazu gab, nicht systematisch mittels klinischer Studien untersucht werden mussten.

Arzneimittel kindgerecht anzuwenden, bedeutet nicht nur die richtige Dosierung zu wählen. Die Medikamente müssen auch entsprechend dargereicht werden - also keine großen Tabletten wie bei Erwachsenen, sondern zum Beispiel als Saft.   

Aber es gibt natürlich immer noch Off-Label-Use in beträchtlichem Umfang wegen der vielen Medikamente, die schon bereits auf dem Markt sind. Diese Arzneimittel werden gebraucht. Im Umgang mit ihnen hat sich ein riesiger Erfahrungsschatz in der Kinder- und Jugendmedizin angesammelt.

Es wäre sicherlich gut, wenn auch zu diesen Medikamenten mehr Studien und Daten vorlägen. Aber wer soll solche Studien durchführen? Die Pharmaindustrie ist dazu nicht verpflichtet. Nach zehn Jahren fällt der Patentschutz weg. Studien bei Kindern sind deutlich teurer als Studien bei Erwachsenen, die Zahl der Anwenderinnen und Anwender ist dann aber deutlich kleiner. Es gibt zwar Drittmittelinitiativen auf europäischer und nationaler Ebene. Aber das sind nur wenige Studien, die den Off-Label-Use nicht signifikant reduzieren.

TK: Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie, die Arzneimittelsicherheit bei Kindern zu verbessern?

Schwab: Ein richtiger Schub nach vorne kann nur durch eine konzertierte Aktion stattfinden. Ich sehe hier auch die Krankenkassen gefordert: Sie sollten sich daran beteiligen und ihre Verordnungsdaten analysieren. Derzeit gibt es etliche gute Initiativen. Jeder versucht sein Bestes zu geben, aber das macht noch keine konzertierte Aktion aus, bei der alle an einem Strang ziehen - auch die pharmazeutischen Unternehmen.

Ein anderer Punkt wäre die Einrichtung eines Lehrstuhls "Klinische Pharmakologie bei Kindern und Jugendlichen". Das gibt es beispielweise in England oder der Schweiz, aber nicht in Deutschland. 

Zudem wird derzeit wichtige Forschungsarbeit geleistet, um die Nebenwirkungen von Arzneimitteln im Kindes- und Jugendalter zu verringern. Patientinnen und Patienten können eine genetische Disposition haben, die für die Nebenwirkungen verantwortlich sind. Wenn das schon bei der Verordnung von Medikamenten berücksichtigt wird, können bestimmte Nebenwirkungen verhindert werden. Dazu gibt es zwar Guidelines und bei der Behandlung von Erwachsenen werden entsprechende Maßnahmen heute schon berücksichtigt. Der Einsatz bei Kindern ist aber ausbaufähig.   

TK: Damit sind wir beim Thema personalisierte Medizin. Wie können Kinder von diesem Trend profitieren?

Schwab: Die personalisierte Medizin ist schon längst im Kindesalter angekommen. In der Krebstherapie ist sie kein Trend mehr, sondern klinische Praxis. Die personalisierte Medizin ist für alle Formen von Erkrankungen geeignet.

Nehmen Sie das Beispiel Mukoviszidose: Eine Krankheit, die durch genetische Veränderungen hervorgerufen wird. Früher sind Kinder im Alter von 16 oder 17 Jahren daran gestorben. Heute ist die Krankheit therapierbar. In den letzten Jahren wurden verschiedene Medikamente entwickelt, die je nach genetischer Ausprägung der Krankheit eingesetzt werden. Dadurch hat sich die Lebensqualität dramatisch verbessert, die Lebenserwartung liegt nun bei 60 bis 70 Jahren. Ein besseres Beispiel für personalisierte Medizin gibt es nicht einmal bei den Erwachsenen.

Zur Person

Der 58-jährige Mediziner Prof. Dr. Matthias Schwab studierte und promovierte an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Bereits 1995 begann er seine Tätigkeit am Dr. Margarete Fischer-Bosch- Institut für Klinische Pharmakologie in Stuttgart, das der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Klinische Pharmakologie heute leitet. Als langjähriges Mitglied der Kommission für Arzneimittelsicherheit für Kinder (KASK) wurde er 2022 in den Wissenschaftlichen Beirat des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) berufen.