Spezielle Erbgutuntersuchung identifiziert gefährliche Keime
Interview aus Rheinland-Pfalz
Durch einen von der Firma Noscendo entwickelten Algorithmus ist auf Basis einer Erbgutuntersuchung und anschließendem Abgleich auf einer digitalen Erreger-Plattform eine weitaus schnellere Erregerdiagnostik möglich.

Interview mit dem Geschäftsführer Dr. Philip Stevens und dem Leiter der Unternehmensentwicklung Dr. Peter Haug.
TK: Herr Stevens, wie funktioniert das neue Verfahren, mit dem Sie Infektionskrankheiten schneller und leichter feststellen wollen?
Dr. Philip Stevens: Uns ist es gelungen, ein vollkommen neues, softwaregestütztes Verfahren zu entwickeln, Erreger im Blut eines Patienten zu identifizieren und zu bewerten. Wir machen uns dazu zum einen zellfreie DNA zunutze und zum anderen eine besondere Art der Erbgutuntersuchung - so genanntes Next-Generation Sequencing. Die Daten, die wir so generieren, analysieren wir mittels DISQVER® - einer Softwareplattform -, um eine Vielzahl von Keimen (Bakterien, DNA-Viren, Pilze und Parasiten) parallel zu detektieren und ihre Relevanz zu bewerten. Dies alles in einem relevanten Zeitrahmen von ca. 24 Stunden.
Dr. Philip Stevens
TK: Was müssen sich Patienten unter "Next-Generation-Sequencing" und "Zellfreier DNA" vorstellen?
Stevens: Zellfreie DNA ist DNA welche frei im Blutstrom eines Menschen vorkommt. Diese hat den Vorteil, dass sie in hohen Mengen vorhanden und leicht zugänglich ist. Es genügt eine normale Blutentnahme, um zellfreie DNA isolieren zu können. Eindringende Prozeduren, wie z. B. eine Biopsie, sind nicht notwendig. Next-Generation Sequencing ist eine Methode, um DNA zu digitalisieren. DNA besteht aus einer Kette von vier Nukleotiden. Next-Generation Sequencing ermöglicht es, diese Kette auszulesen und in einer Textdatei anzuzeigen. Next-Generation Sequencing gestattet es uns also die DNA, und im Falle der Noscendo zellfreie DNA, zugänglich zu machen, um diese durch Algorithmen bearbeiten zu lassen. Ebenso revolutionär ist, dass die modernen Next-Generation-Sequencing-Geräte in der Lage sind mehrere Milliarden DNA-Fragmente gleichzeitig auszulesen.
TK: Kann man mit diesem Verfahren auch andere Krankheiten diagnostizieren?
Stevens: DISQVER® erkennt und bewertet eine Vielzahl von Krankheitserregern aus dem Blut eines Patienten. Somit ist es möglich, dass diese Vorgehensweise bei vielen infektionsassoziierten Erkrankungen eingesetzt werden kann. Die Sepsis ist dabei nur das "Paradebeispiel". Führende Kliniker haben im Rahmen einer deutschlandweiten Pilotierung das Verfahren letztes Jahr in ihren Kliniken eingesetzt und uns zurückgemeldet, dass unser Verfahren außerordentlich nützlich ist, wenn eine Vielzahl von Erregern die Infektion verursachen kann und eine frühe Erkennung einer möglichen Infektion viele Vorteile bringt.
Zudem ist es möglich, diese Analysemethode zum Beispiel auch bei Endokarditis (Entzündung der Herzinnenhaut) und Peritonitis (Bauchfellentzündung) einzusetzen oder bei Patienten, die im Rahmen einer Transplantation von soliden Organen oder Stammzellen Fieber entwickeln. Ebenso kann DISQVER® zum Ausschluss einer Infektion bei Patienten angewandt werden, die nach einer onkologischen Behandlung zu fiebern beginnen.
TK: Herr Haug, angesichts der Corona-Epidemie: Könnte das neue Verfahren bei der Entlastung von Intensivstationen unterstützen?
Dr. Peter Haug: DISQVER® ist der einzige CE zertifizierte Test in Europa. Er entspricht daher allen dafür notwendigen europäischen Richtlinien und nationalen Gesetzen zur Produktsicherheit, der DNA-Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten detektiert und kann eine gezieltere Therapie auf Intensivstationen ermöglichen. Durch den sehr überschaubaren Zeitraum von ca. 24 Stunden und der breiten Abdeckung von Keimen ist es häufig möglich, dem behandelnden Arzt und der zuständigen Mikrobiologie das Analyseergebnis zur Verfügung zu stellen, bevor die klassische Mikrobiologie einen Keimnachweis liefert, sofern dies überhaupt geschieht. Dies, so zeigen unabhängige Studien, kann dazu führen, dass eine entsprechend gezielte antiinfektive Therapie initiiert wird und dadurch die Aufenthaltsdauer auf einer Intensivstation, ebenso wie im Krankenhaus allgemein, verkürzt werden kann.
Dr. Peter Haug
Gerade in Zeiten von Corona ist dies natürlich höchst interessant. Momentan gibt es immer mehr Hinweise in der wissenschaftlichen Literatur, dass viele COVID-19 Infektionen zu einer sogenannten Superinfektion oder Co-Infektion führen. Die Keime, die diese Infektionen hervorrufen, und dann letztendlich zu einer Sepsis, also einem Organversagen führen, werden oft durch klassische mikrobiologische Methoden nicht entdeckt, da diese Patienten bereits eine antiinfektive Therapie erhalten und der Erfolg klassischer Methoden dadurch gehemmt wird. DISQVER® hingegen funktioniert unabhängig von bestehender, als auch nach antiinfektiver Therapie, was ebenfalls den bereits skizzierten Vorteil generiert, dem Arzt und der zugehörigen Mikrobiologie öfters ein positives Analyseergebnis kommunizieren zu können und dadurch potentiell den Einsatz von Breitbandantibiotika zu minimieren.
TK: An welchen Vorhaben arbeiten Sie ansonsten derzeit?
Haug: Neben der Weiterentwicklung von DISQVER® selbst arbeiten wir zum einen daran, dasselbe Verfahren für Neugeborene und Frühgeborene zugänglich zu machen. Hierfür kooperieren wir mit mehreren internationalen Kliniken, um möglichst schnell diesen Schritt machen zu können. Zum anderen arbeiten wir daran, DISQVER® allen Patienten zur Verfügung zu stellen. Einen ersten und extrem wichtigen Schritt haben wir zusammen mit der TK und der Universitätsmedizin Mainz nun geschafft. Eine Erweiterung der Erstattung durch weitere Krankenkassen würde zu einem noch breiteren Einsatz führen. Es würde uns freuen, wenn weitere Kassen dem Vorbild der TK folgten.
Ebenso möchten wir den Test in möglichst viele mikrobiologische Labore direkt einbringen, weil die Verarbeitungszeit von der Probenentnahme bis hin zum Analyseergebnis noch weiter gesenkt werden kann und so ein noch größerer Benefit für den Patienten generiert wird. Nicht zuletzt in der Zeit der COVID-19 Pandemie sehen wir, dass eine breite und stabile Abdeckung von Analysemethoden, durch eine Vielzahl von Laboren, der Schlüssel zum Erfolg ist, wenn es darum geht, Infektionen erfolgreich zu erkennen und gegen diese vorgehen zu können.
Zu den Personen
Dr. Philip Stevens ist Mitgründer und CEO der Noscendo GmbH und hat in dieser Funktion die proprietäre Relevanzbewertung im CE-IVD Erregertest DISQVER® entwickelt. Bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen und Bioverfahrenstechnik (IGB) und Promovent der Max F. Perutz Laboratories (MFPL), Wien. Er ist 2018 vom MIT-Technologie Review als einer der 10 Erfinder in 2018 unter 35 und weiterhin als "Innovator under 35 with the Most Social Impact 2019" in Europa ausgezeichnet worden.
Dr. Peter Haug ist Mitgründer und CFO der Noscendo GmbH und konzentriert sich dabei auf die Steigerung des klinischen Outcomes und die Kostenoptimierung der Behandlung durch innovative Diagnostika. Nach dem Aufbau einer Lohnherstellungs-Gruppe mit mehr als 250 Mio. Euro Umsatz und 1.500 Mitarbeitern aus Werken von AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb und Roche ist er seit 2014 auf die Verknüpfung von klinischem Bedarf, Patienteninteresse und gesundheitsökonomischen Rahmenbedingungen bei innovativen Diagnostika spezialisiert.