KI-Assistenz im OP-Saal der Zukunft
Interview aus Hessen
Wie können KI-Assistenzsysteme den Arzt bei Operationen unterstützen? Antworten im Interview mit Prof. Stefanie Speidel.

Prof. Stefanie Speidel, forscht am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Dresden unter anderem zu KI-Assistenzsystemen im Operationssaal. Sie erklärt, wie künstliche Intelligenz (KI) den Arzt potentiell dabei unterstützen kann, bessere Operationsergebnisse zu erzielen. Zum Beispiel, indem das System während der Operation bei auftretenden Komplikationen zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Infos liefert. Sie erklärt, was von ihrer Arbeit bereits technisch umsetzbar ist und welche Herausforderungen damit auf Kliniken zukommen.
TK: Sie arbeiten und forschen mit KI-Assistenzsystemen im OP-Saal. Können Sie an einem Beispiel erklären, was das heißt?
Prof. Stefanie Speidel
Prof. Speidel: Zum Beispiel forschen wir an Navigationssystemen für minimalinvasive Eingriffe bei Lebertumoren. Bei der Operation wird das Operationsgebiet, also der Tumor, auf einem Monitor dargestellt. Auch Risikostrukturen, wie Blutgefäße, die nicht verletzt werden dürfen, sind dabei erkennbar. Das ist sehr vorteilhaft, weil diese Strukturen sonst unter der Organoberfläche nicht sichtbar sind.
Wir arbeiten daran, dass man auf Basis der Patientendaten - wie etwa aus der Computer-Tomographie - in das Innere des Organs blicken kann und das Operationsziel auf dem Monitor über die erweiterte Realität angezeigt bekommt. Der Chirurg braucht so kein mentales Modell mehr, mit dem er sich auf die Operation vorbereitet. Er sieht das Operationsgebiet ganz plastisch vor sich auf dem Bildschirm. Die künstliche Intelligenz berechnet anhand vieler Informationen, die zuvor in das System eingespeist wurden, wo sich der Tumor befindet oder welches die beste Schnittführung bei der Operation ist. Dabei berechnet sie auch, wie sich unter einer Operation die Weichteile verschieben. Zeitgleich passt die KI die Verschiebung auf dem Monitor an.
Organe verschieben sich während des Eingriffs unter anderem, weil der Chirurg bei einer Operation Luft oder Gas in den Bauchraum füllt, damit sich die Bauchdecke ausdehnt und er mehr Platz zum Operieren hat. Der dadurch entstehende Druck auf die Organe, führt immer dazu, dass sich die Organe und auch der Tumor verlagern. Die KI funktioniert dabei wie eine elastische Karte, die in Echtzeit die Verschiebungen vorhersagt: Die Karte unterstützt den Operateur dabei, ein genaueres Bild von dem OP-Gebiet unter den jeweiligen Bedingungen zu erhalten, dann kann er entscheiden, ob er dem Vorschlag des KI-Systems folgt, oder nicht.
Das System ist auch dafür vorgesehen, Komplikationen vorherzusagen. Derzeit befindet es sich aber noch in der Entwicklungsphase und muss noch in umfangreichen klinischen Studien getestet werden.
TK: Wie testen sie die Operationen denn aktuell?
Prof. Speidel: Wir testen an originalgetreuen 3D-Druck-Patientenphantomen. Die Organe bestehen aus Silikon. Wir setzen bei diesen Forschungen echte anonymisierte Patientendaten ein. Damit das System auch eines Tages im Klinikalltag umsetzbar ist, müssen wir sicherstellen, dass die Vorhersage des KI-Systems über die Lage des Tumors tatsächlich immer mit der Realität übereinstimmt. Wir sind jetzt so weit, dass wir Ende nächsten Jahres den ersten echten Patienten evaluieren wollen.
Bei diesem ersten realen Test werden wir einen sehr erfahrenen Chirurgen einsetzen. Einen Arzt, der gut abschätzen kann, wo sich der Tumor befindet und ob ihn das System richtig leitet. Zugleich kann ein Ultraschall visualisieren, ob das System die korrekte Lage des Tumors bestimmt hat.
Torso eines Patientenphantoms
Prof. Speidel: Das System greift immer auf die individuellen Patientendaten zurück, also auf alle Daten, die aus seinen Unterlagen und seinen radiologischen Befunden sowie Bilddaten ohnehin zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wird Erfahrungswissen von Experten für Lebertumoroperationen eingespeist.
TK: Wie groß müssen Datenmengen sein, damit sich der Chirurg auf die Berechnungen des Computers in der Operation verlassen kann?
Prof. Speidel: Die Datenmenge kann gar nicht groß genug sein. Wir müssen eher fragen: Wie viele Daten reichen aus, um das spezielle Problem zu lösen? Und da hängt es von der Komplexität des Problems ab, wie viele Daten wir benötigen, um Lösungen für die jeweilige Aufgabe zu finden. Tatsächlich ist es in unserem Forschungsfeld schwierig an große Datenmengen zu kommen, weil alle Daten annotiert sein müssen. Das heißt, jede Dateninformation basiert darauf, dass sich vorher ein ausgewählter Experte aus der Chirurgie mit einem Tumor befasst hat, den er auf der Computer-Tomographie intensiv analysiert hat. Diese Daten zu sammeln ist mühsam und kostet viel Zeit.
TK: Welche KI-Assistenzsysteme können bei Operationen noch relevant sein?
Prof. Speidel: Im Operationsmanagement könnte die KI anhand vorliegender Informationen einschätzen, wie lange eine Operation noch dauert. Aktuell geht jemand persönlich durch die Operationssäle und fragt, wie lange der jeweilige Eingriff noch dauert. Mit einem Assistenzsystem könnte das automatisiert werden.
In der Operationsplanung arbeiten wir daran, dass die Bilddaten und zugehörigen 3D-Modelle des Patienten vor der Operation in einer virtuellen Realitätsumgebung nochmals visualisiert werden, um die OP vorab zu simulieren und ein besseres Verständnis von der Lage der Tumore zu haben.
TK: Wie dicht stehen diese Technologien vor der Umsetzung, sofern sich eine Klinik diese Innovation leisten kann?
Prof. Speidel: Auch hier hängt es von der Komplexität des Problems ab. Was das Operationsmanagement angeht, könnte es schon in zwei Jahren entsprechende Module geben. In der Operationsplanung könnten wir in etwa fünf Jahren so weit sein.
Beim Navigationssystem für die Anzeige von Ziel- und Risikostrukturen bei Leberoperationen müssen wir noch mit etwa zehn Jahren rechnen. Das liegt daran, dass es sich um ein intraoperatives System handelt, das umfangreiche technische und klinische Schritte bis zur Zulassung voraussetzt. Auch das führt dazu, dass wir lange brauchen, bis wir die Systeme real einsetzen können. Zudem sind wir dann in der Umsetzung auf die Industrie angewiesen. In der Forschung entwickeln wir den Prototypen, die Kommerzialisierung muss ein Start-up oder eine Firma übernehmen, damit die Translation in die Fläche gelingt.
TK: Wie ist Ihre Einschätzung, welche Bedeutung haben solche Assistenzsysteme für Versorgung und Patientensicherheit?
Prof. Speidel: Diese Systeme werden immer wichtiger. Intraoperative Systeme können die Qualität der Versorgung steigern, weil sie die Expertise von vielen Spezialisten vereinen. Ein einzelner Chirurg kann die Erfahrung weltweiter Experten nicht ansammeln - das System schon. In Kliniken mit hoher Expertise bietet die KI-Assistenz daher einen Sicherheitsgrad on top.
An Standorten, an denen ausgewiesene Spezialisten fehlen, sind diese Systeme nützlich, weil sie die Ärzte unterstützen können. Der Chirurg greift dann mit dem System auf das Wissen der weltweit besten Zentren zurück.
Die Bedeutung der KI-Assistenz geht dabei im Übrigen weit über das deutsche Gesundheitswesen hinaus und ist beispielsweise auch hilfreich in Ländern, in denen keine flächendeckende Versorgung stattfindet. Studien belegen: Je mehr Erfahrung der Chirurg hat, desto geringer ist die Mortalität. Operiert ein Arzt, der eine bestimmte Operation nur selten ausführt, steigt seine Erfolgsquote, wenn er die Expertise aus den KI-Daten einsetzt.
Das System dient der Unterstützung des Chirurgen, der natürlich trotzdem seine Sinne einschalten muss und selbst entscheidet, ob er der vorgeschlagenen Schnittführung des Systems folgen will. Deshalb vertraut der Chirurg nach wie vor auf sein Können und nutzt lediglich die vorhandenen Assistenzfunktionen für den Dienst am Patienten. Daran wird auch deutlich, dass die KI niemanden ersetzt, sondern ein Werkzeug ist, das lediglich unterstützt.
Zur Person
Stefanie Speidel studierte Informatik an der Universität Karlsruhe und am Royal Institute of Technology Stockholm. Im Rahmen des Graduiertenkollegs "Intelligente Chirurgie" promovierte sie 2009 am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit Auszeichnung. Sie leitete von 2012 bis 2016 die Nachwuchsgruppe "Computergestützte Chirurgie" am KIT und wurde 2017 zur Professorin für "Translationale Chirurgische Onkologie" am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Dresden ernannt. Ihre aktuellen Forschungsinteressen umfassen computer- und robotergestützte Chirurgie, intraoperative Workflowanalyse und kontextbezogene Assistenz mittels maschineller Lernverfahren sowie virtuelle und erweitere Realität im Kontext des Operationssaals der Zukunft.