Die Pläne haben ein überwiegend negatives Echo bei den Organisationen im Gesundheitswesen ausgelöst, auch in Baden-Württemberg.

TK: Frau Mussa, wie will das BMG die zu erwartende Finanzlücke in Höhe von 17 Milliarden Euro im kommenden Jahr schließen?  

Nadia Mussa: Zunächst soll der durchschnittliche Zusatzbeitrag um 0,3 Prozentpunkte angehoben werden, um fünf Milliarden Euro einzunehmen. Als weitere Maßnahmen sind unter anderem ein um zwei Milliarden Euro erhöhter Steuerzuschuss, ein Darlehen des Bundes an den Gesundheitsfonds in Höhe von einer Milliarde Euro sowie eine einmalige Solidarabgabe der Pharmaunternehmen von einer Milliarde Euro geplant. 

Nadia Mussa

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Leiterin der TK Landesvertretung Baden-Württemberg

TK: Wie bewerten Sie die geplanten Maßnahmen?

Mussa: Dieser Entwurf geht eindeutig in die falsche Richtung. Der Großteil der geplanten Maßnahmen geht zu Lasten der Beitragszahlenden. Sie sollen 12 der fehlenden 17 Milliarden Euro aufbringen. Zudem enthält der Entwurf keinerlei Impulse für nachhaltige Strukturveränderungen im System. 

Die weitgehend nur einmalig wirkenden Maßnahmen, sowie die Darlehensfinanzierung verstärken den Finanzdruck in den Folgejahren. Die Koalition verhindert durch eine neuerliche drastische Abschmelzung der Finanzreserven eine solide, wirtschaftliche und krisenresistente Haushaltsführung der Krankenkassen.

In einer plötzlich auftretenden Krise wie etwa der Corona-Pandemie ist es wichtig über ausreichend Reserven zu verfügen, z. B. für Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeuten und Therapeutinnen. Wenn es nicht mehr möglich ist, ausreichend und verlässlich Vorsorge zu tragen, dann geht das zu Lasten der Leistungserbringenden und letztlich auch der Patientinnen und Patienten.

Insgesamt ist es natürlich wichtig, dass die Politik das Thema GKV-Finanzierung nun endlich angeht und Leistungskürzungen vermieden werden sollen.

(Hinweis: Die Maßnahmen im Einzelnen werden unten separat aufgeführt.)

TK: Was würde die Umsetzung dieser Pläne für Baden-Württemberg bedeuten?

Mussa: Falls es so kommt und die Beiträge tatsächlich steigen, wäre das natürlich eine große Belastung für die rund 4,8 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigten Menschen in Baden-Württemberg und auch für die Unternehmen, die die Hälfte des Zusatzbeitrags finanzieren. Gerade im wirtschaftsstarken Baden-Württemberg mit vielen gutverdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wäre es fatal, wenn die GKV gegenüber der privaten Krankenversicherung an Attraktivität verliert.   

Hinzu kommt, dass die Landesregierung Rückenwind aus Berlin benötigt, um nachhaltige Strukturveränderungen in Baden-Württemberg voranzutreiben. Stattdessen kommt aus Berlin mit diesem Gesetz das Signal, dass man nichts ändern muss und alles den Beitragszahlern aufbürden kann.

GKV-Finanzierungsgesetz - die geplanten Maßnahmen

Das BMG geht aktuell von einem Defizit von circa 17 Milliarden Euro für die GKV aus. Um diese Lücke zu finanzieren und den zu erwartenden Anstieg der Zusatzbeitragsätze zu begrenzen - nach Schätzung des BMG steigt der Zusatzbeitrag um 0,3 Beitragssatzpunkte - sind folgende Maßnahmen in dem Entwurf vorgesehen:

Einsparungen Krankenkassen: 

  • Reservenabbau bei den Krankenkassen: 4 Milliarden Euro
  • Reserveneinzug aus dem Gesundheitsfonds: 2,4 Milliarden Euro
  • Die gesetzliche Obergrenze für die Finanzreserven der Krankenkassen wird von aktuell 0,8 auf 0,5 Monatsausgaben gesenkt. Die Grenze gilt auch für das bestehende Anhebungsverbot für Zusatzbeitragssätze
  • Reduzierung der Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds von derzeit 0,5 auf 0,25 Monatsausgaben und die vollständige Überführung etwaiger die Obergrenze überschreitender Mittel in die Einnahmen des Gesundheitsfonds im Folgejahr
  • Anstieg der sächlichen Verwaltungsausgaben der Krankenkassen für 2023 auf 3,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr begrenzt und die Zuweisungen an die Krankenkassen für Verwaltungsausgaben um 25 Millionen Euro gemindert. Mittel werden der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds zugeführt
  • Steuerzuschuss aus Steuermitteln in Höhe von 2 Milliarden Euro
  • Darlehen für die GKV in Höhe von einer Milliarde Euro (Entwurf Haushaltsgesetz)

Einsparungen Krankenhäuser:

  • Die DRG-Pauschale wird bereinigt um die "nicht bettnahen" Pflegekosten (Konkretisierung der im Pflegebudget berücksichtigungsfähigen Berufsgruppen). 

Einsparungen Ärztinnen und Ärzte:

  • Aufhebung der mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführten extrabudgetären Vergütung für die (Wieder-)Behandlung von Patientinnen und Patienten, die erstmals in der jeweiligen Arztpraxis vorstellig werden oder die seit mindestens zwei Jahren nicht in der jeweiligen Arztpraxis vorstellig geworden sind. 

Einsparungen Zahnärztinnen und -ärzte:

  • Die Punktwerte und Gesamtvergütungen für die vertragszahnärztliche Behandlung ohne Zahnersatz dürfen im Jahr 2023 höchstens um die um 0,75 Prozentpunkte und im Jahr 2024 höchstens um die um 1,5 Prozentpunkte verminderte Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einkommen im jeweiligen Jahr steigen. 

Einsparungen im Arzneimittelbereich:

  • Verlängerung Preismoratorium um 4 Jahre bis zum 31.12.2026. 
  • Erhöhung des Apothekenabschlags um 2 Euro in 2023 und 2024. 
  • Solidaritätsabgabe für pharmazeutische Unternehmer in 2023 und 2024  
  • Rückwirkende Geltung des Erstattungsbetrags ab dem siebten Monat. 
  • In Erstattungsbetragsvereinbarungen müssen mengenbezogene Aspekte vereinbart werden 
  • Arzneimittelverwürfe auf Grund unwirtschaftlicher Packungsgrößen müssen preismildernd berücksichtigt werden. 
  • Neue Vorgaben für Erstattungsbeträge für Arzneimittel, die keinen, einen geringen oder nicht quantifizierbaren Zusatznutzen haben. (Leitplanken) Neue Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen aufweisen, sollen einen niedrigeren Erstattungsbetrag haben als eine patentgeschützte Vergleichstherapie. Rechnerischer Abschlag auf patentgeschützte zweckmäßige Vergleichstherapien, die noch nicht Gegenstand einer Nutzenbewertung waren. 
  • Die Umsatzschwelle für Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens für die Nutzenbewertung wird von 50 auf 20 Millionen Euro reduziert. 
  • Zudem wird für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen ein Kombinationsabschlag in Höhe von 20 Prozent auf den Erstattungsbetrag eingeführt.