Seit Juli 2021 können Patientinnen vier Genexpressionstests über die reguläre Versorgung nutzen. Dank eines Selektivvertrages konnten TK-Versicherte alle Genexpressionstests bereits vorher in Anspruch nehmen. Teilnehmende Ärzte waren unter anderem Professor Wilko Weichert, Leiter des Instituts für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie der TU München und Dr. Johannes Ettl, Oberarzt der Frauenklinik am Klinikum rechts der Isar. Mit ihnen sprachen wir über die Vorteile des Tests und wie er die Behandlung von Brustkrebs verändert hat.

TK: Welche Chancen und welche Grenzen für die Patientin sehen Sie beim Einsatz eines Genexpressionstests?

Dr. Johannes Ettl: Die Chance des Tests beim frühen Brustkrebs ist sicherlich, dass man unnötige Chemotherapien vermeiden kann, indem man das Risiko, das die Patientin mit ihrer individuellen Erkrankung in sich trägt, quantifizieren und dann eben auch überlegen kann, wie aggressiv und tiefgehend man therapieren muss. Man kann zum Beispiel klären, ob eine reine fünfjährige antihormonelle Therapie nach Entfernung des Tumors und Bestrahlung reicht oder ob zusätzlich eine Chemotherapie notwendig ist. Der Test liefert uns zunehmend auch die Möglichkeit, einzelne Patientinnen herauszufiltern, die eine Empfehlung zur Chemotherapie bekommen sollten, weil wir sehen, dass der Tumor aggressiver ist als gedacht. Früher hätten wir diesen Patientinnen gegebenenfalls keine Chemotherapie empfohlen.

Dr. Johannes Ettl

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Oberarzt der Frauenklinik am Klinikum rechts der Isar

Die Hauptchance des Tests liegt also in der Deeskalation der Therapie.

Wichtig ist, dass der Test nur ein Faktor bei der Therapieentscheidung ist und dass er der Patientin nur im Zusammenhang mit klinischem Sachverstand nützt. Man kann den Test auch nicht bei allen Patientinnen einsetzen. Wir sprechen hier immer vom hormonsensitiven, HER2 negativen frühen Brustkrebs, bei anderen Tumoren sieht die Behandlung ganz anders aus.

Prof. Dr. Wilko Weichert: Das Schöne an diesem Test ist zudem, dass wir in erster Linie Patientinnen identifizieren, denen wir etwas nicht geben müssen. Dass wir eine Therapie rausnehmen können, weil sie einer Patientin mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nützt. Und die Grenze ist, wie von Dr. Ettl bereits erwähnt, dass der Test in einen riesigen Behandlungszusammenhang gebettet ist. Die Vorstellung, ich mache einen Test und wenn er positiv oder negativ ist, bekomme ich dies oder das, ist falsch. Die molekulare Testung ist ein Baustein für die Therapieplanung, in die auch die Histologie sowie natürlich die klinischen und radiologischen Informationen einfließen.

Prof. Wilko Weichert

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Leiter des Instituts für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie der TU München 

TK: Was versteht man unter molekularen Tests?

Prof. Weichert: Der Begriff molekularer Test ist sehr weit gefasst. Ein molekularer Test ist beispielsweise auch schon die Bestimmung der Hormonrezeptoren. Die Frage ist hier häufig, ob es ein Ziel im Tumorgewebe gibt, gegen das man ein Medikament geben kann. Findet man viele Hormonrezeptoren bedeutet das möglicherweise, dass antihormonelle Therapien gut wirken. Molekulare Tests gehen heute jedoch noch sehr viel weiter: Die Genexpressionstests im Brustkrebs erfassen beispielsweise die Höhe der Expression einer ganzen Reihe unterschiedlicher Gene in einem Tumorgewebe und deren Verhältnis zueinander, woraus dann eine Biologie abgeleitet werden kann. Zudem gibt es noch so genannte DNS-Sequenzierungen, bei denen man das veränderte Erbgut von Tumoren untersucht. Ein Tumor ist wie ein Organismus, der sich konstant entwickelt und sein Erbgut verändert. Wenn sich in diesem Erbgut Veränderungen zeigen, gegen die wir Medikamente haben, dann können diese Medikamente auch genutzt werden, um den Tumor zu attackieren. Molekulare Testungen sind extrem im Wandel, sie werden in fünf bis zehn Jahren ganz anders aussehen als heute.

TK: Wie genau lässt sich das individuelle Risiko eines Rückfalls bestimmen bzw. wie werden die Gene untersucht?

Dr. Ettl: Es sind häufig im Wesentlichen die Gene und deren Aktivität im Tumor, die basierend auf der Biologie definieren, wie sich ein Tumor bezüglich seiner Wahrscheinlichkeit Metastasen zu setzen verhält. Der Test ist also nichts anderes als eine Methode, zu quantifizieren wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Patientin in der Zukunft Metastasen bekommt und der Brustkrebs von der heilbaren zur unheilbaren Krankheit wird. Und diese Wahrscheinlichkeiten lassen sich berechnen, weil man in der Vergangenheit ganz viele Tumore analysiert und dann in Studien nachgeprüft hat, wie hoch das Risiko für Metastasen ist, wenn ein Tumor ein bestimmtes Genexpressionsmuster aufweist. Das Ergebnis des Tests und die entsprechende diagnostische Einordnung hilft sehr bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit der Patientin.

Wenn wir das individuelle Risiko für eine Patientin auf Grundlage der Befunde für ausreichend hoch einschätzen, halten wir es für gerechtfertigt, eine intensivere Therapie durchzuführen, die unter Umständen dieses Risiko auffangen kann. Oder eben der andere Fall, dass das Risiko so gering erscheint, dass die Entscheidung gegen die Chemotherapie getroffen wird. Denn eine Chemotherapie hat nicht nur akute Nebenwirkungen, sie hat auch Langzeitrisiken, sie kann z. B. zu Herzmuskelschädigungen und Leukämien führen. Zwar treten diese Krankheiten nur bei sehr wenigen Patienten auf, man darf diese Risiken aus unserer Sicht aber nicht ignorieren.

Prof. Weichert: Aus Testsicht: Wenn wir von den klinischen Kollegen für einen Genexpressionstest angefragt werden, machen wir zunächst eine Qualitätskontrolle des Materials und schauen, ob es für den Test geeignet ist. Wenn wir genügend Material haben, dann ist der Test in nahezu 100 Prozent der Fälle entlang unserer Qualitätskriterien zuverlässig durchführbar. Dabei ist wichtig, dass die Tests gemäß der Akkreditierungsrichtlinien regelmäßig hinsichtlich der Präzision des analytischen Ergebnisses geprüft werden.

TK: Welche Punkte sind bei der Aufklärung über den Genexpressionstest besonders wichtig?

Dr. Ettl: Ich frage die Patientin immer erst, ob sie bereit wäre, sich einer Chemotherapie zu unterziehen, wenn wir eine Empfehlung dafür aussprechen würden. Denn es macht keinen Sinn, einen Test durchzuführen, der zu einer Empfehlung führen könnte, mit der die Patientin nicht leben kann. Deshalb würden wir bei Patientinnen, bei denen aus medizinischen Gründen keine Chemotherapie möglich bzw. sinnvoll ist oder bei Patientinnen, die sagen, ich mache alles, aber im Leben keine Chemotherapie, keinen Test durchführen. Wir klären auch darüber auf, dass es keinen Sinn macht, mehrere Tests gleichzeitig zu veranlassen. Und wir erklären, warum wir diesen Test machen: dass die Krankheit noch nicht ganz klar einschätzbar ist. Wir holen uns außerdem die Erlaubnis, dass wir den Tumor untersuchen dürfen. Und wir informieren, dass wir nur die Expression von bestimmten Genen des Tumors untersuchen und dass dies nichts mit einer erblichen Belastung oder mit einem familiären Risiko zu tun hat.

Natürlich erläutern wir, dass der Test auch Grenzen hat und nur in Zusammenhang mit anderen Untersuchungsergebnissen zu einer informierten Therapieentscheidung führen kann.

TK: Bitte schildern Sie einen typischen Fall.

Dr. Ettl: Bei einer 55-Jährigen wird Brustkrebs im Frühstadium diagnostiziert: es handelt sich um einen 2,5 cm großen, hormonrezeptor-positiven, HER2-negativen Tumor. Wir erläutern der Patientin das Therapiekonzept, das aus Operation, medikamentöser Therapie und Strahlentherapie besteht. Die Patientin wird operiert, der Tumor wird entfernt und es wird festgestellt, dass keine Lymphknoten befallen sind. Danach geht es im Tumorboard um die Frage, ob die Patientin zusätzlich zur Strahlentherapie und zur antihormonellen Therapie eine Chemotherapie benötigt. Da wir mit den standardmäßig durchgeführten klinisch-pathologischen Befunden keine eindeutige Empfehlung für oder gegen eine Chemotherapie aussprechen können, führen wir einen Genexpressionstest durch. Das Testergebnis spricht für ein geringes Rückfallrisiko. Das Tumorboard empfiehlt als medikamentöse Therapie die alleinige antihormonelle Therapie ohne Chemotherapie. Mit der Patientin werden alle Befunde, sowie Vor- und Nachteile der verschiedenen Therapien besprochen und die Entscheidung fällt gegen die Chemotherapie aus. Der Patientin bleibt die Chemotherapie und die Nebenwirkungen somit erspart.

Prof. Weichert: Im Rahmen des Genexpressionstests untersuchen wir ausschließlich hormonrezeptor-positive, HER2-negative Mammakarzinome, die die Mehrzahl der Brustkrebstumore ausmachen. Zur Erläuterung: Es gibt drei Typen von Brustkrebs. Es gibt die Tumore, die hormonabhängig wachsen, die also Hormonrezeptoren tragen. Dann gibt es Tumore, die von einem anderen Wachstumsrezeptor namens HER2 abhängig sind, das sind HER2-positive Tumore. Die dritte Form ist das triple-negative Mammakarzinom, das dreifach-negative Mammakarzinom, weil es die Hormonrezeptoren Östrogen und Progesteron sowie HER2 nicht exprimiert, quasi nicht aufweist. Diese verschiedenen Tumore werden jeweils ganz anders behandelt.

TK: Der Genexpressionstest ist eine medizinische Errungenschaft. Wie wird die Versorgung in diesem Bereich momentan weiterentwickelt?

Dr. Ettl: Wir können grundsätzlich Tumore auf molekularer Basis immer besser aufschlüsseln und auch herausfinden, wie sie ticken und von was sie abhängen. Und wenn wir auch noch ein Medikament für eine bestimmte genetische Konstellation dazu haben, dann sind wir in einer sehr guten Situation. Wir müssen jedoch nicht nur den Tumor analysieren, sondern auch den "Wirt", also den Patient bzw. die Patientin. Wie verstoffwechselt der Patient Medikamente und wie bekämpft das Immunsystem den Tumor? Die Tests, die klinische Faktoren mit molekularen Faktoren verrechnen, werden zunehmen. Das ist für mich ein sehr wichtiger Ansatz, dass man die Dinge auf vielen Ebenen integrativ betrachtet: den Tumor, aber auch das Immunsystem und die individuelle Reaktion der Patientin oder des Patienten, die auch die pharmakologischen Untersuchungen mit ein bezieht.

Prof. Weichert: Wir versuchen in der Behandlung von Tumoren immer individueller zu werden, mit dem Ziel, die therapeutische Effizienz zu steigern und Nebenwirkungen zu vermeiden, dadurch dass unnütze Medikamente nicht gegeben werden. Da sind wir in der Forschung auf einem sehr guten Weg. Inzwischen haben wir bei sehr vielen Tumorentitäten zusätzliche molekulare Marker. Wir wollen immer multidimensionaler und feiner werden, mit dem ultimativen Ziel, die eine Patientin oder den einen Patienten herauszupicken, für den eine bestimmte individuelle Therapie gut ist. Wenn man in die Vergangenheit schaut, ist das eine spektakuläre Erfolgsgeschichte. Es ist schön, jetzt onkologisch tätig zu sein und nicht vor zwanzig Jahren. Jetzt sind wir in einer Ära mit sehr viel Dynamik, die dazu führt, dass wir selbst bei metastasierten Tumoren die Krankheit teilweise sehr lange verzögern können. Und bei anderen großen Tumorentitäten wie beim Lungenkrebs gibt es inzwischen einen zugegebenermaßen noch kleinen Prozentsatz von Patientinnen und Patienten, die wir vermutlich sogar heilen können, obwohl der Krebs schon gestreut hat. Schon eine solche Aussicht wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen.