"Innovationen bringen unser Gesundheitswesen voran"
Interview aus Rheinland-Pfalz
Innovationsfonds-Projekte erfordern viel Einsatz, lohnen den Aufwand aber, weil sie unmittelbar den Patientinnen und Patienten zugutekommen, sagt der Vorstandsvorsitzende und Medizinische Vorstand der Universitätsmedizin Mainz Prof. Dr. Norbert Pfeiffer.

TK: Die Universitätsmedizin Mainz hat sich in den zurückliegenden Jahren an zahlreichen Innovationsfondsprojekten beteiligt bzw. solche/diese als Konsortialführer umgesetzt. Wie sehen Ihre bisherigen Erfahrungen aus?
Norbert Pfeiffer: Im Rahmen von G-BA-Innovationsfonds-Projekten haben die Expertinnen und Experten der Universitätsmedizin Mainz einige großartige klinische Innovationen untersucht. Die G-BA-Innovationsfonds-Projekte erfordern viel Einsatz, vor allem, weil die Beantragung und Administration sehr aufwändig sind. Diesen Aufwand scheuen wir aber nicht, da wir dadurch wichtige Fragestellungen bearbeiten können, die klinisch relevant und ausgesprochen versorgungsnah sind und unmittelbar den Patientinnen und Patienten zugutekommen.
Derzeit ist die Universitätsmedizin Mainz an 31 G-BA-Innovationsfonds-Projekten beteiligt. Unsere Projekte zu neuen Versorgungsformen und zur Versorgungsforschung sind vielfältig: Sie umfassen alle Altersgruppen und haben sowohl Themen der Inneren Medizin, der chirurgischen Fächer sowie der Onkologie, Neurologie und Dermatologie als auch die seelische Gesundheit und die Digitalisierung des Gesundheitswesens zum Gegenstand. Was sie eint, ist die Anwendung der Kenntnisse universitärer Spitzenmedizin im Rahmen von Kooperationen mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens. Dadurch gelingt es sehr gut, das Wissen aller Beteiligten in die Breite zu tragen und dieses zugleich zu erweitern.
Darüber hinaus eröffnet die Zusammenarbeit Einblicke in die vielfältigen Perspektiven der verschiedenen Versorgungsbereiche, was wiederum das gegenseitige Verständnis fördert.
Insgesamt hat die Versorgungsforschung in Deutschland durch die GBA-Innovationsfonds-Projekte große Fortschritte gemacht. Zudem sind viele Gesundheitsthemen stärker in das Bewusstsein von Politik und Gesellschaft gerückt.
Prof. Dr. Norbert Pfeiffer
TK: Auf welche innovativen Entwicklungen/Verfahren sind Sie bei der Unimedizin Mainz als Medizinvorstand außerdem noch besonders stolz?
Pfeiffer: Hocherfreut sind wir natürlich über die Erfolgsgeschichte von BioNTech. Denn das visionäre Forscher- und Gründerehepaar des Biotechnologie-Unternehmens ist seit mehr als zwei Jahrzehnten eng mit der Universitätsmedizin Mainz verbunden und bei uns weiterhin wissenschaftlich sowie in der Lehre tätig. Die Universitätsmedizin Mainz hat eine sehr lange immunologische Tradition, die in fast fünf Jahrzehnten durch viele Sonderforschungsbereiche und Großforschungsprojekte eine herausragende Expertise auf dem Gebiet der Immunologie hervorgebracht hat. Univ.-Prof. Dr. Özlem Türeci und Univ.-Prof. Dr. Uğur Sahin sind Teil dieser Tradition und ihr Wirken ist ein exzellentes Beispiel für Translation: Ergebnisse der immunologischen Grundlagenforschung werden in medizinische Behandlung umgesetzt - beim COVID-19-Impfstoff mit immenser Bedeutung für die ganze Welt. Die schnelle Umsetzung "from Bench to Bedside" ist eine besondere Stärke unserer Universitätsmedizin Mainz. Ich bin sehr zuversichtlich, dass unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zukünftig auch in der immunonkologischen Forschung herausragende Erfolge im Kampf gegen Krebs erzielen werden.
Des Weiteren gibt es Neuerungen im Bereich der Medizintechnik und der Digitalisierung, mittels derer wir die Leistungskraft unserer universitären Spitzenmedizin zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten weiter stärken können. In der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie haben wir beispielsweise den aktuell innovativsten Computertomographen in Betrieb genommen. Es handelt sich um ein Dual-Source-Gerät mit zwei Röntgenquellen und einem neuartigen Detektorprinzip. Der neue Computertomograph ermöglicht eine wesentlich genauere und schonendere Diagnostik - ein Vorteil insbesondere für die Herz- und Gefäßbildgebung und für die Onkologie.
Unsere G-BA-Innovationsfondsprojekte geben vielfach Anlass zur Freude und Stolz. So haben wir die großartige Erfahrung machen dürfen, dass deren Erfolge auch ein Impuls für noch umfassendere Projekte sein können: "PROMISE - Prozessoptimierung durch interdisziplinäre, sektorenübergreifende Versorgung am Beispiel von Hüft- und Kniearthrosen" war beispielsweise ein erster Baustein für unsere übergeordnete Vision "Medizin aktiv". Diese definiert das Krankenhaus als Raum der Aktivität und nicht der passiven Genesung. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass auch während einer akuten Erkrankung durch angepasste körperliche Aktivität der Patientinnen und Patienten Komplikationen und Nebenwirkungen verringert werden können.
Wir haben uns daher auf den Weg gemacht, Medizin und ihre Versorgungspfade neu zu denken und aktiv zu gestalten. Es gilt, die Mobilität unserer Patientinnen und Patienten als Leitfaden zu etablieren - für eine schnellere und nachhaltigere Heilung, kürzere Verweildauer und mehr Lebensqualität. "Medizin aktiv" wird viele Bereiche betreffen, Strukturen ändern und Arbeitsprozesse neu definieren. Der Paradigmenwechsel hin zu einer aktivitätsorientierten Medizin verändert die medikamentöse Behandlung ebenso wie die Anästhesie, Operationstechniken sowie die Rolle der Pflege, der Physiotherapie und natürlich die der Patientinnen und Patienten, die aktiv in den Behandlungsprozess integriert werden. Auch bauliche Veränderungen sind erforderlich, um dies umzusetzen. Und: die Ergebnisse von PROMISE haben Eingang in die neuen Leitlinien der Behandlungs gefunden. Besser geht es nicht!
Ein weiteres Projekt, in welchem die Universitätsmedizin Mainz als Konsortialführer fungiert hat, ist Rheuma-VOR. Anlass dafür war ein rheumatologisches Versorgungsproblem. Für die Betroffenen ist eine frühzeitige Diagnose enorm wichtig, denn in den ersten drei Monaten nach Auftreten der Symptome lässt sich der Krankheitsverlauf besonders gut beeinflussen. Durch die Beteiligung aller Akteure in der Rheumaversorgung ist es gelungen, in den vier beteiligten Bundesländern (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Berlin) jeweils ein multiprofessionell besetztes Koordinationszentrum aufzubauen. Die Evaluation von Rheuma-VOR ergab, dass das Netzwerk die Wartezeit bis zur Diagnose gegenüber der Regelversorgung signifikant verkürzen konnte. Dadurch verbesserten sich u. a. auch die Lebensqualität und die Arbeitsfähigkeit. Im Vergleich zur Regelversorgung konnten Einsparungen in Höhe von 3,9 Millionen Euro an direkten und indirekten Krankheitskosten erreicht werden.
Ein anderes bemerkenswertes und sehr erfolgreiches Projekt war "PT-REFORM - Evaluation der Psychotherapie-Strukturreform". In diesem wurde unter Einbindung von Haus- und Fachärztinnen und Fachärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Patientinnen und Patienten und politische Gremien die Änderung der G-BA-Richtlinie zur Durchführung von Psychotherapie multi-perspektivisch evaluiert. Die Studienergebnisse sind gerade publiziert worden und stoßen auf reges Interesse - sie wurden bereits knapp 2.000-mal abgerufen.
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch ein gerade erst gestartetes Projekt, dessen Ziel die Erstellung einer interdisziplinären S3-Leitlinie für Menschen mit Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsfunktion ist. Das Innovative daran ist, dass psychische Störungen als dimensional betrachtet werden, was dem aktuellen internationalen Forschungsstand entspricht, bisher in Leitlinien aber noch keinen Niederschlag gefunden hat. Dafür bedarf es intensiver Forschung.
Das GBA-Innovationsfondsprojekt "TIC-PEA - Entwicklung und Evaluation einer interdisziplinären telemedizinischen Plattform zur umfassenden Begleitung der Versorgung von Kindern mit Ösophagusatresie" ist ebenfalls etwas Besonderes, denn es handelt sich dabei um eine der ersten telemedizinischen Studien in Deutschland. Basierend auf dem Prinzip des Telementorings können deutschlandweit Ärzte, die Säuglinge mit der seltenen Fehlbildung einer Ösophagusatresie behandeln, per Videokonferenz auf ein multidisziplinäres Netzwerk an Expertinnen und Experten zurückgreifen.
Es hat sich gezeigt, dass das Netzwerk vor allem für Patientinnen und Patienten mit weiteren Begleiterkrankungen, komplizierten Formen der Ösophagusatresie und bei Komplikationen dankbar angenommen wird. Zudem war die Teilnahme an der Studie mit dem vermehrten Einsatz modernen Operationsverfahren assoziiert. Das Konzept der Studie kann auf fast jede andere seltene Erkrankung übertragen werden. Im Mai 2022 wurde die TIC-PEA Studie dafür mit dem zweiten Platz beim Deutschen Telemedizinpreis der DGTelemed ausgezeichnet!
TK: Die Universitätsmedizin Mainz richtet im September einen Healthcare Hackathon aus. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Pfeiffer: Es geht darum, durch Digitalisierung Abläufe in der Medizin zu erleichtern. Im Rahmen von Challenges und Workshops zu demonstrieren, wie digitale Lösungen vor Ort entwickelt werden, ist Ziel des "Healthcare Hackathon Mainz". Interdisziplinäre Teams arbeiten an den Lösungen für die Gesundheitsversorgung von morgen - egal ob Branchenexpertinnen und -experten, Dienstleisterinnen und Dienstleister im Gesundheitssektor, Mitarbeitende oder einfach jeder, der Spaß daran hat!
Dieses Jahr findet diese Digitalisierungs- und Innovationsveranstaltung vom 14. bis 17. September 2022 im Alten Postlager in Mainz statt. Unter dem Motto "Gesundheit neu denken" stehen die Themen Krankenhauszukunftsgesetz, Nachhaltigkeit im Krankenhaus und Flexibilisierung von Arbeitsplätzen im Fokus der diesjährigen Veranstaltung.
Die rund 30 Projekte, auch als "Challenges" bezeichnet, sind verschiedenen übergeordneten Themen zugeordnet: Nachhaltigkeit und Mobilität, Bau, New Work, Genius Ideas und Digital Health, Künstliche Intelligenz sowie New Tech. Die einzelnen Wettbewerbsgruppen werden sich Fragen widmen, wie beispielsweise "Virtual Reality und Augmented Reality für Ausbildung an Medizintechnik & Notfallmedizin", "Green Energy & Green IT and more - was ist im Feld der Energieeffizienz und Energieerzeugung möglich?", "Indoor-Navigation in Krankenhaus-Prozessen" oder auch "Smart Work: Flexibilität, Empowerment und Nachhaltigkeit".
Auf dem Programm des "Healthcare Hackathon Mainz 2022" stehen zudem unter anderem eine Besucherausstellung, ein Schulen-Tag, eine Jobmesse und Gesprächsrunden über das Krankenhauszukunftsgesetz.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Norbert Pfeiffer ist seit 2017 Vorstandsvorsitzender und Medizinischer Vorstand der Universitätsmedizin Mainz. Der Vorstand ist für alle Angelegenheiten der Universitätsmedizin einschließlich der strukturellen Weiterentwicklung zuständig. Als Medizinischer Vorstand ist Norbert Pfeiffer insbesondere für Angelegenheiten der Krankenversorgung verantwortlich.
Professor Pfeiffer kam 1995 als Direktor der Augenklinik an die Universitätsmedizin Mainz. Er erhielt zahlreiche wissenschaftliche Auszeichnungen und ist Mitglied von verschiedenen nationalen und internationalen Gesellschaften. Unter anderem wurde er im Jahr 2012 in die Leopoldina aufgenommen.