TK: Der Zusammenhang von Menge und Qualität ist hinlänglich bekannt, findet aber offensichtlich in der stationären Versorgung zu wenig Beachtung. Warum ist das so und welche größten Hürden gilt es aus Ihrer Sicht beim Thema Klinikqualität und beim Thema Patientensicherheit zu überwinden?

Dr. Deerberg-Wittram: Der Zusammenhang von Fallmenge, individueller Behandlungserfahrung und Qualität ist gut untersucht.

In einigen medizinischen Bereichen sind relativ große Fallzahlen, besondere Prozesse und eine hochspezialisierte Infrastruktur nötig um eine gute medizinische Ergebnisqualität erzielen zu können. Das ist zum Beispiel im Bereich der Perinatalmedizin der Fall.

In anderen Bereichen ist der Zusammenhang von Menge und Qualität weniger klar. So wird man beispielsweise bei geschickten Operateurinnen und Operateuren in der Endoprothetik kaum einen Unterschied sehen, wenn statt 100 irgendwo 200 Operationen durchgeführt werden.

Kompliziert wird es, wenn zum Beispiel Belegärztinnen und Belegärzte mit großer individueller Erfahrung ihre Eingriffe an verschiedenen Standorten durchführen. Einen Standort mit weniger als 50 Knie-Endoprothesen pro Jahr auch dann "vom Netz zu nehmen", wenn diese von sehr erfahrenen Belegärztinnen oder Belegärzten erbracht werden, wird die Qualität nicht verbessern.

Meines Erachtens wird aber die grundsätzliche Sinnhaftigkeit einer Mindestmengenregelung nur noch von sehr wenigen Fachleuten wirklich bezweifelt. Das Problem besteht viel eher darin, dass wirtschaftliche Anreize auf der einen Seite und willkürlich gesetzte Mengengrenzen auf der anderen Seite zu Konflikten führen.

Ich finde es akzeptabel, dass offensichtliches Fehlverhalten auch finanziell bestraft wird.
Dr. Jens Deerberg-Wittram

TK: Welche Lösungen schlagen Sie vor?

Dr. Deerberg-Wittram: In den Bereichen, in denen geringe Fallmengen regelmäßig zu einem erheblichen und vermeidbaren Leiden von Patientinnen und Patienten führen (große Unterleibsoperationen, große Oberbaucheingriffe, Neonatalmedizin etc.) sollten Mindestmengen normativ gesetzt und unbedingt nachgehalten werden. Ich finde es akzeptabel, dass offensichtliches Fehlverhalten auch finanziell bestraft wird.

Dr. Jens Deer­berg-Wittram

Dr. Jens Deerberg-Wittram, Geschäftsführer der RoMed Kliniken Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Geschäftsführer der RoMed Kliniken

Bei Eingriffen, bei denen der Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Qualität nicht ganz so klar ist, bei denen wir aber von erheblichen Qualitätsunterschieden in der Versorgung wissen, sollte eine standardisierte Qualitätsmessung gesetzlich verankert werden. Ich finde, dass die Gesetzesgrundlage für die Qualitätsverträge in Deutschland eine gute Basis für Krankenkassen und Krankenhäuser darstellt, um gute Qualität in der Versorgung entsprechend belohnen zu können.

Die RoMed Kliniken wollen zum Beispiel im Bereich der Endoprothetik, bei der Vermeidung des postoperativen Delirs oder bei der Behandlung behinderter Menschen mittelfristig entsprechende Verträge mit unseren Partnerkrankenkassen abschließen.

TK: Die Veröffentlichung der planungsrelevanten Qualitätsindikatoren bzw. die Ergebnisse einzelner Kliniken hat ziemliche Wellen geschlagen. Wie müssten Qualitätsergebnisse aus Ihrer Sicht veröffentlicht werden, damit sie aussagekräftig und für die Patientin oder den Patienten verständlich sind?

Dr. Deerberg-Wittram: Ich finde es grundsätzlich richtig, dass man die Öffentlichkeit über erhebliche Qualitätsdefizite von Krankenhäusern informiert. Aus meiner Sicht sind die planungsrelevanten Qualitätsindikatoren, die in Deutschland bisher Verwendung finden, nicht so schlecht, wie sie manchmal dargestellt werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich hier um einen ersten Versuch handelt, Kliniken zu identifizieren, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in sensiblen Bereichen wie der Krebschirurgie oder der Geburtshilfe echte Qualitätsmängel haben.

Der Traum vom großen Maximalversorger auf der grünen Wiese ist eine Illusion.
Dr. Jens Deerberg-Wittram
 

Die Veröffentlichung im Spiegel und in anderen Medien hat für einige Aufmerksamkeit gesorgt, weil sie gezeigt hat, dass über 70 Kliniken in den genannten Bereichen Daten geliefert haben, die auf echte Versorgungsmängel hinweisen. Einige Kliniken haben darauf tatkräftig reagiert und ihre Versorgung verbessert. Genau das ist das Ziel.

Wir sollten bei allen Initiativen zur Qualitätsverbesserung bitte nicht vergessen, dass Nichtstun und Wegsehen eine politische Haltung dokumentiert, die etablierte Versorgungsstrukturen mehr schützt als Patientinnen und Patienten. Das finde ich falsch.

TK: Wie wird sich der Klinikmarkt in Bayern in den nächsten Jahren verändern? Wie lässt er sich zukunftssicher gestalten bzw. planen?

Dr. Deerberg-Wittram: Wir haben viele Krankenhäuser in Bayern, und es wird von den strategischen Fähigkeiten der Führung, der Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und den finanziellen Möglichkeiten der Träger abhängen, ob ein Krankenhaus fortbestehen wird.

Wir haben als RoMed Kliniken in der Region Rosenheim beispielsweise einen großen Schwerpunktversorger und drei Grund- und Regelversorger, die in vielen medizinischen Bereichen ganz allein die Akutversorgung von knapp 400.000 Menschen sicherstellen. Für uns ist es äußerst wichtig, dass wir an allen vier Standorten Versorgung anbieten, und dass wir ein Netzwerk von ambulanten Angeboten dort vorhalten, wo es unsere niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen nicht können.

Ich nehme wahr, dass es zunehmend schwieriger wird, die immer älter und immer komplexer erkrankte Bevölkerung versorgen zu können.
Dr. Jens Deerberg-Wittram

Der Schlüssel ist allerdings, dass wir an jedem Standort ganz unterschiedliche Schwerpunkte anbieten, die unser Versorgungsauftrag erfordert. So werden wir zum Beispiel die Hochakutversorgung Schwerstkranker und zeitkritischer Notfälle lediglich im RoMed Klinikum Rosenheim anbieten. Ein Krankenhaus für Hochleistungsmedizin ist aber kein idealer Ort zum Beispiel für die Versorgung chronisch kranker, alter und gebrechlicher Patientinnen und Patienten, für eine mehrtägige multimodale Schmerztherapie oder auch für einfache elektive Eingriffe. Für diese benötigen sie andere Spezialisierungen, eine andere Infrastruktur und entsprechend ausgebildete Teams.

Der Traum vom großen Maximalversorger auf der grünen Wiese, der in 1.500 Betten 400.000 Menschen mit unterschiedlichsten medizinischen, pflegerischen und sozialen Ansprüchen versorgt und dabei wirtschaftlich und medizinisch exzellente Ergebnisse produziert, ist eine Illusion.

Trotzdem wird es sicherlich auch in einigen Teilen Bayerns zum Schließen kleiner Kliniken und zu einer weiteren Konsolidierung der Kliniklandschaft kommen. Inwieweit dies automatisch zu einer besseren Versorgung führt, bleibt abzuwarten.

TK: Wie viele Kliniken brauchen wir in Bayern? 

Dr. Deerberg-Wittram: Die Frage, wie viele Kliniken in Bayern gebraucht werden, ist meines Erachtens so richtig oder so falsch wie die Frage nach der richtigen Anzahl von Schulen oder von Schwimmbädern. Man kann sich schnell darauf einigen, dass es nicht zu wenige sein dürfen, und es ist auch keine Frage, dass nicht jede Kleinstadt zwei Gymnasien und drei Schwimmbäder braucht.

Es gibt aber ohne Zweifel eine recht große Grauzone, die davon abhängt, was wir uns leisten können und wollen. Der limitierende Faktor für den Erhalt eines Krankenhauses ist heute die Verfügbarkeit von gut ausgebildeten Fachkräften und die Finanzierbarkeit einer geeigneten Infrastruktur. Findet man gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und kann man sich eine moderne Klinik mit einem sinnvollen medizinischen Angebot leisten, so wird diese ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zur Versorgung leisten.

Erhält man dagegen zwanghaft schlecht ausgestattete Krankenhäuser mit zu wenig oder fachlich überforderten Personal und einem nicht bedarfsgerechten medizinischen Angebot, so verschwendet man Geld und schadet Patientinnen und Patienten.

Was ich kritisiere ist, dass der Gesetzgeber bisher nie den Mut hatte offensichtlich schlechte Krankenhäuser aktiv vom Netz zu nehmen und für alternative Versorgung in der Fläche zu sorgen. Stattdessen wird seit Jahren ein Kliniksterben auf Raten befördert, dass für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie für Patientinnen und Patienten schwer erträglich ist.

TK: Zu einer guten Planung gehört das entsprechende Fachpersonal, welche Hürden gilt es hier insbesondere in Bayern zu überwinden?

Dr. Deerberg-Wittram: Krankenhäuser sind sehr komplizierte Unternehmen. Gemessen an der Vielzahl der unterschiedlichen Behandlungen und Geschäftsprozesse, gibt es einen strukturellen Mangel an qualifiziertem Management und Verwaltungspersonal.

TK: Welche Chancen bringt die Digitalisierung für Kliniken?

Dr. Deerberg-Wittram: Die Digitalisierung kann uns helfen, administrative und medizinische Prozesse stabiler und schneller zu machen. Darüber hinaus ist die medizinische Behandlung von der Erhebung, Auswertung, Weitergabe und Speicherung von Informationen abhängig. Hier hilft uns die Digitalisierung, weniger Fehler zu machen und zu besseren Ergebnissen zu kommen.

Gerade bei der Informationsweitergabe an andere Leistungserbringer wie niedergelassene Kolleginnen und Kollegen, Rehakliniken oder auch unsere Partnerinnen und Partner in den Krankenkassen helfen uns digitale Prozesse schon heute. Ich hoffe, dass wir irgendwann auf diese Art und Weise auch unsere Patientinnen und Patienten besser und effektiver über ihren gesamten Behandlungsverlauf hinweg betreuen können.

TK: Warum gibt es immer noch Defizite bei der sektorenübergreifenden Versorgung? Wo gibt es in Bayern Verbesserungsbedarf bei der Notfallversorgung? 

Dr. Deerberg-Wittram: Die Zusammenarbeit mit unseren niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in der Region Rosenheim empfinde ich grundsätzlich als sehr vertrauensvoll und qualitativ gut. Wir profitieren hier sicherlich davon, dass wir besonders viele sehr gut ausgebildete und seit Jahren eng kooperierende Haus- und Fachärztinnen und -ärzte vor Ort haben.

Ich nehme allerdings wahr, dass es sowohl für die Niedergelassenen als auch für die Krankenhäuser zunehmend schwieriger wird, die immer älter und immer komplexer erkrankte Bevölkerung versorgen zu können. Das liegt sicherlich auch daran, dass wir als Kliniken Schwierigkeiten haben, Patientinnen und Patienten mit einem vernünftigen Behandlungsplan schnell und geordnet in den ambulanten Sektor zu übergeben.

Gleichzeitig ist es für die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen eine riesige Herausforderung, die Patientinnen und Patienten zu identifizieren, die wirklich eine Krankenhausbehandlung benötigen.

Verbessern ließe sich dies, wenn der Informationsfluss von der Patientin oder vom Patienten zur Ärztin oder zum Arzt und von der Ärztin oder vom Arzt zum Krankenhaus und zurück standardisiert und digital abgebildet wäre.

Ich finde aber zum Beispiel positiv, dass gerade im Bereich der Notaufnahmen einige gesetzgeberische Initiativen zu einer besseren und intensiveren Zusammenarbeit zum Beispiel in integrierten Notfallzentren führen können.

Wir als RoMed Kliniken beteiligen uns hier sehr aktiv an verschiedenen Pilotprojekten, denn wir glauben, dass die Notfallversorgung im engen Schulterschluss mit den Niedergelassenen die beste Versorgung der Menschen unserer Region sicherstellen wird.

TK: Inwiefern hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit und Pläne als Geschäftsführer der RoMed Kliniken und Ihren Blick auf das Gesundheitssystem verändert?

Dr. Deerberg-Wittram: Die Region Rosenheim und die RoMed Kliniken als Versorgerkrankenhäuser dieser Region waren in der Pandemie maximal betroffen. Zeitweise waren 20 Prozent unserer Planbetten und weit mehr als die Hälfte unserer Intensivkapazitäten mit Covidpatientinnen und -patienten belegt. Wir sind in der Krise enger zusammengerückt, nicht nur innerhalb RoMed sondern auch mit Nachbarkliniken anderer Träger und den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. So konnten wir es gerade schaffen.

Dieses enge Zusammenspiel über die Sektorgrenzen hinweg gerade bei Notfallpatientinnen und -patienten sollte unbedingt bleiben. Wir haben aber auch erlebt, dass unserer reichlichen Ressourcen in Krisen schnell knapp werden können. Deshalb müssen wir weiter an klugen regionalen Versorgungsstrukturen arbeiten, bei denen wir vor allem das wertvolle Fachpersonal wie z. B. auf Intensivstationen an großen Standorten poolen, um gegen Ausfälle besser geschützt zu sein.

Zur Person

Dr. med. Jens Deerberg-Wittram ist seit 1.1.2019 Geschäftsführer der RoMed Kliniken, der Kliniken der Stadt und des Landkreises Rosenheim. Mit seiner Familie lebt er bereits seit 17 Jahren in der Region. Nach seinem Medizinstudium und beruflichen Stationen am Universitätsklinikum Kiel, in der Industrie und in einem Beratungsunternehmen arbeitete Dr. Deerberg-Wittram als Kaufmännischer Leiter und später als Geschäftsführer eines großen privaten Klinikunternehmens.

Sein besonderes Interesse an der medizinischen Qualitätsmessung und dem Management von Gesundheitsunternehmen hat er seit 2012 als Senior Fellow und Fakultätsmitglied der Harvard Business School vertieft. In den USA hat er zusammen mit der Harvard Universität, dem Karolinska-Institut und der Boston Consulting Group ein Institut zur medizinischen Ergebnismessung aufgebaut, dessen Messstandards heute von der OECD empfohlen werden. In den letzten Jahren hat Dr. Deerberg-Wittram als Berater mit Klinikunternehmen im In- und Ausland zusammengearbeitet.