"Ortenau 2030 - Zukunft Gesundheit"
Interview aus Baden-Württemberg
Im Ortenaukreis wird die Kliniklandschaft neu strukturiert. Im Interview stellt Frank Scherer, Landrat des Ortenaukreises, das Konzept vor, mit dem die stationäre Versorgung zukunftsfähig gemacht wird.

TK: Das Projekt "Ortenau 2030 - Zukunft Gesundheit" gilt als vorbildlich für die Neustrukturierung der Kliniklandschaft in einem Landkreis. Was sind die zentralen Punkte des Konzepts?
Landrat Frank Scherer: Eine Neuordnung der Klinikstrukturen im Ortenaukreis ist notwendig, um auch über das Jahr 2030 hinaus für die gesamte Bevölkerung des Ortenaukreises eine erstklassige Krankenhausversorgung gewährleisten zu können. Nach einem rund 18-monatigen demokratischen Entscheidungsprozess unter Beteiligung von externen Beratern ist der Ortenaukreis als Träger zu der Überzeugung gelangt, dass dieses Ziel mit einer Bündelung des stationären Leistungsangebots in vier Krankenhäusern, statt früher neun Klinikstandorten, am besten erreicht wird.
Frank Scherer
Nur in größeren Häusern können sich Spezialisten im Team um die Patienten kümmern. So können unsere Kliniken auch künftig bundes- und landespolitische Vorgaben wie Mindestmengen und weitere Qualitätsanforderungen erfüllen und mit optimalen Arbeitsbedingungen für Fachkräfte attraktiv bleiben.
In Offenburg und Achern bauen wir jeweils eine neue Klinik. Auch in Lahr schaffen wir mit einer umfassenden Sanierung und Modernisierung leistungsfähige, moderne Krankenhausstrukturen. Ein weiterer wichtiger Punkt unseres Konzeptes ist die Umwandlung der ehemals stationären Krankenhäuser in Zentren für Gesundheit. Allein für diesen Umwandlungsprozess stellt der Ortenaukreis 100 Millionen Euro bereit.
TK: Der gesamte Prozess ist von 2018 bis 2030 auf 12 Jahre angelegt. Wie liegen Sie derzeit im Zeitplan?
Scherer: Seit der Entscheidung für die Neustrukturierung unserer Klinikstrukturen sind mehr als drei Jahre vergangen und wir können feststellen: Trotz der großen Herausforderungen und trotz Corona liegen wir mit der Umsetzung inhaltlich und zeitlich voll im Plan. Die Architektenwettbewerbe für die Klinik-Neubauten sind abgeschlossen, alle Planungen werden unter Einbeziehung der Nutzer kontinuierlich konkretisiert und eng mit dem Sozialministerium abgestimmt. Ende dieses Jahres werden wir voraussichtlich für den Neubau in Achern einen Bauantrag stellen können.
Es ist mir ein besonderes Anliegen, an den Standorten, an denen es künftig keine stationäre Versorgung mehr geben wird, patientenorientierte Gesundheitszentren zu etablieren, die eine optimale Verzahnung zwischen ambulanter, stationärer Versorgung und der Notfallversorgung gewährleisten. Auch hier sind wir an zwei Standorten bereits in der Umsetzung, für einen weiteren Standort hat der Kreistag bereits ein Konzept für ein Gesundheitszentrum beschlossen.
TK: Was ist in diesen Gesundheitszentren konkret geplant?
Scherer: Die Häuser, in denen perspektivisch keine akutstationäre Versorgung mehr stattfindet, werden als patientenorientierte Zentren für Gesundheit (ZfG) mit Portalfunktion sowie Notarzt-/Notfallstandorte weitergeführt. Dafür sind innovative Ideen gefragt, um die Gesundheitsversorgung vor Ort konkret mit individuellen Schwerpunkten an den regionalen Bedarf anzupassen. Mit dem vom Land geförderten Projekt der Kommunalen Gesundheitskonferenz haben wir die Bürgerinnen und Bürger sowie alle regionalen Akteure im Gesundheitswesen eingebunden. Es besteht die klare Zielsetzung, die bisherigen Klinikstandorte langfristig zukunftssicher zu gestalten und den Fortbetrieb mit verändertem Leistungsportfolio dauerhaft zu sichern.
In Oberkirch hat zum 1. Oktober 2021 ein erstes Zentrum für Gesundheit in Teilen seinen Betrieb aufgenommen. Dort haben wir ein Medizinisches Versorgungszentrum mit zwei Facharztpraxen angesiedelt. Eine orthopädische Facharztpraxis verfügt seit dem Neustart über eine D-Arzt-Zulassung zur Behandlung von Arbeitsunfällen. Außerdem steht eine Notfallsprechstunde für Patienten zur Verfügung, die ein niederschwelliges Angebot außerhalb der Praxiszeiten von Hausärzten darstellt und deren prognostiziertes Defizit vollständig aus Kreismitteln finanziert wird. Auch der bisher an das Krankenhaus angedockte Hebammenstützpunkt ist Teil des Zentrums für Gesundheit. Die beiden Operationssäle der ehemaligen Klinik werden zeitweise von einer örtlichen Facharztpraxis genutzt.
Nach einer Umbauphase wird in die ehemalige Klinik zudem eine stationäre Pflegeeinrichtung mit 44 Betten einziehen. Ein Teil dieser Betten soll als sogenannte Genesungsbetten genutzt werden. Sie sind für Patienten bestimmt, die beispielsweise nach einer Operation noch Pflege bedürfen, ohne jedoch auf die stationären Strukturen einer Klinik angewiesen zu sein. Das neue Konzept der Genesungsbetten hat bundesweit Pilotcharakter und steht für die enge Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung.
An den anderen Standorten sind vergleichbare Strukturen mit jeweils individuell angepassten Angeboten geplant.
TK: Welche Rolle spielt die Digitalisierung des Gesundheitswesens in dem Prozess? Ist beispielsweise die telemedizinische Vernetzung zu Arztpraxen, Pflegeheimen oder anderen Gesundheitseinrichtungen im Kreis oder darüber hinaus geplant?
Scherer: Die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens wird die von uns in Angriff genommene Bündelung der Klinikstrukturen wie auch die sektorenübergreifende Vernetzung maßgeblich unterstützen. Dadurch werden wir die Qualität bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten weiter steigen können.
Gute digitalisierte Prozesse unterstützen unser ärztliches und pflegerisches Personal und lassen mehr Raum für das persönliche Gespräch mit den Patientinnen und Patienten. Bereits jetzt arbeiten wir an Digitalisierungsvorhaben wie beispielsweise der elektronischen Patientenakte oder den Ausbau der Telematikinfrastruktur, etwa zur Ausstellung elektronischer Rezepte oder elektronischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Mit den beiden letztgenannten Beispielen wird auch die enge Vernetzung von Arztpraxen, Pflegeheimen und anderen Gesundheitseinrichtungen möglich werden.
TK: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hindernisse in dem Prozess? Wo gab es - vielleicht überraschend - Rückenwind?
Scherer: Unsere Klinikreform "Ortenau 2030 - Zukunft Gesundheit" ist das größte Projekt seit dem Bestehen des Ortenaukreises. Dabei sind vielfältige Herausforderungen organisatorischer, planerischer und nicht zuletzt finanzieller Art zu meistern. Mich hat besonders beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit und Sachkenntnis in unserem politischen Aufsichtsgremium, dem Kreistag, von einer ganz überwiegenden Mehrheit diskutiert und Lösungen gefunden worden sind.
Sehr gut für die Diskussion war zudem, dass sich die leitenden Ärzte unserer Kliniken klar hinter das Projekt gestellt haben und die Umsetzung des Konzepts auch weiterhin konstruktiv begleiten. Darüber hinaus bin ich dem Ministerium für Soziales und Gesundheit und speziell Herrn Minister Lucha für die großartige Unterstützung des Landes dankbar. Der Minister hat die Agenda 2030 mehrfach als Leuchtturmprojekt bezeichnet und sich selbst in der schwierigen Corona-Zeit stets hinter unser Vorhaben gestellt.
TK: Trotz aller Anstrengungen, die Bürgerinnen und Bürger mit Info-Veranstaltungen und Broschüren zu überzeugen und mitzunehmen, gab es persönliche Angriffe bis hin zu Morddrohungen. Wie gehen Sie damit um?
Scherer: Unser Kreistag hat das Reformprojekt 2018 mit einer nahezu Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger steht hinter der Reform. Dass an Standorten, an denen Gesundheitszentren an die Stelle der stationären Versorgung tritt, Befürchtungen insbesondere über die Aufrechterhaltung der Notfallversorgung bestehen, kann ich nachvollziehen.
Mit Informationsveranstaltungen und der Kommunalen Gesundheitskonferenz haben wir die Bürgerinnen und Bürger sowie alle Beteiligten im Gesundheitswesen an der Erarbeitung von Konzepten beteiligt. Mit einem großen Teil der Bürgerinnen und Bürgern, die der Agenda 2030 kritisch gegenüberstehen, gehen wir offen in den Dialog und versuchen stets die Beweggründe aus zahlreichen Expertenmeinungen, Beratungsergebnissen und daraus resultierenden Schlussfolgerungen zu kommunizieren.
Eine kleine Minderheit versucht mit lautstarkem Protest gegen die Agenda 2030 zu mobilisieren. Dabei werden bewusst persönliche Anfeindungen und Diffamierungen einzelner Entscheidungsträger eingesetzt, die nichts mit einem fairen Wettstreit von Argumenten und Meinungen zu tun haben, sondern fatal an dunkle Zeiten in der deutschen Geschichte erinnern. Ich bedaure dies sehr, dennoch lassen wir uns von dieser kleinen Minderheit nicht von dem eingeschlagenen Weg abbringen. Mich ermutigen dagegen Gespräche mit vielen Gesprächspartnern auch außerhalb unseres Landkreises, die unser Konzept als Vorbild ansehen.
Zur Person:
Frank Scherer ist 58 Jahre alt, verheiratet und hat vier Kinder. Seit November 2008 ist er Landrat des Ortenaukreises. Nach seinem Jurastudium in Marburg, Dijon/Frankreich und Freiburg war er als Verwaltungsrichter in Freiburg und als Justitiar im Staatsministerium von Baden-Württemberg tätig. Er war stellvertretender Vizepräsident der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg und Regierungsvizepräsident in Freiburg.