Die gesetzlichen Krankenkassen in Bayern und die gesetzliche Unfallversicherung fördern das Projekt mit rund 77.300 Euro bei einer Laufzeit von einem Jahr. Die Geschäftsführerin des CSW, Evi Faltner, koordiniert das Projekt für die Gemeinde. Im Interview spricht sie über das Projekt, die Herausforderungen von pflegenden Angehörigen und auf was es in den nächsten Jahren beim Thema Pflege ankommt. 

TK: Welches Ziel verfolgt das Projekt "Stärke bewegen - Bewegung stärken"?

Eva Faltner: Bei "Stärke bewegen - Bewegung stärken" handelt sich um ein Präventionsprojekt, das ganz gezielt pflegende Angehörige dazu befähigen soll, in ihrem sehr herausfordernden Alltag zurecht zu kommen. Zunächst einmal möchten wir herausfinden, welche Besonderheiten es für pflegende Angehörige auf dem Land bzw. in einer sehr ländlichen Struktur gibt. Im nächsten Schritt geht es um die Frage, wie wir die Strukturen vor Ort verändern und Angebote schaffen können, die den Alltag der pflegenden Angehörigen erleichtern. Und natürlich wollen wir im Rahmen des Projektes den pflegenden Angehörigen auch ihre spezielle Situation vor Augen führen, denn ihnen ist teilweise gar nicht bewusst, was sie alles leisten.

Eva Faltner

Eva Faltner, Geschäftsleitung Christliches Sozialwerk  Degerndorf-Brannenburg-Flintsbach e. V. Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Geschäftsleiterin Christliches Sozialwerk  Degerndorf-Brannenburg-Flintsbach e. V.
 

TK: Wie erfolgt die Umsetzung konkret?

Faltner: In der ersten Phase des Projektes, die momentan läuft, geht es um eine reine Bedarfserhebung. Seit Mai entwickeln wir einen Fragebogen und ermitteln die Zielgruppe. Die Einzel- und Gruppeninterviews führt die TH Rosenheim durch. Dann erfolgt die Auswertung. Und im Rahmen eines Folgeprojektes sollen zum Schluss die konkreten Angebote entwickelt und umgesetzt werden.

Die pflegenden Angehörigen kommen nicht aus dem Hamsterrad raus.
Eva Faltner

TK: Wie erreichen Sie die pflegenden Angehörigen?

Faltner: In der Steuerungsgruppe sitzt eine sehr engagierte Hausarztpraxis, darüber hinaus verfügen wir über ein sehr breites Netzwerk durch unser Haus. Wir sind ein Pflegedienst mit Vereinsstruktur, also im besten Sinne sind wir eine Art Quartierspflege. Unsere Vorstände sind die Bürgermeister der Gemeinden Flintsbach und Brannenburg. Wir haben 1.000 Mitglieder und sitzen im Mehrgenerationenhaus Flintsbach mit einer Kinderkrippe, einem ambulanten Pflegedienst und einer Tagespflege. Wir liefern Essen auf Rädern und haben ein Café mit einem offenen Seniorentreff. Wir betreiben außerdem ein Bürgermobil, mit dem wir Menschen ab 67 Jahren zum Arzt oder zur Apotheke fahren. Seit Neuestem bieten wir auch betreutes Wohnen mit barrierefreien Wohnungen an. Wir sind sehr stark mit den Seniorenbeauftragten vernetzt und haben ein Projekt, um Seniorinnen und Senioren besser in die Gemeinden zu integrieren. Allein durch all diese Angebote kommen wir mit sehr vielen Menschen und damit auch pflegenden Angehörigen in Kontakt.

TK: Was wird Ihrer Meinung nach das Ergebnis der Befragung sein?

Faltner: Dem möchte ich nicht vorweggreifen, aber ich kann Ihnen ein wenig aus unserer Praxis erzählen. In Deutschland werden 76 Prozent der Pflegebedürftigen von den Angehörigen gepflegt. Das hat mit unserer Struktur und auch mit dem System der Pflegeversicherung zu tun.

Diese pflegenden Angehörigen leben unter ganz besonderen Herausforderungen, sie sind meistens Familienangehörige, damit sind sie sehr stark verwoben und emotional gebunden. Viele dieser pflegenden Angehörigen sind Frauen und der überwiegende Anteil davon ist überdurchschnittlich von Armut bedroht, weil die Frauen ihren Job nicht mehr machen können. Sie sind emotional hochgradig belastet und haben mit Themen zu tun, die den ganzen Alltag begleiten.

TK: Können sie ein Beispiel beschreiben?

Faltner: Ein Mann ist demenzkrank und seine Frau versorgt ihn. Diese ist um oder über 60 Jahre alt und ist selbst nicht mehr ganz gesund. Diese pflegende Angehörige stellt sich sehr zurück. Sie macht nichts mehr für ihre eigene Gesundheit, nicht nur präventiv, wie regelmäßig Sport treiben, sondern sie schiebt ihre eigene notwendige Operation auf. Sie möchte ihren pflegebedürftigen Ehemann nicht allein lassen und sie will ihn nicht ins Heim geben. Wenn ihr dann doch einmal etwas passiert, tritt sie ihre Reha-Maßnahme nicht an und so weiter und so fort. Und das ist ganz fatal.

Denn wenn die oder der pflegende Angehörige sich nicht mehr um sich selbst und ihre oder seine eigene Gesundheit kümmert, ist es nicht nur so, dass sie oder er den Pflegebedürftigen nicht mehr versorgen kann, sondern sie oder er erkrankt im schlimmsten Fall selbst schwer oder wird selbst pflegebedürftig.

Und diese Entwicklung beobachten wir mit vielen Sorgenfalten. Die pflegenden Angehörigen kommen nicht aus dem Hamsterrad raus. Gerade bei uns auf dem Land sagt man: Dass wir uns pflegen, das haben wir uns doch einmal versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten. Das ist auch schön, aber man muss den pflegenden Angehörigen auch bewusst machen, dass sie sich Hilfe holen dürfen. Aber der Weg dorthin ist leider ein sehr weiter. Denn die oder der betroffene Angehörige will sich nicht helfen und niemanden in seinen Privathaushalt lassen. Es gibt eine hohe Schwelle, die wir bewältigen müssen.

TK: Das heißt, Angehörige unterschätzen die Aufgabe, jemanden zu pflegen?

Faltner: Ja, aber das ist auch verständlich. Denn sie rutschen dort so langsam hinein, es ist in den meisten Fällen ein langsamer Prozess, selten ist Pflegebedürftigkeit ein Akutereignis. Je mehr sie da hinwachsen umso schwieriger ist es, zu sagen: Jetzt ist Schluss, jetzt brauche ich Hilfe, jetzt kann ich wirklich nicht mehr. Der Prozess  geht über Monate und Jahre. Selbst der Weg einen Pflegegrad zu beantragen, ist eine hohe Hürde. Wir machen daher schon heute viel Öffentlichkeitsarbeit, einen Tag der offenen Tür und führen viele Gespräche, damit die Betroffenen von unseren Angeboten erfahren.

Die Pflege von alten und kranken Menschen können wir gut schaffen, wenn wir die pflegenden Angehörigen einbinden.
Eva Faltner

TK: Wie könnten die Angebote am Ende des Projektes aussehen?

Faltner: Dazu möchte ich jetzt noch nichts sagen, aber was ich mir verspreche, ist, dass wir aus der ersten Datenerhebung erfahren, wie wir für pflegende Angehörige den Alltag in unserer Arbeit und in unserer Kommune verbessern können. Das können auch Dinge sein, die kommunal sind, wie die Infrastruktur, die völlig unabhängig sind von den Leistungen der Pflegekassen oder unseren Angeboten. Ich würde mir außerdem wünschen, dass wir durch das Projekt insgesamt pflegende Angehörige stärker in den Fokus nehmen und zwar mit einer wissenschaftlichen Datenlage, damit wir das Thema auf eine Sachebene mit konkreten Empfehlungen überführen.

TK: Es geht also auch um die Entstigmatisierung des Themas Pflegebedürftigkeit. Würden in diesem Fall auch Selbsthilfegruppen helfen?

Faltner: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Unser Projekt soll ja präventiv wirken. Das bedeutet, dass man sich nicht erst mit dem Thema Pflege beschäftigen soll, wenn man selbst betroffen ist. Dann ist es zu spät, weil man schon in dem Strudel steckt. Prävention ist so wichtig, weil das Thema hochkomplex ist. Gerade was die Abgrenzung betrifft.

Häufig haben wir Familiensituationen, in denen es Dritte gibt, die sich in die Pflegesituation einbringen wollen. Eine Tochter sieht, ihrer Mama geht’s nicht gut. Sie will helfen, die Mutter gibt die Belastung aber nicht zu. Dazu beurteilt die Tochter die Situation anders als die Mutter, die den Vater versorgt. Oft haben wir eine Situation, in der jemand nicht zugeben kann, dass er oder sie überfordert ist und es im Umfeld noch Angehörige gibt, die von ihrem schlechten Gewissen gequält werden.

Oft schämen sich die Betroffenen auch über die Pflegesituation zu sprechen. Niemand will zugeben, dass er zu einer Selbsthilfegruppe geht. Wir bieten daher einen Gesprächskreis für pflegende Angehörige an, den nennen wir einfach Stammtisch. Wir überlegen auch eine Sportgruppe für pflegende Angehörige ins Leben zu rufen, mit der Idee: Man kommt unter dem Vorwand des Sports zu uns und kann sich in dieser Runde auch über andere Themen austauschen und hilfreiche Kontakte knüpfen. Dann ist die Hürde niedriger. 
 
TK: Gibt es auch positive Beispiele?

Faltner: Ich kann gerne einen sehr positiven Fall schildern. Eine Familie hat die Diagnose Alzheimer bekommen, und die Ehefrau hat aktiv Schulungen zum Umgang mit der Krankheit gemacht. Sie kam von Anfang an zu uns in die Tagespflege, ist in eine barrierefreie Wohnung umgezogen, hat häusliche Pflege dazu gebucht, ist stark eingebunden in die Angehörigensprechstunden, sie tauscht sich aus, nutzt für ihren Mann auch die Kurzzeitpflege und weiß, dass sie die stationäre Pflege in Anspruch nehmen wird, wenn es daheim nicht mehr geht.

Von diesen Beispielen werden wir in Zukunft mehr sehen. Es gibt nämlich einen Generationenwechsel, demnächst wird die 68er Generation betroffen sein, die haben sich immer schon aktiv mit den Lebensthemen beschäftigt. Trotzdem werden auch diese Menschen sehr belastet sein, trotzdem werden auch sie ihre eigenen OP-Termine aufschieben etc. Aber sie kommen mit der Situation und durch die Einbindung in ein funktionierendes System dann hoffentlich besser zurecht.

TK: Wären pflegende Angehörige entlastet, wenn es mehr Pflegekräfte gäbe?

Faltner: Ich wehre mich gegen die Aussage, in der Pflege ist alles schlecht. Natürlich haben wir ein Problem in der Versorgung, aber wenn wir ständig alles schlecht reden, werden wir niemanden für diesen Beruf gewinnen. Es gibt auch positive Beispiele und die müssen wir herausstellen. Wir müssen betonen, wie schön es ist, in der Begleitung mit der Familie ein Leben daheim zu ermöglichen. Der klare Wunsch der Menschen ist es, zu Hause alt zu werden. Wie das aussehen kann, ist eine individuelle Aufgabe.

Jeder muss sich fragen, wie er selbst im Alter leben will, dazu gehört, dass man eine Patientenverfügung hat und mit seiner Familie darüber redet, wie man sein Leben im Alter gestalten möchte. Man muss dabei auch bedenken, dass unsere Seniorinnen und Senioren immer fitter sind und Pflegebedürftigkeit viele Schattierungen hat. Viele Personen können gut zu Hause leben und gemeinsam mit einem ambulanten Pflegedienst ihren Alltag super bewältigen.

Es gibt nicht die eine Pflegebedürftigkeit. Dazu ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, zu entscheiden, wie diese Pflege aussehen kann. Wir müssen uns fragen, was wünschen wir uns als Gemeinschaft und was wollen wir gemeinsam finanzieren? Wie soll das Leben im Alter aussehen? Diese Fragen müssen wir klären, denn so kann es nicht weitergehen.

TK: Wie würde sich die Pflege verändern, wenn alles so umgesetzt wird?

Faltner: Im Idealfall wird es jemanden geben, der die Situation vor Ort einschätzt, bewertet und der sagt, wer was übernehmen kann. Der- oder diejenige evaluiert nach einer bestimmten Zeit die Situation noch einmal und legt so die Versorgung fest - natürlich im Rahmen dessen, was die Gesellschaft zur Verfügung stellen kann und will.

Unsere Aufgabe im Christlichen Sozialwerk ist es, auf das Thema aufmerksam zu machen und präventiv tätig zu werden. Wir hoffen, dass wir Kolleginnen und Kollegen dazu gewinnen und diese auch sehen, welch ein toller Job das ist. Wir haben viele Quereinsteiger und müssen teilweise hochkomplexe Versorgung meistern. So stoßen wir manchmal auch an unsere Grenzen. Aber die Pflege von alten und kranken Menschen können wir gut schaffen, wenn alles ineinandergreift und wir die pflegenden Angehörigen einbinden.

Ich freue mich, dass auf Kostenträgerseite Interesse besteht, dieses Projekt zu unterstützen. Natürlich ist dies nur ein kleines Projekt und wir blicken auf einen großen demografischen Wandel. Aber alles, was wir jetzt angehen - auch präventiv -,  wird einen positiven Effekt haben und uns helfen, die Situation besser zu bewältigen.