Wir haben mit ihm darüber gesprochen, warum die Akademisierung der Pflege wichtig ist, wenn die Bedingungen für Pflegekräfte attraktiver werden sollen. 

TK: Prof. Dorschner, warum setzen Sie sich seit Jahren dafür ein, dass Pflegewissenschaft als Hochschulfach anerkannter und üblicher wird?

Prof. Dr. Stephan Dorschner: In allen Tätigkeitsfeldern der Pflege brauchen wir Pflegefachpersonen, die wissenschaftliches Arbeiten in der Ausbildung gelernt haben. Der heutige Pflegealltag ist ohne wissenschaftliche Erkenntnisse und aktuelle Forschungsergebnisse nicht mehr zu bewältigen. Diese kann ich aber nur sinnstiftend in der Pflegepraxis nutzen, wenn ich Studien lesen und verstehen kann. Das bedeutet keine Abwertung einer pflegerischen Berufsausbildung, aber es zeigt eine Stärke des Pflegestudiums: Handeln nach evidenzbasierten Prinzipien und Einführung neuester Erkenntnisse in die Pflegepraxis ist für eine akademisch ausgebildete Pflegefachperson eine Selbstverständlichkeit. 

Wir reden zum Beispiel seit Jahrzehnten darüber, dass sich der Pflegeprozess in der Praxis nicht umsetzen lässt. Das geht auch nicht, wenn Menschen systematische Problemlösungsansätze nach dem Erheben-Planen-Durchführen-Bewerten-Prinzip fremd sind. In der Versorgung müssen Pflegefachpersonen aber in kurzer oder sogar kürzester Zeit Pflegeprobleme erkennen und auch priorisieren können.

Früher gab es vielerorts Eignungstests, bevor jemand eine Pflegeausbildung beginnen konnte. Heute ist man froh, wenn sich so viele Menschen bewerben, wie es Ausbildungsplätze gibt.
Prof. Dr. Stephan Dorschner

Oder ein weiteres Thema: Wenn Pflegedokumentation nicht nur sinnlose Bürokratie sein soll, sondern ein lesbares, verwendbares Arbeitsinstrument, dann brauche ich Pflegende, die sich kurz und präzise ausdrücken können und so dem Team klare Hinweise zur Situation und den aktuellen Versorgungsbedarfen von pflegebedürftigen Menschen geben können. 

Außerdem gibt es immer auch hochkomplexe Pflegesituationen, zum Beispiel bei Menschen, die einen sehr hohen Pflegebedarf haben, weil sie an verschiedenen, oft chronischen, Erkrankungen gleichzeitig leiden. Um dann sinnvoll steuern und gut versorgen zu können, brauchen wir auch hochqualifizierte Pflegefachpersonen.

Ich erlebe in den letzten Jahren zunehmend eine Schere, dass Politik und Management einerseits die Zugangsvoraussetzungen für den Pflegeberuf immer weiter nach unten schrauben möchten, andererseits aber die Pflegequalität kontinuierlich zunehmen soll. Das geht nicht zusammen!

Früher gab es vielerorts Eignungstests, bevor jemand eine Pflegeausbildung beginnen konnte. Heute ist man froh, wenn sich so viele Menschen bewerben, wie es Ausbildungsplätze gibt.

TK: Ist das nicht nachvollziehbar, weil immer mehr Pflegefachkräfte gebraucht werden?

Dorschner: Natürlich. Es ist eine schwierige Situation. Das, was wir alles schon seit 15 Jahren oder länger aus Prognosen wissen, nämlich, dass der demografische Wandel die Pflege besonders stark treffen wird, tritt jetzt ein. Immer mehr ältere Menschen müssen von immer weniger jüngeren gepflegt werden. 

Das heißt aber nicht, dass wir mit den Qualitätsanforderungen nach unten gehen sollten. Die gesellschaftlich offenbar weit verbreitete Meinung "Pflege kann jeder" oder auch die fehlende Wertschätzung für Pflegende demotivieren nicht nur die Menschen, die im Beruf arbeiten, sie hält auch potenzielle Bewerber, die höhere Anforderungen erfüllen würden, davon ab, solch einen Weg einzuschlagen. Klatschen auf dem Balkon allein reicht nicht... 

Ich meine zunächst die Einsicht und ein breites Verständnis dafür, wie umfassend und verantwortungsvoll der Pflegeberuf ist! 

Wenn unserer Gesellschaft gute Pflege wirklich etwas wert ist, sollten wir über eine akademische Pflegeausbildung gar nicht mehr diskutieren müssen.
Prof. Dr. Stephan Dorschner

Ich sage nicht, dass wir nur noch Akademikerinnen und Akademiker als Pflegefachpersonen brauchen. Aber ich bin überzeugt, dass wir in einem multiprofessionellen Team auch akademisch aus- oder weitergebildete Pflegefachkräfte haben sollten, so wie in vielen anderen Ländern auch.

Wenn unserer Gesellschaft gute Pflege wirklich etwas wert ist, sollten wir über eine akademische Pflegeausbildung gar nicht mehr diskutieren müssen.

Ein erster Schritt ist mit dem seit 2020 geltenden neuen Pflegeberufegesetz getan, denn berufliche und hochschulische Pflegeausbildung stehen nun gleichberechtigt nebeneinander. Bisher war akademische Pflegeausbildung nur im Rahmen der sogenannten Modell-Klausel möglich.

TK: Sind in Deutschland akademisch aus- oder weitergebildete Pflegekräfte Exoten? 

Dorschner: An vielen Stellen schon... Als Mitte der neunziger Jahre in Deutschland Pflegestudiengänge an Hochschulen gestartet sind, war die einhellige Meinung, dass diejenigen, die studieren, die eigentliche, die praktische Pflege verlassen.

Im Mittelpunkt der meisten Studiengänge standen Pflegemanagement, also Leitungs- bzw. Führungsaufgaben, und Pflegepädagogik, sprich die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen, die weiterhin direkt kranke und pflegebedürftige Menschen versorgen, hatte man kaum im Blick.

Ich habe den Eindruck, dass viele Träger von Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, Ärztinnen und Ärzte oder Pflegedienstleitungen immer noch wenige Ideen haben, wie sie akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen sinnvoll einsetzen können. Auch in den Tarifverträgen werden die verschiedenen akademischen Abschlüsse in der Pflege kaum abgebildet.

Ein besserer Stand und das Einbeziehen von akademisch gebildeten Pflegefachpersonen in den pflegerischen Alltag wären aber wichtig, wenn man das, was im neuen Pflegeberufegesetz steht, ernst nimmt. Dort ist in § 4 "Vorbehaltene Tätigkeiten" geregelt, dass zukünftig nur noch im Sinne dieses Gesetzes examinierte Pflegefachpersonen und ihnen gleichgestellte Berufsangehörige "die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs […], die Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses […] sowie die Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege" durchführen dürfen. In letzter Konsequenz bedeutet dies für mich, dass auch nur noch diese Personengruppe Pflege und Pflegehilfsmittel verordnen kann. Und genau hier sind akademisch qualifizierte Pflegefachfachpersonen meines Erachtens besonders gefragt!

Denn wie soll Wissen in die Pflege kommen, wenn Pflegende aktuelle Forschungsergebnisse nicht kennen? 
Prof. Dr. Stephan Dorschner

TK: Heißt das, mehr Akademisierung mach den Pflegeberuf attraktiver?

Dorschner: Persönlich glaube ich, dass zwei Aspekte den Pflegeberuf attraktiver machen werden: zum einen das Festschreiben einer generalistischen Pflegeausbildung und zum anderen die Möglichkeit einer hochschulischen Pflegeausbildung.

Generalistik bedeutet das Überwinden einer lebensabschnittlich gegliederten Pflege. Das heißt Pflegefachpersonen sind zukünftig in allen Arbeitsfeldern der Pflege, zum Beispiel Kinderkrankenpflege, Krankenpflege und Altenpflege, einsetzbar. Generalistik macht den Pflegeberuf insgesamt attraktiver, weil Absolventinnen und Absolventen vielseitiger einsetzbar sind. So haben sie auch die Chance, sich im Laufe ihres Berufslebens immer wieder weiterzuentwickeln bzw. zu verändern, ohne den Beruf verlassen zu müssen. 

Akademisierung ist ein weiteres wichtiges Element attraktiver Pflegeausbildung: Wenn eine Ärztin oder ein Arzt in die Fachliteratur schaut oder mit einem Spezialisten über einen Fall diskutiert, bei dem sie oder er auf dem herkömmlichen Weg nicht weiterkommt, dann ist das ganz normal. Wenn eine Pflegefachkraft sich Rat in Fachliteratur sucht, dann wird sie oft sowohl in der eigenen Berufsgruppe als auch von anderen schief angesehen, nach dem Motto "Willst du nicht lieber wieder arbeiten gehen". Das ist ein Problem! Denn wie soll Wissen in die Pflege kommen, wenn Pflegende aktuelle Forschungsergebnisse nicht kennen? Es gibt so viel ungenutztes Wissen, das einfach nicht in der Praxis ankommt. Vieles davon würde sowohl für die Pflegenden als auch für die Gepflegten deutliche Verbesserungen bringen.

Mit meinen Studierenden diskutiere ich immer wieder die Reaktion ihres Umfeldes, wenn sie davon reden, dass sie in der Pflege beruflich tätig sind. Ganz häufig ist der erste Satz des Gegenübers "Das könnte ich nicht". Jeder scheint sofort Ausscheidungen und Körperflüssigkeiten im Blick zu haben. Dann ist es auch nicht mehr weit zu Sätzen wie: "Wieso muss man jetzt studieren, um Nachttöpfe zu leeren?". Dass Pflege deutlich vielfältiger ist, geht offensichtlich unter.

Von solchen Denkmustern sollten wir wegkommen, unter anderem weil sich mittlerweile jeder von uns - im Falle eines Falles - natürlich auch eine hochwertige Pflege wünscht, die meist verbunden mit einem Höchstmaß an Selbstbestimmung und Lebensqualität ist.

Akademisierung kann hier Aufwertung des Ansehens einer ganzen Berufsgruppe in der Gesellschaft bedeuten. Und genau das brauchen wir in Deutschland und in Thüringen. 

Und schließlich muss sich diese Wertschätzung natürlich auch in der Vergütung widerspiegeln! Da ist meines Erachtens - auch im Vergleich zu anderen Berufsgruppen - noch Luft nach oben…

TK: Wie stärken akademisch ausgebildete Pflegefachkräfte unsere Gesundheitsversorgung?

Dorschner: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklungen im Gesundheitswesen hat schon 2007 in seinem Gutachten "Kooperation und Verantwortung - Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung" ein Nachdenken über eine Neuverteilung von Aufgaben im Gesundheitswesen vorgeschlagen.

Hier wird auch das erste Mal von "Advanced Nursing Practice" gesprochen, einer erweiterten Pflegepraxis, wo auf Master-Niveau qualifizierte Pflegefachpersonen Aufgaben übernehmen, die in Deutschland aktuell Ärztinnen und Ärzten vorbehalten sind. Als Beispiele seien hier die Versorgungen von Diabetikern oder von Menschen mit chronischen Wunden genannt.

Wenn wir Pflegefachpersonen mehr als eigenständige, selbstverantwortliche Berufsgruppe sehen, die sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in ihrem Bereich beschäftigt und auch selbst forscht dann werden viele neue Wege möglich. Gleichzeitig muss so ein Selbstbild auch bei den Pflegenden gestärkt werden. 

Noch ein weiteres Beispiel: Wenn wir in Pflegeheimen mehr Pflegefachpersonen hätten, die generalistisch qualifiziert sind, dann würde sich so mancher Krankenhausaufenthalt von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern vermeiden lassen.

Akademisierung kann hier Aufwertung des Ansehens einer ganzen Berufsgruppe in der Gesellschaft bedeuten.
Prof. Dr. Stephan Dorschner

Gleichzeitig muss in diesem Zusammenhang natürlich auch gefragt werden, ob man zu allen Tätigkeiten, die Pflegefachpersonen heute nach einer dreijährigen Berufsausbildung tun bzw. tun müssen, tatsächlich eine dreijährige Ausbildung braucht. Das heißt, dass wir uns auch diese Aufgaben genau anschauen sollten, das Stichwort in diesem Zusammenhang heißt "Skills- and Grade-Mix".

Grundsätzlich lässt sich dies auf die Frage reduzieren: Welche pflegerische Tätigkeit braucht welche pflegerische Qualifikation? Auch hierin steckt meines Erachtens Entlastungspotenzial für Pflegefachpersonen.

TK: Welche Stimmung nehmen Sie in Thüringen gegenüber der akademischen Pflegeausbildung wahr?

Dorschner: In Thüringen wird viel darüber gesprochen, dass Pflege uns viel wert ist. Das ist erst einmal gut und wichtig. Aber den Worten müssen nun auch Taten folgen.

So fordern zum Beispiel sowohl die Konzertierte Aktion Pflege als auch der Wissenschaftsrat in seinem Gutachten von 2012, dass pro Jahr 10 bis 20 Prozent der Pflegefachpersonen akademisch qualifiziert sein sollen. Nach aktuellen Berechnungen erfordert dies bundesweit mindestens 14.000 Studienplätze. Hier haben wir bundesweit grundsätzlichen Handlungsbedarf!

Allerdings zeigt sich aktuell "nur eine rudimentäre Unterstützung" der akademischen primärqualifizierenden Grundausbildung in der Pflege, wie es in einer gemeinsamen Stellungnahme der Bundesdekankonferenz Pflegewissenschaft, des Deutschen Berufsverbandes für Pflegewissenschaft, der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft, des Deutschen Pflegerates und der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz vom 17. November 2021 heißt, die unter dem Titel "Hochschulische Entwicklung der Pflegeberufe vom Scheitern bedroht" erschienen ist.

Hier wünsche ich mir auch von der Landesregierung in Thüringen ein klares Bekenntnis und eine Unterstützung der genannten vier Forderungen:

  1. Sicherung einer Vergütung der Studierenden;
  2. Finanzierung der Praxisanleitung in den Praxiseinrichtungen;
  3. Auflegen von Förderprogrammen zum Auf- und Ausbau primärqualifizierender Pflegestudiengänge;
  4. Auflegen von Förderprogrammen, um Hochschullehrende in den Pflegestudiengängen zu gewinnen.