Plötzlich entschleunigt
Auf einmal ist alles ganz anders. Indem uns die weltweite Verbreitung des Coronavirus gezeigt hat, wie labil auch sicher geglaubte Strukturen sind, hat sich manch einer entschleunigt. Die ganze Welt zum Stillstand gezwungen, was macht das mit uns? Professor Hartmut Rosa, der die Beschleunigung in der Gesellschaft erforscht, kennt die Antwort.

Termine - derzeit keine
Normalerweise ist unser Alltag streng durchgetaktet: Am Jahresanfang wird die Urlaubsplanung für das gesamte Jahr gemacht, die Feier zum runden Geburtstag mindestens acht Monate im Voraus eingebucht. Verabredungen an wertvollen Wochenend-Tagen sind günstigstenfalls vier Wochen zuvor "anzumelden". Ein Termin-Wahnsinn, der durch bundesweite Ausgangsbeschränkungen und weltweite Flugausfälle jetzt erst einmal gründlich auf den Kopf gestellt wurde.
Bislang - so formuliert es Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena - waren wir "als moderne Menschen vor allem auf eine Vergrößerung von Weltreichweite aus". Denn dank digitaler und technischer Möglichkeiten war doch im Prinzip jederzeit alles möglich. Verbunden mit den Freunden in Thailand sein, währenddessen daheim kochen und rasch noch einen neuen Abflugtermin für die nächste Reise buchen.
Indem sich die Lungenkrankheit Covid-19 immer weiter ausbreitete, verengte sich aber plötzlich unser Radius. "Sowohl zeitlich, als auch räumlich ist doch alles erheblich zusammengeschrumpft", erklärt Rosa. "Bislang haben wir Zeit vor allem dafür verwendet, um mehr zu arbeiten, zu organisieren, schneller, besser, cooler zu werden", stellt der Soziologe fest. "Indem aber Verpflichtungen und Termine ersatzlos wegbrachen, gab es zunächst Irritation, aber andererseits auch Zeit zur Besinnung." Wir sind (zumindest gefühlt) nicht mehr ganz so frei wie zuvor, aber dafür steigt unsere Aufmerksamkeit auf die kleinen Geschehnisse des Alltags, wir sind viel weniger abgelenkt.
Sowohl zeitlich, als auch räumlich ist doch alles erheblich zusammengeschrumpft.
Die Welt in Reichweite
"Resonanz" nennt Rosa die Fähigkeit, mit der Welt in Kontakt zu treten, mit allen Sinnen wahrzunehmen - sich einzulassen auf den neuen Tag, ohne sich gleich wieder mit einer neuen, strengen To-do-Liste zu beschäftigen. Die erzwungene Entschleunigung daheim hat vielen den (gefühlten) Luxus beschert, den Tag mal ohne besonderen, noch höheren Optimierungs-Anspruch abschließen zu dürfen. Den Alltag neu, womöglich einfacher zu strukturieren, könnte daher eine Lehre aus der erlebten Krise sein. Auch für sich oder mit der Familie/dem Partner allein können kleine Wünsche in Erfüllung gehen; uns noch ein Staunen, ein Lächeln, ein überraschender Moment begegnen.
Sich nicht zu "verrennen" im Dschungel der Möglichkeiten, die das World Wide Web bietet, ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis, den Hartmut Rosa gern teilt: "Technische Innovationen bringen uns die Welt in Reichweite, und unsere Optionen vergrößern sich." Selbstverständlich will man all diese nutzen. Statt also wie früher nur ein Buch zu einem Thema zu lesen, schauen wir online in zehn bis zwanzig Artikel hinein. Statt davon zu träumen, einmal im Jahr an die Riviera zu fahren, fliegen wir online nach New York, Buenos Aires oder auf die Malediven.
Im Kleinen holt uns das Smartphone die Welt in die Tasche - und damit unüberschaubar viele Möglichkeiten. Jederzeit online gehen, chatten, Nachrichten sehen, einkaufen, recherchieren oder spielen können - das befriedige die Sehnsucht nach mehr Optionen, so Rosa. "Wir gieren nach mehr Möglichkeiten und mehr Erlebnissen, weil wir es für eine Bedingung des gelungenen Lebens halten, möglichst viel Welt in unsere Reichweite zu bringen." Doch es ist eine irrige Vorstellung, dass mehr Optionen glücklicher machen. Rosa: "Das Leben wird erst dann gut, wenn man eine Möglichkeit auch tatsächlich umsetzt."
Das Glück ergreifen
Nichts, was es nicht gibt: Bücher in jeder Sprache, Tickets für alle großen Konzerthäuser dieser Welt, Weiterbildungskurse für jeden Anspruch. Aber allein die Chance "Ich könnte ja in eines der Konzerte gehen" macht uns noch nicht glücklich. Genauso wenig, wie uns das Googeln unterschiedlicher Sprachkurse oder das Auffinden besonders günstiger Fahrrad-Angebote im Netz das Herz aufgehen lässt. Erst in dem Augenblick, in dem ich ein Konzert in der Elbphilharmonie auch besuche, den Sprachkurs gebucht oder mich für ein tolles Rad entschieden habe, ist mein Glück perfekt.
Das Leben wird erst dann gut, wenn man eine Möglichkeit auch tatsächlich umsetzt.
Das fällt vielen schwer. Nicht nur, weil jede Realisierung etwas kostet - Geld, Zeit oder Anstrengung. Sondern auch, weil es bedeutet, auf andere Optionen zu verzichten. Es könnte ja noch etwas Besseres kommen. Manche entscheiden sich dann lieber gar nicht. Und wenn doch, sind sie oft unzufriedener als diejenigen, die weniger Optionen hatten.
Was also tun, um durch den Dschungel der Optionen zu finden? Erster Schritt, so sagen Psychologen: Finden Sie heraus, was Sie wirklich wollen. Suchen Sie dann nicht nach der "besten" Lösung, sondern nach der, die Ihr Bedürfnis befriedigt. Schränken Sie Ihre Optionen ein. Zum Beispiel, indem Sie zuerst die Aspekte auswählen, bei denen die Wahl leicht fällt. Rennrad oder E-Bike? Meer oder Berge? Erst dann entscheiden Sie die Details. Und schließlich: Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, Sie könnten alles mitnehmen und nichts verpassen. Denn - Hand auf´s Herz, Sie wissen es - das ist keine Option.