Solidarität: Der Geist, der uns zusammenhält
Distanz wahren und Kontakte meiden ... Der Mensch gilt schon seit der griechischen Antike als soziales Wesen, das andere Menschen braucht, um zu werden, was es ist. Aber wie gelingt ein soziales Miteinander, wenn man sich nicht mehr sehen oder einfach spontan zu einem großen Topf Spaghetti verabreden kann? Ein Essay der Philosophin Dr. Ina Schmidt.
Eine Frage, die sich derzeit nur schwer beantworten lässt. Aber das, was menschliche Gemeinschaft aufrechterhalten kann, was uns als soziale Wesen ausmacht, geht über den Wunsch nach persönlicher Gesellschaft, Selbstbestimmung und Wohlbefinden hinaus. Es geht um persönliche Beschränkungen zugunsten der anderen in der Hoffnung auf ein Leben, das wir nur gemeinsam zurückerobern können. Darin wird ein sehr besonderes Prinzip gelebter menschlicher Gemeinschaft sichtbar: die Solidarität. Was aber meinen wir mit Solidarität und wie bringen wir sie zum Ausdruck?
Niemanden vergessen: Hallo Nachbarn, wir denken an Euch!
Was bedeutet Solidarität?
Wenn wir den Begriff der Solidarität hören, dann denken wir an politisch bewegte Parolen, oder das Niederlegen von Blumen an Orten, an denen es Opfer zu beklagen gibt, an Lichter- und Menschenketten, als es noch erlaubt war, sich an den Händen zu halten. Solidarität ist aber weit mehr als eine Parole oder ein äußerliches Bekenntnis, sondern ein geistiges Prinzip der Verbundenheit, mit dem sich jedes soziale Miteinander überhaupt erst entwickeln kann. Es bezieht sich auf das lateinische Wort "solidus" und meint eine verbindliche zwischenmenschliche Bezogenheit, die aus gemeinsamen Werten und Überzeugungen herrührt, und nicht von persönlichen Interessen und Nutzenkalkulationen geleitet ist.
Dr. Ina Schmidt ...
...ist Philosophin und erfolgreiche Buchautorin.
2005 gründete sie die Initiative »denkraeume« und bietet seitdem Seminare, Vorträge und Gespräche zu philosophischen Lebensfragen an.
Anders als bei Werten wie Freundschaft, Treue oder Loyalität gilt dieses Bekenntnis nicht zwingend anderen Menschen. Manchmal kennen wir die Betroffenen gar nicht, mit denen wir uns solidarisieren, aber wir fühlen uns einer gemeinsamen Sache verbunden, die über jeden einzelnen hinausreicht und damit ein Gewebe menschlichen Miteinanders entstehen lässt.
Es geht um große Fragen: Was wäre, wenn ich an seiner oder ihrer Stelle gewesen wären? In was für einem Land will ich leben? Welche moralischen Grundhaltungen will ich nicht verhandeln müssen? In solchen Fragen steckt weniger eine moralische Verpflichtung, eine Antwort parat haben zu müssen, sondern vielmehr die Möglichkeit, sich zu bestimmten gemeinschaftlichen Werten und Bedeutsamkeiten zu verhalten, die uns alle betreffen.
Solidarität braucht ein gemeinsames Dafür
Die Antworten auf diese Fragen sind unterschiedlich und werden es immer bleiben, wichtig für eine Solidargemeinschaft aber ist, dass sie gestellt werden. Diese Auseinandersetzung ist der erste und wichtige Schritt, um Solidarität lebendig werden zu lassen, inmitten einer Gemeinschaft, zu der ich mich zugehörig fühle - auch, und gerade wenn es Mut kostet, dafür einzustehen, Unannehmlichkeiten, Verzicht oder sogar Opfer fordert.
Als Gegenspieler zu einem solidarischen Menschen benennt der Kasseler Soziologe Heinz Bude den "Trittbrettfahrer" - aber eine Gemeinschaft aus Trittbrettfahrern würde gar nicht erst entstehen. Erst wenn ich bereit bin, in meinem eigenen Verhalten einen Beitrag zu der Gesellschaft zu sehen, zu der ich gehören möchte, kann ich andere daran erinnern, dass für sie der gleiche Grundsatz zu gelten hat. Und nur, wenn dieser Grundsatz auch für alle wirksam werden kann, haben wir es mit dem Geist der Solidarität zu tun.