Umso wichtiger ist eine rechtzeitige Diagnose: Weil die verschiedenen Mechanismen einer PNP das körpereigene Nervensystem im Verlauf der Erkrankung zunehmend schädigen, ist ein früher Behandlungsbeginn von größter Bedeutung. Volkskrankheit Polyneuropathie?Schätzungen zufolge erkranken etwa drei bis acht Prozent der deutschen Bevölkerung im Lauf ihres Lebens an einer PNP. Die Erkrankung tritt in etwa der Hälfte aller Fälle als Langzeitfolge von Diabetes mellitus oder einer Alkoholabhängigkeit auf. Insgesamt tragen vor allem ältere Menschen ein erhöhtes Risiko.
SymptomeEine PNP macht sich häufig zuerst an Händen, Füßen und Beinen bemerkbar, kann sich in ihrem Verlauf aber auch weiter ausdehnen oder innere Organe betreffen. Abhängig von der Art der betroffenen Nervenfasern entstehen unterschiedliche Symptome:Sensible BeschwerdenSensible Nerven leiten Informationen aus dem Körper zum Gehirn, sodass beispielsweise Druck, Wärme, Kälte oder Schmerz empfunden werden kann. Kommt es durch eine PNP zu Schäden an diesen sensiblen Nerven, entstehen Fehlempfindungen: Die Haut fühlt sich ohne erkennbaren Auslöser pelzig oder taub an, sie kribbelt, juckt, brennt oder sticht. Viele PNP-Patienten berichten außerdem von schmerzlosen Wunden und dem Gefühl, wie auf Watte zu gehen. Darüber hinaus nehmen Betroffene Temperaturen häufig verfälscht wahr oder empfinden schon bei leichtesten Berührungen extreme Schmerzen. Motorische BeschwerdenMotorische Nerven leiten Befehle des Gehirns an die einzelnen Muskelfasern des Körpers weiter: So kann etwa der Arm willentlich gebeugt oder das Bein abgewinkelt werden. PNP-Schäden an diesen motorischen Bahnen können Muskelzuckungen und -krämpfe verursachen und Schmerzen auslösen. Häufig erlahmen die betroffenen Muskeln im Verlauf der Erkrankung und die körperliche Ausdauer lässt allmählich nach.Autonome BeschwerdenDas Gehirn steuert die Organe unbewusst über sogenannte autonome Nerven. Werden diese durch eine PNP in Mitleidenschaft gezogen, kann es zu unterschiedlichsten Symptomen kommen: Übermäßiges oder vermindertes SchwitzenOhnmachts- und Schwindelanfälle vor allem nach dem AufstehenHerzrasen in Ruhe oder zu langsamer Herzschlag bei AnstrengungSchluckbeschwerdenVöllegefühl, Verstopfung und DurchfallErschwertes oder ungewolltes Wasserlassen Wassereinlagerungen und Hautveränderungen an den FüßenFortschreitende Schädigungen von Fußknochen und -gelenkenErektionsstörungenFehlende PupillenbewegungenDiagnoseWenden Sie sich mit den typischen Symptomen einer PNP an Ihren Neurologen. Dieser befragt Sie zunächst zu Ihren individuellen Beschwerden, Vorerkrankungen und Ihrer familiären Krankengeschichte. Darüber hinaus informiert er sich in der Regel, welche Medikamente Sie momentan einnehmen, und führt anschließend verschiedene Untersuchungen durch:Neurologische UntersuchungZunächst prüft Ihr Neurologe, inwiefern die Funktion Ihrer Nerven eingeschränkt ist. Er ermittelt beispielsweise, ob Empfindungsstörungen auf beiden Körperseiten symmetrisch vorliegen oder ob Ihr Schmerz- und Temperaturempfinden beeinträchtigt ist. Darüber hinaus testet er Ihr sogenanntes Lageempfinden für einzelne Gliedmaßen und prüft mit einer Stimmgabel, ob Sie Vibrationen wahrnehmen können. Abschließend sind einige Koordinations- und Gleichgewichtsübungen Teil der Untersuchung - ebenso wie mehrere Reflextests.BlutuntersuchungEine Blutprobe kann zum Beispiel Aufschluss über Ihren Langzeit-Blutzuckerspiegel sowie Ihre Vitamin-B12- und Folsäurewerte geben: Diese und weitere Faktoren können Ihrem Neurologen einen Hinweis auf den Ursprung der PNP liefern.Elektroneurografie (ENG) Im Rahmen einer elektroneurografischen Untersuchung reizt Ihr Neurologe einen Nerv gezielt über eine auf der Haut angebrachte Elektrode - gleichzeitig misst er, ob und wie schnell dieser Reiz im Nerv weitergeleitet wurde. Diese Untersuchung erlaubt ihm Rückschlüsse auf die genaue Art der Nervenschädigung.Elektromyografie (EMG)Bei einer Elektromyografie führt Ihr Arzt entweder eine feine Nadel in den Muskel selbst ein oder bringt eine Elektrode auf der Haut darüber an. So kann er messen, ob ein bestimmter Muskelabschnitt ausreichend starke Signale von den jeweiligen Nerven erhält - oder ob diese geschädigt sind.Weitere UntersuchungenBei Bedarf kann Ihr Arzt weitere Untersuchungsmethoden wie eine Nerven-Muskel-Biopsie, molekulargenetische Tests oder eine Hirnwasseruntersuchung veranlassen. Darüber hinaus kann eine Magnetresonanztomografie (MRT) oder eine Ultraschalluntersuchung sinnvoll sein.Ursachenspezifische TherapieMediziner gehen heute von mehr als zweihundert möglichen Auslösern für eine PNP aus - allen voran Diabetes mellitus und langjährige Alkoholerkrankungen. Die Therapie einer PNP fokussiert sich neben einer Schmerztherapie entsprechend auf die Behandlung der individuellen Grunderkrankung. Wichtig zu wissen: Ob die PNP-Beschwerden im Lauf der Therapie gänzlich verschwinden, etwas nachlassen oder sich trotzdem verschlechtern, ist von zahlreichen Faktoren abhängig und kann nicht pauschal vorhergesagt werden.
Diabetes mellitusWeil ein chronisch erhöhter Blutzuckerspiegel nervenschädigend wirkt, erkrankt in Deutschland beinahe jeder zweite Diabetiker im Lauf seines Lebens an einer PNP. Eine optimale Insulin -Therapie kann vor dieser Langzeitfolge des Diabetes mellitus schützen.AlkoholsuchtChronischer Alkoholmissbrauch führt vor allem in Kombination mit vitaminarmer Ernährung häufig zu nachhaltigen Nervenschäden - Schätzungen zufolge sind bis zu 66 Prozent aller chronischen Alkoholiker betroffen. Die PNP-Therapie konzentriert sich neben einer Vitaminkur entsprechend vor allem auf einen dauerhaften Alkoholentzug. Tipp:Holen Sie sich Unterstützung für diesen wichtigen Schritt: Spezialisierte Fachärzte, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen stellen ein breites Spektrum an nachhaltigen Hilfsangeboten für einen erfolgreichen Alkoholentzug zur Verfügung.
MedikamenteManche chemotherapeutischen Medikamente können abhängig von der Dosis und der Behandlungsdauer Nebenwirkungen auf das Nervensystem haben. Ähnliches gilt unter anderem für verschiedene Medikamente gegen Infektionen, Rheuma oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen . Wenden Sie sich mit PNP-Symptomen an Ihren behandelnden Arzt: In vielen Fällen kann er Ihre Therapie umstellen. UmweltgifteSchwermetalle wie Blei, Arsen und Thallium können das Nervensystem ebenso wie Quecksilber und einige Lösungsmittel nachhaltig schädigen. Stellt Ihr Neurologe ein solches Umweltgift als Auslöser Ihrer PNP fest, sollten Sie den Kontakt damit in Zukunft vollständig meiden.Genetische VeranlagungBei den seltenen erblich bedingten Neuropathien wie der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT) führt ein Gendefekt zur Entstehung einer PNP. Weil die genauen Mechanismen der Erkrankung noch Gegenstand der Forschung sind, konzentriert sich die Behandlung momentan auf physiotherapeutische Maßnahmen .Fehlgeleitetes ImmunsystemGreift das Immunsystem körpereigene Zellen an, kann es zu Schäden am Nervensystem kommen. Abhängig von den genauen Prozessen entstehen dabei unterschiedliche Erkrankungen, die meist innerhalb kurzer Zeit einer stationären Behandlung bedürfen:Guillain-Barré-Syndrom (GBS)Chronisch-inflammatorische Polyradikuloneuropathie (CIDP)Vaskulitische NeuropathienSymptomatische TherapieMedikamentöse SchmerztherapieVerschiedene Antikonvulsiva, Antidepressiva und Opioide können die Schmerzen einer PNP lindern. In der Regel steigert Ihr Arzt die Dosierung dieser Medikamente langsam, um auf etwaige Nebenwirkungen unmittelbar reagieren zu können. Sollten die Schmerzen hauptsächlich auf bestimmten Hautarealen auftreten, kann auch ein örtlich betäubendes Lidocain-Pflaster sinnvoll sein.Physio- und ErgotherapieIn der Regel empfiehlt Ihr Arzt Ihnen zusätzlich eine physiotherapeutische Behandlung, um geschwächte Muskelgruppen gezielt zu stärken. Sind die Hände von der PNP betroffen, kann außerdem eine Ergotherapie helfen, um alltägliche Handgriffe oder neue Techniken intensiv zu trainieren.Medizinische FußpflegeHäufig bemerken PNP-Patienten kleinere Wunden an ihren Füßen nicht mehr. Weil sich diese ohne Behandlung leicht entzünden können, spielt eine regelmäßige medizinische Fußpflege eine wichtige Rolle in der PNP-Behandlung.Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)Bei diesem Verfahren werden Elektroden auf den schmerzenden Hautarealen angebracht. So können die darunterliegenden gesunden Nervenfasern elektrisch stimuliert und gleichzeitig die Weiterleitung der schmerzhaften PNP-Signale zum Hirn blockiert werden. Tipps Abhängig von Ihren individuellen Symptomen können Ihnen im Alltag ganz unterschiedliche Tricks und Kniffe helfen:Achten Sie auf kleine, dafür häufigere Mahlzeiten, um Völlegefühl, Übelkeit und Erbrechen vorzubeugen.Nehmen Sie viel Flüssigkeit und ballaststoffreiche Lebensmittel zu sich, um Verstopfungen entgegenzuwirken.Wählen Sie eine Schlafposition mit erhobenem Oberkörper und tragen Sie auch nachts Stützstrümpfe, um Schwindelgefühle beim Aufstehen zu reduzieren.Testen Sie warme, kalte oder Wechselbäder, um Schmerzen und Fehlempfindungen zu lindern. Auch warme oder kalte Umschläge können eine wohltuende Wirkung haben.Gewöhnen Sie sich einen routinemäßigen Gang zur Toilette alle drei Stunden an, um einem veränderten Harndrang zu begegnen und Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Lassen Sie sich bei Erektionsstörungen oder trockener Vaginalhaut ärztlich beraten. Eine Vakuumpumpe oder Gleitmittel können hier sehr hilfreich sein.Entfernen Sie Stolperfallen und schaffen Sie eine barrierefreie Umgebung, um die Sturzgefahr zu mindern. Auch verschiedene Mobilitätshilfen bieten im Alltag Sicherheit.
AMBOSS GmbH: Polyneuropathie (PNP), 04.11.2019. URL: https://www.amboss.com/de/wissen/Polyneuropathie (abgerufen am: 05.11.2020).
Berg, C.: Individuelle Therapieansätze. Pharmazeutische Zeitung, 27.09.2020. URL: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/individuelle-therapieansaetze-120126/ (abgerufen am: 05.11.2020).
Berlit, P.: Jaspert-Grehl, A.: Was ist Polyneuropathie (Diabetische Polyneuropathie)? Berufsverband Deutscher Neurologen e. V. (BDN), Neurologen und Psychiater im Netz. URL: https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/erkrankungen/polyneuropathie/was-ist-polyneurpathie/#c492 (abgerufen am: 05.11.2020).
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN): S1-Leitlinie Diagnostik bei Polyneuropathien. Stand: März 2019. URL: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-067l_S1_Diagnostik-Polyneuropathien_2020-04.pdf (abgerufen am: 05.11.2020).
Sommer, C. et al.: Polyneuropathien. Deutsches Ärzteblatt, 09.02.2018. URL: https://cdn.aerzteblatt.de/pdf/115/6/m83.pdf (abgerufen am: 05.11.2020).