Was ist Trauer?
Trauer ist eine normale Reaktion etwa auf den schwerwiegenden Verlust eines geliebten Menschen. Sie ist von großer Gedrücktheit, Freudlosigkeit, Mutlosigkeit und depressiven Verstimmungen begleitet.
Wie Trauer erlebt und nach außen getragen wird, hängt entscheidend von der Kultur ab und ist häufig auch religiös geprägt. Das Erleben einer großen Bandbreite an Gefühlen von Verzweiflung, Wut oder sogar Gefühllosigkeit ist individuell verschieden und kann unterschiedlich lange andauern. Trauer ist zunächst keine krankhafte Störung. Oft hilft dem Betroffenen schon ein mitfühlendes und partnerschaftliches Gespräch.
Wenn nach dem auslösenden Ereignis eine Trauerreaktion sehr lange fortbesteht und in der Stärke der Belastung deutlich von einer normalen Trauer abweicht, kann es sich um eine behandlungsbedürftige Störung handeln. Bei abnormen Trauerreaktionen geht man davon aus, dass der Betreffende unfähig ist, die verschiedenen Phasen eines normalen Trauerprozesses zu durchlaufen.
Um die schwierige Unterscheidung zwischen normal verlaufender Trauer und pathologischer Trauer verstehen zu können, wird im Folgenden zunächst der übliche Trauerverlauf dargestellt.
Welche Phasen der normalen Trauer werden durchlaufen?
Beobachtungen von Personen, die einen geliebten Menschen verloren haben, zeigen, dass diese in der Regel verschiedene Phasen durchlaufen. Zeitweises Hin- und Herpendeln zwischen den Phasen ist möglich. Der Abschluss des Trauerprozesses versetzt den Betroffenen in die Lage, den Verlust zu akzeptieren und mit der Erinnerung an die verlorene Person ein neues Leben aufzubauen.
Erste Trauerphase: Betäubungsphase
Betroffene wollen den Verlust nicht wahrhaben und fühlen sich unfähig, die Nachricht zu akzeptieren. Typisch sind Äußerungen wie "Ich konnte es einfach nicht fassen" oder "Es erschien unwirklich". Die Betroffenen wirken versteinert und gefühllos. Wie betäubt werden Routinen zunächst weitergeführt, jedoch unter ständiger Anspannung und Furchtsamkeit. Diese ungewöhnliche Ruhe kann jeden Augenblick von einem Ausbruch intensiver Emotionen unterbrochen werden.
Zweite Trauerphase: Aufbrechen chaotischer Emotionen
Nach Stunden oder Tagen kommt es zum Aufbrechen "chaotischer Emotionen". Der Trauerschmerz wird nun intensiv erfahren. Er wechselt sich mit Angst, Wut, Hilflosigkeit, Schuldgefühlen, auch unbegründeter Heiterkeit oder der Suche nach Schuldigen ab. Es kann zu Gewichtsverlust und Schlafstörungen kommen.
Dritte Trauerphase: Suchen und Sich-Trennen
In einzelnen Episoden wird die Realität des Verlustes immer bewusster. Dies führt zu großer Ruhelosigkeit und der Beschäftigung mit dem verlorenen Menschen. Häufig besteht das Gefühl der tatsächlichen Anwesenheit der verlorenen Person. Der Betroffene versucht, alle auf den betrauerten Menschen hinweisenden Reize wahrzunehmen und genau zu beobachten. Zum Beispiel werden Geräusche im Haus so interpretiert, dass der vermisste Mensch doch noch präsent ist.
Gleichzeitig besteht der entgegengesetzte Impuls, sich von Erinnerungen freizumachen. Man beobachtet ein Schwanken zwischen dem Hegen und Pflegen von Erinnerungsstücken und dem Drang, diese wegzuwerfen sowie zwischen dem Aufsuchen und Vermeiden von Orten, die einen an die verstorbene Person erinnern. Um diese nicht zu vereinenden Tendenzen zu überwinden, wird schließlich akzeptiert, dass der Verlust von Dauer ist – die Suche nach dem Verstorbenen wird abgeschlossen.
Vierte Trauerphase: Neuorganisation
Nach der Akzeptanz des Verlustes übernimmt der Trauernde neue Aufgaben und Rollen. Neben gedanklichen Veränderungen werden auch Gewohnheiten neu geordnet, die mit der verstorbenen Person zusammenhängen. Der Betroffene geht wieder auf Menschen zu. Der Schmerz um den Verstorbenen nimmt ab, kann jedoch zu bestimmten Anlässen wieder neu belebt werden.
Was versteht man unter pathologischer Trauer?
Die Abgrenzung zwischen einer normal verlaufenden Trauerreaktion und einer krankhaften (pathologischen) Entwicklung, einer abnormen Verlustreaktion, ist abhängig von der Dauer der Trauerzeit und von der Art der Trauerreaktion. Der Betroffene erreicht die Phase der Anpassung und der Neuorganisation nicht.
Ärzte und Psychotherapeuten stufen eine Trauerreaktion als abnorm oder pathologisch ein, wenn diese über sechs Monate hinaus anhält. Dennoch sollte dieser Zeitraum niemals als einziges Diagnosekriterium gelten. Wichtig sind der Hintergrund der Lebensgeschichte des Betroffenen und die individuelle Bedeutung des Verlustes, um die Person nicht vorschnell als krank zu verurteilen. Entscheidend ist auch die Art der pathologischen Trauerreaktion. Man unterscheidet zwischen einer chronischen und einer verzögerten Trauerreaktion.
Über die Häufigkeit pathologischer Trauerreaktionen in der Allgemeinbevölkerung gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse. Nach dem Ergebnis einer Studie liegt die Wahrscheinlichkeit, in seinem Leben in Folge eines Verlustes eine Depression zu entwickeln, bei etwa zehn Prozent.
Wie äußert sich eine chronische Trauerreaktion?
Dem Betroffenen gelingt der Sprung in die letzte Trauerphase nicht. Die Unabänderlichkeit des Verlustes wird nicht akzeptiert. In vielen Fällen herrschen Wut und Selbstbeschuldigungen vor. Die Betroffenen wirken oft wie versteinert, kapseln sich ab und sind verbittert. Die verlorene Person wird idealisiert, gelegentlich entwickeln sich jedoch auch Hassgefühle, die teilweise auch gegen die Umwelt gerichtet sind.
Es wird der Versuch unternommen, Verlust- und Trauergefühle abzuwehren. Fragen nach der verlorenen Person können das System jedoch sofort zusammenbrechen lassen. Der Trauernde ist deshalb unfähig, sein Leben neu zu planen und gerät in einen Zustand, den man als Desorganisation bezeichnen kann. Das Leben verläuft weder wie vor dem Verlust noch wird es neu gestaltet.
Der Betroffene kann schließlich unter Depressionen und/oder Angststörungen oder chronischen körperlichen Beschwerden leiden und eine Alkohol- oder Medikamenten-Abhängigkeit entwickeln. Häufig besteht auch Selbstmordgefahr. Möglich ist daneben die Entwicklung eines gestörten Sozialverhaltens wie etwa aggressives oder unsoziales Verhalten.
Nicht immer müssen psychische Störungen begleitend auftreten. Dennoch empfinden Betroffene allgemein ihre Lebensqualität als dauerhaft verschlechtert. Sie können Anforderungen in Beruf und Familie nicht mehr entsprechen.
Was ist eine verzögerte Trauerreaktion?
Die Trauerreaktion ist gehemmt, verhalten oder aufgeschoben. Intensive Niedergeschlagenheit wird erst lange Zeit nach dem Verlust durchlebt und nicht direkt empfunden. Möglicherweise kann der Betroffene die Reaktion gar nicht dem ursprünglichen Verlust zuordnen, obwohl es sich um Trauersymptome handelt.
Auslöser der später einsetzenden Symptome können kurz vorausgehende, zum Teil wenig bedeutsame Verluste sein. Manchmal kommt die Symptomatik auch erst in Gang, wenn der Trauernde das Sterbealter der verlorenen Person erreicht. Eine genauere Nachfrage verdeutlicht, dass hier frühere Verluste betrauert werden.
Betroffene sind anfällig für psychische und körperliche Erkrankungen. Plötzlich und für den Betroffenen unerklärlich kann eine depressive Episode auftreten. Im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung kann deutlich werden, dass diese Entwicklung Folge einer verzögerten Trauerreaktion ist.
Welche Faktoren begünstigen eine abnorme Verlustreaktion?
Ob Trauer einen unnatürlichen, pathologischen Verlauf nimmt oder nicht, hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab. Dabei spielen die Persönlichkeitsmerkmale des Hinterbliebenen, die Ursache und die Umstände des Verlustes sowie Merkmale der verlorenen Person eine entscheidende Rolle.
Den größten Einfluss auf den Verlauf der Trauer haben die Persönlichkeit des Hinterbliebenen und seine Bindung zu der verlorenen Person. Eine besondere Rolle spielen unsichere und konfliktreiche Beziehungen zur verlorenen Person, fehlende tröstende Sterbebegleitung und intensive oder sogar überfürsorgliche Sorge um das Wohlergehen anderer.
Ein weiteres Risiko stellen aktuelle Krisensituationen sowie mangelnde Unterstützung durch Familie und Freunde dar. Einfluss haben daneben ein plötzlicher und unerwarteter Verlust und die Umstände des Sterbeprozesses.
Wie wird die Diagnose gestellt?
Die abnorme Verlustreaktion beziehungsweise pathologische Trauerreaktion ist aus medizinischer und psychologischer Sicht eine Anpassungsstörung. Die Diagnose wird von Psychotherapeuten oder Ärzten gestellt. Voraussetzung für die Diagnose einer pathologischen Trauerreaktion ist, dass die momentanen Krankheitszeichen (Symptome) mit einem erlebten Verlust in Zusammenhang stehen.
Der Betroffene sollte seinem Therapeuten möglichst genau schildern, was passiert ist, welche Gefühle und körperlichen Beschwerden er empfindet und wie sich diese entwickelt haben. Darüber hinaus wird der Arzt ein Augenmerk auf die Lebensgeschichte richten und erfragen, ob bereits vor dem Verlust psychische und körperliche Erkrankungen bestanden haben.
Die Symptome eines pathologischen Trauerprozesses unterscheiden sich von anderen psychischen Erkrankungen durch folgende Aspekte:
- Wenn zum Zeitpunkt des Todes einer bedeutenden Person der Patient weitere Verluste durch Trennung oder Tod erlitt, stellt dies eine enorme Belastung dar. Deshalb reagiert er eher mit einer abnormen Entwicklung.
- Vermeidendes Verhalten wie die Ablehnung, zur Beerdigung zu gehen oder das Grab zu besuchen sowie fehlende Trauer nach dem Verlust sind Hinweise auf mangelnde Realisierung des Verlustes. Auffällig ist das Auftreten von Symptomen in zeitlichem Zusammenhang mit dem Datum des Verlusts.
- Betroffene belassen über einen sehr langen Zeitraum die Umgebung exakt so wie sie war, als die Person starb.
- Betroffene entwickeln übermäßige Ängste vor der Krankheit, die den Tod der betrauerten Person verursacht hat.
Wie kann man eine pathologische Trauerreaktion behandeln?
Erlebt der Betroffene die Trauerreaktion als so belastend, dass er die Problematik nicht mehr allein bewältigen kann, ist eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll.
Ziel einer Psychotherapie ist es, die nicht geleistete Trauerarbeit nachzuholen. So kann man dem Patienten helfen, Interessen und Beziehungen wieder aufzunehmen. Als bewältigt gilt die Trauer, wenn die Person wieder Energie für alltägliche Herausforderungen hat und nicht mehr von Erinnerungen kontrolliert wird. Der Betroffene sollte sich weitgehend frei von Schmerz und störenden Gedanken und Emotionen fühlen.
Verhaltenstherapeutisch orientierte psychologische oder ärztliche Psychotherapeuten arbeiten an Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen, die die Trauer aufrechterhalten und verhindern, einen geeigneten Umgang mit ihr zu finden.
Konzepte aus der sogenannten Interpersonellen Psychotherapie liefern zudem sinnvolle Ansatzpunkte. Hier werden nicht nur der Patient allein, sondern auch seine Beziehungen zu anderen Menschen betrachtet.
Es ist auch sinnvoll, weitere Angehörige in die Therapie mit einzubeziehen, um einen gemeinsamen Umgang mit der Trauer zu finden. In sehr schweren Fällen kann die stationäre Behandlung in einer Klinik unumgänglich sein.
Ist eine medikamentöse Behandlung möglich?
Eine medikamentöse Therapie ist im Allgemeinen nicht erforderlich. Sie kann sogar eine Trauerreaktion verlängern, da die schmerzvollen Gefühle der Trauer nicht zugelassen, sondern gedämpft werden. Daher sollte auf eine unkritische Vergabe von Beruhigungsmitteln, insbesondere vor dem Hintergrund der steigenden Medikamentenabhängigkeit nach Verlusterlebnissen, verzichtet werden.
Bei ausgeprägten Schlafstörungen kann der kurzfristige Einsatz von Schlafmitteln sinnvoll sein oder eine Behandlung mit Antidepressiva bei der Entwicklung einer Depression.