TK: Herr Prof. Schmidt, Sie forschen unter anderem zu achtsamkeitsbasierter Stressreduktion und ihrem Nutzen für die Gesundheit. Was bedeutet Achtsamkeit eigentlich und wieso brauchen wir mehr davon im Gesundheitswesen?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Achtsamkeit ist ein von Offenheit und Neugier geprägter Bewusstseinszustand, in dem sich die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment richtet und bei dem man versucht, sowohl die Welt um einen herum, als auch sich selbst nicht wertend zu sehen. Das Ziel dabei ist nicht, lauter schöne Dinge zu erleben, sondern dass einem klar wird was man gerade sieht, spürt und tut und dieses Hier und Jetzt somit bewusst erlebt.

Prof. Dr. Stefan Schmidt

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Leiter der Sektion Systemische Gesundheitsforschung am Universitätsklinikum Freiburg

Achtsamkeit ist allerdings nicht mit Konzentration gleichzusetzen. Der Effekt ist zwar ähnlich - sowohl mit Konzentration als auch mit Achtsamkeit bleiben Sie mit der Aufmerksamkeit bei einem bestimmten Punkt. In der Achtsamkeit lernen Sie allerdings fokussiert zu sein, und dabei entspannt zu bleiben. Konzentration ist dagegen immer eine sehr kraftvolle mentale Anstrengung, die Sie nicht lange durchhalten.

Gerade für Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte ist es von Vorteil, während der Arbeit eine innere Ruhe, eine emotionale Ausgeglichenheit zu haben, nicht zuletzt, damit sie auch in stressigen Situationen noch empathisch mit Patienten kommunizieren können. Denn die Empathie geht, das haben Studien gezeigt, unter Zeitdruck und Stress schnell verloren. Es geht darum, Achtsamkeit und Muße in den Klinikalltag zu integrieren.

TK: Sie haben speziell die Situation von Assistenzärztinnen und -ärzten in Kliniken betrachtet und die Effekte von Achtsamkeitsprogrammen untersucht. Warum und wie lief das ab?

Der Klinikalltag ist geprägt von permanentem Zeitdruck. Prof. Dr. Stefan Schmidt

Prof. Schmidt: Der Klinikalltag ist geprägt von permanentem Zeitdruck: Die Ärztinnen und Ärzte eilen von Notfall zu Notfall, dazu kommen Nachtschichten und Bereitschaftsdienste. Ausgerechnet junge Medizinerinnen und Mediziner, die eigentlich viel Energie und Idealismus mitbringen und noch ein langes Berufsleben vor sich haben, sind dadurch am meisten gefährdet. Die äußere Hektik verstärkt sich bei ihnen häufig durch die Angst, Fehler zu machen. Viele befinden sich in einem ständigen Gefühlsbad aus Eile, Angst, Trauer und Wut. Das alles kann ziemlichen Druck aufbauen.

Studien zufolge leidet ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte aufgrund von negativem Stress regelmäßig unter anderem unter körperlichen Symptomen wie Kopf- und Rückenschmerzen, Migräne und Schlafstörungen: Über 20 Prozent haben psychische Beschwerden wie Niedergeschlagenheit, Konzentrationsprobleme bis hin zu Panikattacken und Burnout.

Beim Achtsamkeitsprogramm für diese Zielgruppe nimmt das Konzept der Muße eine Schlüsselrolle ein. Muße ist ein Zielzustand, in dem sich Personen frei und selbstbestimmt fühlen, und bildet gleichzeitig einen Gegenpol zur Selbstoptimierung. Was wir nicht wollen ist, dass Achtsamkeit im oft leistungsorientierten Krankenhauskontext im Sinne einer notwendigen Leistungssteigerung oder Zusatzkompetenz fehlinterpretiert wird. Die Nachwuchsmedizinerinnen und -mediziner sollten lernen, mit ihrer berufsspezifischen Belastung umzugehen, dabei Stress-Resilienz aufzubauen und innere Freiheit zu gewinnen.

Neben dem mehrwöchigen Gruppentraining war uns der Transfer der Achtsamkeitsübungen aus dem Seminarraum in den Klinikalltag wichtig. Es geht ja gerade darum, während der Arbeit die innere Ruhe und Freiheit zu finden. Wir haben daher die Übungen für den Arbeitsalltag angepasst: Zum Beispiel auch bei Zeitdruck bewusst über die Klinikflure zu gehen und nicht zu rennen. Oder während der Hände-Desinfektion geistig kurz innezuhalten, die Hände zu spüren und sich des eigenen Körpers bewusst zu werden. Aus dieser innerlichen Ruhe und Präsenz heraus kann dann ein Gespräch mit dem nächsten Patienten aufmerksamer verlaufen, was die Kommunikation für beide Seiten angenehmer macht.

TK: Was sind die Möglichkeiten und wo sind die Grenzen von Achtsamkeit konkret in Bezug auf Versorgungsqualität und Patientensicherheit?

Nach sechs Monaten äußerten die Programmteilnehmenden deutlich weniger Burnout-Symptome. Prof. Dr. Stefan Schmidt

Prof. Schmidt: Wer am Programm teilgenommen hatte, wies direkt nach dem Kurs signifikant weniger Stressanzeichen auf und litt seltener an negativen Stimmungen. Nach sechs Monaten äußerten die Programmteilnehmenden deutlich weniger Burnout-Symptome. Im Vergleich zur Kontrollgruppe gaben sie zudem an, mehr Muße und Selbstmitgefühl zu erleben. Befragte Vorgesetzte nahmen die Programmteilnehmenden als empathischer und befragte Kolleginnen und Kollegen als präsenter wahr.

Viele der jungen Ärztinnen und Ärzte profitierten also nachweislich von der Teilnahme am Programm. Das heißt aber natürlich nicht, dass die im Medizinbetrieb Agierenden ihren Stress nur durch eine Übung in Achtsamkeit mit sich alleine ausmachen sollen. Wichtig ist vielmehr, die Stressfaktoren von unterschiedlichen Seiten ausfindig zu machen und zu vermindern. Politik sowie Arbeitgeberinnen und -geber stehen in der Pflicht, gesunde Arbeitsbedingungen zu gewährleisten bzw. zu schaffen.

Ein zentraler Aspekt der Achtsamkeit ist die bedingungslose Akzeptanz von Dingen, die ich als stressig und schwierig bewerte, an denen ich aber selbst nichts ändern kann. Was uns zur soziologischen Relevanz des Ganzen führt. Unsere Gesellschaft beschleunigt sozial immer mehr und wenn wir den daraus folgenden Stress dann über Achtsamkeit kompensieren, wird es dazu führen, dass die Forderungen immer größer werden. Wenn wir Achtsamkeit also nur als eine Technik im System anwenden, geht ihr eigentlich revolutionäres Potential verloren: Nämlich das bewusste Erkennen dieser Schwächen im System, innerhalb dessen ich nur bedingt etwas an mir selbst ändern kann.

Es ist für die Selbstregulation enorm wichtig, dass man sich im Klinikalltag kleine Auszeiten von seinen Beschäftigungen nimmt. Prof. Dr. Stefan Schmidt

TK: Wie müssen Achtsamkeitsprogramme gestaltet sein, damit sie im medizinischen Berufsalltag funktionieren?

Prof. Schmidt: Es ist für die Selbstregulation enorm wichtig, dass man sich im Klinikalltag kleine Auszeiten von seinen Beschäftigungen nimmt. Das Konzept muss den Transfer also direkt bereitstellen. Nicht Stress in der Klinik und Achtsamkeit zuhause, sondern es geht darum zu wissen, wann und wie ich im täglichen Arbeitsablauf Mitgefühl, innere Bezogenheit und Zuwendung gewinnbringend anwenden kann.

Es ist zunächst sinnvoll in einem Achtsamkeitstraining zu lernen und zu üben, wie man zum Beispiel meditiert, sich entspannt, gegenwärtig ist; etwa durch den Bodyscan, bei dem die Konzentration nach und nach auf einzelne Körperteile gelenkt wird.

Wenn das im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements im Klinikkontext geschieht, können die Teilnehmenden dann gemeinsam schauen, wie sich die erlernten Entspannungstechniken in den eigenen Arbeitsalltag einbauen lassen. Zum Beispiel, indem man sich achtsam, also ganz bewusst, die Hände desinfiziert oder vor dem Annehmen eines Telefonats nochmal tief durchatmet.

Auch die bewusste Trennung von einzelnen Arbeitshandlungen kann helfen, im Sinne von: Jetzt bin ich mit der einen Arbeit fertig, ich lege einen kurzen Break ein, achte auf meine Körperhaltung, füge ein kleines Ritual ein und beginne dann mit der nächsten Arbeit. Ein Beispiel: Ich halte vor dem Zimmer einer schwerkranken Patientin kurz inne, drücke dann ganz bewusst die Türklinke herunter und gehe präsent und offen in die Begegnung mit der Frau.

Zur Person

Prof. Dr. Stefan Schmidt hat in Konstanz und Freiburg Psychologie studiert. Er ist Leiter der Sektion Systemische Gesundheitsforschung am Universitätsklinikum Freiburg und hat eine Stiftungsprofessur für Systemische Familientherapie der Luisenklinik Bad Dürrheim inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemische Therapie, Placebo und achtsamkeitsbasierte Interventionen im Gesundheitswesen.