Hessen ist nach Bayern erst das zweite Bundesland, das ein Fehlerberichts- und Lernsystem im Rettungsdienst etabliert hat. Wir haben mit Dr. Jens Büttner gesprochen, der die Einführung des CIRS initiiert hat.

TK: Wie lang war der Weg von der ersten Idee bis zur Einführung des CIRS im hessischen Rettungsdienst?

Dr. Jens Büttner: Das war ein sehr langer Weg. Fehlerberichts- und Lernsysteme haben ursprünglich aus der Luftfahrt ihren Weg in das Gesundheitswesen gefunden und sind heute insbesondere im stationären und zunehmend auch im ambulanten Bereich etabliert. Im präklinischen Bereich gab es lange nichts Derartiges, obwohl gerade auch der Rettungsdienst - das zeigen die CIRS-Projekte, die wir heute in Hessen und Bayern haben - sehr davon profitiert.

Gerade der Rettungsdienst profitiert von unserem CIRS-Projekt sehr.
Dr. Jens Büttner

Meine erste Idee dazu entstand vor gut zehn Jahren und es dauerte dann bis 2022, bis wir das hessische CIRS zunächst in sechs Rettungsdienstbereichen im Rhein-Main-Gebiet im Rahmen eines Pilotprojekts aus der Taufe heben konnten.

Was ist ein CIRS?

In der Regel verläuft die Versorgung in unserem Gesundheitssystem nach Plan. Aber manchmal kommt es zu unerwünschten Ereignissen, und genau hier setzen Fehlerberichts- und Lernsysteme an. Sie ermöglichen es Behandlungsteams, Schwachpunkte und Risiken in Arbeitsabläufen zu identifizieren und aus dem offenen Austausch über Fehler oder andere kritische Ereignisse zu lernen. Wichtig bei der Entwicklung einer guten Sicherheitskultur ist der offene Umgang mit Fehlern innerhalb der Teams und nicht die Frage "wer war schuld", sondern "was war schuld". In den meisten Fällen hat nicht eine einzelne Person, sondern eine Verkettung unglücklicher Umstände und ein Versagen im System zu einem Fehler geführt. Machen sich die an den Prozessen Beteiligten nicht auf die Suche nach den Ursachen und ändern sie an den internen Strukturen nichts, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich ein Fehler in gleicher oder ähnlicher Weise wiederholt.

Dr. Jens Büttner

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Oberarzt am Agaplesion Elisabethenstift in Darmstadt und Ärztlicher Leiter des Rettungdienstes.


TK: Wie etabliert ist das CIRS im Rettungsdienst heute?

Dr. Büttner: Wir haben zum Jahresbeginn 2025 das Pilotprojekt beendet und das CIRS landesweit ausgerollt. Damit ist Hessen nach Bayern das zweite Bundesland, das ein landesweites CIRS im Rettungsdienst eingeführt hat. In Hessen können seit Februar dieses Jahres landesweit alle Beteiligten im Rettungsdienst anonym und ohne Sanktionen befürchten zu müssen, kritische Ereignisse oder Beinahe-Schäden melden, die in den Einsätzen auftreten. Je mehr Personen beteiligt, desto mehr Fallberichte werden eingereicht, desto mehr Mitarbeitende haben die Möglichkeit aus Fehlern zu lernen und desto größer ist der positive Effekt für alle. Jede Meldung, mit der wir auch nur einen kleinen Fehler verhindern können, ist ein großer Erfolg.

Jede Meldung, mit der wir auch nur einen kleinen Fehler verhindern können, ist ein großer Erfolg.
Dr. Jens Büttner

TK: Wie wahren Sie die Anonymität der gemeldeten Fälle?

Dr. Büttner: Alle Meldungen werden im ersten Schritt von einem externen Dienstleister, dem Institut für Notfallmedizin in München, vollständig anonymisiert. Dabei wird jeder Hinweis in der Meldung entfernt, der eine Rückverfolgung auf die tatsächlichen Akteure zulassen würde. Das ist ein ganz wichtiger Faktor für ein funktionierendes CIRS, dass die Meldungen keinesfalls rückverfolgbar sein dürfen. Denn es spielt überhaupt keine Rolle, wer den Fehler gemacht hat und wo das war. Wichtig ist nur, den Fehler zu erkennen und dass er kein zweites Mal gemacht wird.

Nach der Anonymisierung geht die Meldung wieder zurück nach Hessen. Ein Analyse- und Auswerte-Team beschäftigt sich jetzt mit der - übrigens immer wieder sehr spannenden - Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass dieser Fehler passiert ist? Gibt es Schwachstellen in der Organisationsstruktur oder Sicherheitskultur? Bestehen Probleme in der Führung? Haben Arbeitsbelastung und Zeitdruck, eine mangelhafte Kommunikation oder Aufmerksamkeit, Bedienungsfehler oder defektes Material oder Geräte den Fehler ausgelöst? Das Team bewertet die theoretisch möglichen Auswirkungen jedes einzelnen Falles im Detail und schätzt ein, wie wahrscheinlich es ist, dass der Fehler erneut passieren könnte. Wenn alle Fragen rund um den Fall beantwortet werden konnten, wird die Meldung in unserem CIRS-Portal, das für alle einsehbar ist, veröffentlicht. Idealerweise sollte sie sich gut und spannend lesen wie eine kurze, interessante Story.

Wichtig ist, einen Fehler zu erkennen und dass er kein zweites Mal gemacht wird.
Dr. Jens Büttner

In den Analyse- und Auswerteteams sind uns die unterschiedlichen Blickwinkel auf jeden einzelnen Fall sehr wichtig, deshalb tauschen sich hier Personen aus ganz unterschiedlichen Professionen und Hierarchieebenen zu den Meldungen aus. Einige kommen direkt aus der Ausbildung, andere haben schon viele Jahre Berufserfahrung. Wir haben hier Vertreterinnen und Vertreter der Träger des Rettungsdienstes in Hessen, Mitarbeitende aus den ärztlichen Leitungen, den Zentralen Leitstellen und weitere Akteure aus dem Rettungsdienst und der Krankenhäuser.

TK: Und es ist Ihnen wirklich kein Fall bekannt, der rückverfolgbar war?

Dr. Büttner: Bis heute wurde mir kein Fall berichtet, in dem direkte Rückschlüsse auf ein Ereignis berichtet wurde. Zu Beginn unserer Pilotphase wurde ich hin und wieder von Mitarbeitenden aus meinem Rettungsdienst-Team in Darmstadt auf die CIRS-Meldungen angesprochen, die sie eingereicht hatten. Meine Antwort, dass ich die Meldungen unserem Team gar nicht zuordnen konnte, löste komplettes Erstaunen aus. Spätestens da war das Eis gebrochen und das Vertrauen in das System da. Andere wiederum heben ihre Anonymität selbst auf und erzählen ganz engagiert von ihren Meldungen.

Was aber alle eint, ist das Interesse, etwas zu bewegen. Alle nehmen wahr, dass die eingereichten Berichte sehr ernstgenommen und in der Folge an einzelnen Stellschrauben Veränderungen angestoßen werden, um die Versorgung sicherer zu machen. Das macht unsere Mitarbeitenden zufrieden.

Alle Fehlerberichte werden sehr ernstgenommen und an einzelnen Stellschrauben Veränderungen angestoßen, die die Versorgung sicherer machen.
Dr. Jens Büttner

TK: Können Sie ein Beispiel für einen Fallbericht nennen?

Dr. Büttner: Ein Notarztteam hatte vor einiger Zeit einen Einsatz in einem anderem Rettungsdienstbereich. Einem Patienten oder einer Patientin sollten vor Ort Medikamente per Infusion verabreicht werden. Dabei stellte sich heraus, dass in der Infusionsleitung das Rückschlagventil fehlte. Fehlt es, ist nicht sichergestellt, dass die Infusionslösung nur in Richtung des Patienten fließt und es können erhebliche Komplikationen auftreten. Seitdem verwenden wir landesweit einheitliche Infusionssysteme. Andere Fälle, die kritische Auswirkungen haben können, sind Medikamentenverwechslungen, zu denen es aus verschiedenen Gründen kommen kann. Arzneimittel können einander optisch sehr ähnlich sein oder bereits von vornherein in der Transporttasche am falschen Platz einsortiert worden sein.

Grundsätzlich achten wir in allen Berichten darauf, dass aus jedem Vorfall zumindest eine Empfehlung, wenn nicht sogar eine neue Regelung abgeleitet wird. Bei der Verwechslung von Medikamenten ist dies beispielsweise der Hinweis, dass sich nicht nur unerfahrene, sondern gerade auch erfahrene Anwender vor der Verabreichung immer wieder gemeinsam vergewissern sollten: Ist es der richtige Patient, das richtige Medikament in der richtigen Konzentration und Dosierung, der richtige Zeitpunkt und der richtige Verabreichungsweg? Vielleicht können wir im Einzelfall nicht verhindern, dass ein falsches Medikament aufgezogen wird, aber wenn wie empfohlen vor der Verabreichung zwei Personen nochmals genau hinschauen, dann reicht das schon, um einen Fehler mit möglicherweise schwerwiegenden Konsequenzen zu vermeiden.

TK: Wie viele Fallberichte gibt es aktuell aus Hessen?

Dr. Büttner: Unser CIRS-System wird sehr, sehr gut frequentiert und die Zahl der öffentlich einsehbaren Berichte in unserem Portal ist seit dem landesweiten Rollout deutlich angewachsen. Wir dürften heute bei ca. 50 Berichten liegen. Da wir für unser Portal dieselbe Software nutzen wie die Kollegen in Bayern, wäre es technisch ohne weiteres möglich, die hessischen und bayrischen Fälle zusammenzuführen. Darüber denken wir zurzeit nach. Es ist im Ergebnis nicht relevant, ob eine Medikamenten-Ampulle bei einem Einsatz in Hessen oder Bayern verwechselt wurde. Wesentlich ist, dass wir aus den Ereignissen und voneinander lernen können.

Unser CIRS-System wird sehr gut frequentiert. Die Zahl der Berichte ist seit dem landesweiten Rollout deutlich gewachsen.
Dr. Jens Büttner

TK: Wenn Sie auf den Anfang zurückblicken: Welche Hürden mussten Sie zu Beginn überwinden?

Die erste Herausforderung war, zunächst einmal alle Beteiligten vom Projekt zu überzeugen und an Bord zu bekommen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt war es ein wesentlicher Punkt, die Akzeptanz und das Vertrauen aller Beteiligten zu gewinnen, dass eine CIRS-Meldung nicht gegen sie verwendet werden wird. Auch wenn in den Krankenhäusern mittlerweile Fehlerberichtssysteme etabliert sind, muss aus meiner Sicht gerade im stark hierarchisch strukturierten medizinischen Bereich das Bewusstsein momentan noch wachsen, dass man einen Fehler machen und melden kann, ohne dass dies Auswirkungen für jeden Einzelnen hat. Wer meint, aus einer CIRS-Meldung müsste eine Schelte oder Bestrafung hervorgehen, hat das System nicht verstanden.

Dann musste das umfangreiche Projekt an sich geplant werden, also unter anderem Anbieter für Software und Server gefunden oder der Datenschutz gesichert werden. Ich bin sehr dankbar, dass das hessische Gesundheitsministerium von Beginn an die Schirmherrschaft für das Projekt übernommen hat und uns bis heute unterstützt. Das hat uns Vieles sehr erleichtert.

Als wir das Projekt den Mitarbeitenden in den Pilotregionen schließlich vorgestellt haben und gestartet sind, hat der Funke relativ schnell gezündet. Wir mussten faktisch keine weitere Werbung für das Konzept machen. Die Bereitschaft, mitzumachen, ist bei allen hoch. Den Mitarbeitenden ist bewusst, dass sie mit jeder Meldung, auch wenn sie nur eine vermeintliche Kleinigkeit im Prozessablauf betrifft, eine Kettenreaktion vermeiden können, die zu einer Katastrophe führen könnte. Dass die Kolleginnen und Kollegen dies verinnerlicht haben, ist für mich überhaupt der größte Erfolg des gesamten Systems.  

Wesentlich ist, dass wir aus allen Ereignissen und voneinander lernen können. 
Dr. Jens Büttner

TK: Angenommen, weitere Bundesländer würden sich einem CIRS im Rettungsdienst anschließen wollen: Welche Empfehlung würden Sie geben?

Dr. Büttner: Unsere etablierten Berichts- und Lernsysteme in Hessen und Bayern könnte eine Blaupause für andere Rettungsdienstregionen in ganz Deutschland sein. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich raten, sich einem etablierten System anzuschließen und zunächst in einer überschaubaren Pilotregion zu starten.

Zur Person

Dr. Jens Büttner ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin am Agaplesion Elisabethenstift in Darmstadt und zusätzlich Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Darmstadt und des Landkreises Darmstadt Dieburg. Im Jahr 2015 hat er das hessische CIRS (Critical Incident Reporting System) im Rettungsdienst initiiert. Das Berichts- und Lernsystem wurde im Dezember 2023 zunächst als Pilotprojekt in den Rettungsdienstbereichen Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Frankfurt, Groß-Gerau, Lahn-Dill-Kreis sowie in der Luftrettung umgesetzt. Im Februar 2025 wurde es landesweit ausgerollt.