Hamburg, 6. März 2024. Was bedeuten neue Arzneimittel wie Gentherapeutika für unser Gesundheitssystem? Können sie Hoffnungsträger für Tausende Patientinnen und Patienten in Deutschland sein, wenn sie drohen, das System zu sprengen, weil die hohen Kosten die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) an finanzielle Grenzen bringen? Das ist die zentrale Frage des neuen Reports "Arzneimittel-Fokus: Gentherapeutika - Hoffnungsträger oder Systemsprenger?" der Techniker Krankenkasse (TK) und des aQua-Instituts, der heute veröffentlicht wurde. 

Arznei­mit­tel-Fokus Genthe­ra­peu­tika

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Gentherapeutika: Preisniveau in Millionenhöhe 

"Für Gentherapeutika hat sich ein extrem hohes Preisniveau etabliert, teilweise in Millionenhöhe. Diese Preise kann die gesetzliche Krankenversicherung nicht auf Dauer und für immer mehr Menschen bezahlen. Ich möchte nicht, dass irgendwann entschieden werden muss, wer noch ein teures Medikament bekommen kann und wer nicht. Deshalb müssen wir Wege in der Preisbildung finden, damit auch künftig alle Patientinnen und Patienten von neuen Therapiemöglichkeiten profitieren können", sagt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK. Derzeit sind 15 Gentherapeutika in Deutschland zugelassen. Die Kosten für diese Arzneimittel, die einmal verabreicht werden müssen, lagen bei Markteintritt zwischen rund 300.000 Euro und 4,2 Millionen Euro pro Behandlung.  

Fast 50 Gentherapeutika für Millionen Patientinnen und Patienten in der Pipeline - Milliarden Mehrausgaben 

Laut des TK-Reports sind 49 Kandidaten so weit, dass sie in den nächsten Jahren auf den Markt kommen könnten, darunter Gentherapeutika für die Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Augenleiden und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. Einer dieser Kandidaten wurde inzwischen zugelassen. Potenziell könnten rund 3,8 Millionen Patientinnen und Patienten von den neuen Gentherapeutika profitieren. Die prognostizierten Ausgaben für diese Medikamente liegen bei rund 27 bis 36 Milliarden Euro. Dadurch entstehende mögliche Einsparungen - etwa durch dann nicht benötigte Therapien - sind schwer zu beziffern. Unter anderem ist nicht klar, wie lange Gentherapeutika tatsächlich wirken oder welche zusätzlichen Therapien und Kontrolluntersuchungen notwendig sind. "Diese Medikamente bringen vielen Menschen berechtigte Hoffnung. Gleichzeitig fehlen die Langzeitdaten", sagt TK-Chef Baas. "Wir brauchen Preise, die sich an den tatsächlichen Forschungs- und Herstellungskosten orientieren. Aktuell schaukeln sich die Preise immer weiter hoch, vor allem weil bei Arzneimitteln einer völlig neuen Wirkstoffklasse wie Gentherapeutika keine Vergleiche möglich sind." Deshalb brauche es eine sinnvolle Regulierung.  

"Es ist mir wichtig, nicht von einer Heilungs- oder Wunderspritze zu sprechen" 

Dr. med. Andreas Ziegler, Ärztlicher Leiter des Pädiatrischen Klinisch-Pharmakologischen Studienzentrums des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) behandelt Kinder unter anderem mit dem wohl bekanntesten Gentherapeutikum Zolgensma, das gegen spinale Muskelatrophie (kurz SMA) eingesetzt wird und als "teuerste Spritze der Welt" Schlagzeilen machte: "Wir können aufgrund der Erfahrungen mit Zolgensma von einer extrem erfolgreichen Therapie einer ansonsten zum Tode führenden Erkrankung sprechen. Es ist mir jedoch wichtig, nicht von einer Heilungs- oder Wunderspritze zu sprechen, da dies Erwartungen weckt und die Wirkung von unterschiedlichen Faktoren abhängig ist." Auch das Thema Preise spielt für Ziegler eine wichtige Rolle: "Als Arzt möchte ich nachvollziehen können, wie die Preise für innovative Arzneimittel zustande kommen. Aus meiner Sicht ist klar, dass wir uns die explodierende Zahl von teuren Therapien mit diesen Preisen auf Dauer nicht leisten können. Nach welchen Maßstäben wollen wir dann diese Therapien verteilen?" 

Beispiel Japan: Kostentransparenz ist möglich  

Wie reagieren andere Länder auf die Herausforderung explodierender Arzneimittelkosten? Der Report wirft einen Blick auf die USA, Frankreich und Japan und zeigt, wie diese Länder ihre Arzneimittelausgaben eindämmen wollen. Beispiel Japan: Das Land hat mit einem kriterienbasierten Prämiensystem für neue Arzneimittel ohne Vergleichstherapie die Ausgaben gesenkt. Kern des Systems sind Dossiers der pharmazeutischen Unternehmen, in denen Herstellungs-, Vertriebs- und Vermarktungskosten transparent dargestellt werden, anschließend werden nach Kriterien wie Innovationsgrad oder der Absatzfähigkeit unterschiedlich hohe Prämien aufgeschlagen. Auch die USA will künftig, dass Hersteller Kosten offenlegen müssen, während Frankreich Arzneimittelkosten über ein zentrales Budget begrenzt. In Deutschland müsse über verschiedene Modelle diskutiert werden, sagt TK-Chef Baas und ergänzt: "Die Industrie soll an innovativen Therapien gut verdienen, aber die Preise müssen angemessen sein. Natürlich soll Deutschland ein starker Pharmastandort bleiben. Aber die Industrie siedelt sich nicht da an, wo es die höchsten Arzneimittelpreise gibt, sondern dort, wo die Rahmenbedingungen für Forschung und Produktion gut sind. Zahlreiche Länder, in denen Arzneimittel in großen Mengen produziert werden, haben geringe Preise. Wir brauchen also gute Rahmenbedingungen für die Industrie und bezahlbare Arzneimittel, die auch zukünftig von der GKV finanziert werden können." 

Was sind Gentherapeutika?  

Gentherapeutika zählen zur Kategorie der "Arzneimittel für neuartige Therapien" (engl. Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMPs). Die Wirkung basiert darauf, dass genetisches Material, also ein zusätzliches, künstlich hergestelltes Gen, in eine Zielzelle eingebracht wird. Dieses hinzugefügte Gen kann die Aufgaben eines defekten körpereigenen Gens übernehmen bzw. die Körperzellen mit einer zusätzlichen Fähigkeit versehen, die zur Behandlung einer Erkrankung wichtig ist. Das Einbringen des neuen Gens in die Zellen kann im Körper stattfinden oder außerhalb des Körpers an zuvor entnommenen Zellen. Eine Therapie mit einem Gentherapeutikum gilt als Einmaltherapie, weil das Medikament einmalig verabreicht werden soll. Wie lange Gentherapeutika tatsächlich wirken, ist noch nicht bekannt.  

Blogartikel "Eine extrem erfolgreiche und wirklich bahnbrechende Therapie"