Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl von Betroffenen, die Kopfschmerzen über Selbstmedikation behandeln.    
Wir haben Prof. Dr. Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel, gefragt, weshalb Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen zunehmen, warum junge Frauen häufiger betroffen sind und wie er die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln bewertet. Darüber hinaus informiert Göbel, mit welchen Verhaltensweisen man Kopfschmerzen und Migräne vorbeugen kann. 

TK: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Kopfschmerz und Migräne?

Prof. Dr. Hartmut Göbel: Es gibt mehr als 367 Hauptformen von Kopfschmerzen - die Migräne ist eine davon. Sie unterscheidet sich durch klare, abgrenzbare Merkmale. Die Migräne tritt in Attacken auf, die vier Stunden bis zu drei Tage andauern können. Der Kopfschmerz pulsiert, er pocht, er hämmert. Die Betroffenen sind bettlägerig, müssen sich hinlegen und können ihren Alltag nicht mehr meistern.

Sie können nicht für den Partner oder die Partnerin da sein, sich nicht um ihre Kinder kümmern und nicht zur Arbeit gehen. Übelkeit, Erbrechen, Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit begleiten diese Attacken noch dazu. Die Betroffenen fühlen sich krank, können nicht funktionieren, haben Hausarrest im dunklen Zimmer, obwohl sie nichts angestellt haben. Zusätzlich können Auren und neurologische Ausfälle auftreten.

Es kann vor den Augen flimmern. Hör- und Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Bewusstseinsveränderungen bis hin zu Bewusstlosigkeit sind mitunter möglich. In Einzelfällen können auch Komplikationen wie epileptische Anfälle oder sogar Schlaganfälle auftreten. Migräne ist also eine komplexe neurologische Erkrankung. Sie charakterisiert sich durch diese vielen Merkmale eindeutig und kann von anderen Kopfschmerzformen klar abgegrenzt werden.

Prof. Dr. med. Hartmut Göbel

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Chefarzt der Schmerzklinik Kiel

TK: Studien besagen, dass Kopfschmerzerkrankungen unter Kindern und Jugendlichen zunehmen. Das belegt auch der Kopfschmerzreport der TK. Worin sehen Sie die Gründe dafür?

Prof. Göbel: Aus finnischen Studien über eine Zeitspanne von 30 Jahren mit gleicher Methodik ist bekannt, dass von 1974 bis 2002 Migräne bei Schulkindern um das sechsfache zugenommen hat. Die genetischen Grundlagen der Migräne wirken sich durch unsere Lebensweise verstärkt aus. Migräne tritt früher, häufiger und mit mehr Attacken auf. Das Migränegehirn reagiert auf alles - zu viele, zu schnelle, zu impulsive und zu plötzliche Reize - mit Migräneanfällen.

Unser Lebensstil hat sich entsprechend verändert. Die Familiensituation ist gegenüber früher meist modifiziert. Die Eltern sind beide oft berufstätig. Die Großfamilie mit Geborgenheit durch die Großeltern ist die Ausnahme. Die Familien ziehen häufiger um. Die Ernährung erfordert schnelle Mahlzeiten, "fast food" und "to go" sind Alltag. Das Freizeitverhalten hat sich geändert, viele Termine und stetige Beschäftigung sind die Regel. Smartphones und ständige Erreichbarkeit durch soziale Medien kommen hinzu.

TK: Jede bzw. jeder achte Jugendliche leidet unter diagnostizierten Kopfschmerzen und vier Prozent der Kinder. Geschätzt liegt die Rate der Betroffenen in dem Alter nach Ihrer Aussage vier bis achtmal höher. Mädchen und junge Frauen sind dabei häufiger betroffen als junge Männer. Wie lässt sich das erklären?

Prof. Göbel: Aus Studien wissen wir, dass nur rund 20 Prozent der Betroffen sich ärztlich untersuchen lassen. Viele gehen nicht zum Arzt oder erst sehr spät, wenn Komplikationen aufgetreten sind. Trotzdem nimmt mehr als die Hälfte Medikamente über Selbstmedikation ein. Mädchen und junge Frauen sind dabei häufiger betroffen.

Das hat mehrere Gründe. Durch die Erbanlagen differenziert das weibliche Gehirn stärker, es färbt zudem Reize mit mehr Gefühlen und sozialen Aspekten, die Anforderungen an das Gehirn sind daher höher. Darüber hinaus zeigen Frauen eine verstärkte kardiovaskuläre Dysregulation, Extremitäten reagieren stärker auf Gefäßveränderungen, sie zeigen häufiger kalte Extremitäten. Auch die Hormone können dabei Einfluss nehmen. Folge ist, dass Frauen häufiger und schwerere Attacken erleiden. Selbstmedikation reicht nicht aus. Frauen benötigen daher häufiger rezeptpflichtige Medikamente und müssen damit auch gezwungenermaßen häufiger zum Arzt oder zur Ärztin.

TK: Die Einnahme von Schmerztabletten unter Kindern und Jugendlichen bei Kopfschmerzen nimmt zu. Wie bewerten Sie das?

Prof. Göbel: Kopfschmerzen sind Alltagsphänomene. Jede bzw. jeder kennt sie selbst oder man kennt jemanden, der sie hat. Nur etwa 20 Prozent der Betroffenen gehen zum Arzt bzw. zur Ärztin. Die Werbung für Schmerzmittel nutzt diese Situation. Es wird versprochen, was man hören will: Nimm die Tablette, sie schaltet den Schmerz ab, du wirst frisch und aktiv, kannst leben wie du willst. Zusatzstoffe wie Koffein sollen das noch fördern. Besonders problematisch ist dies bei Kindern und Jugendlichen, wenn damit bessere Noten und Lebenschancen angestrebt werden.

Betroffene finden das attraktiv, sie müssen selbst nicht handeln, das Medikament soll es richten. Die wenigsten Menschen kommen dabei auf die Idee, dass ihr Kopfschmerz durch die regelmäßige Einnahme von Kopfschmerzmedikamenten in seiner Häufigkeit, Hartnäckigkeit und Dauer zugenommen haben könnte. Im Gegenteil versuchen die Betroffenen sogar ständig, das eine Medikament zu finden, das all ihre Beschwerden löst. Aus diesem Grunde werden sehr häufig die Medikamente gewechselt und neue Substanzen ausprobiert.

Die Zunahme und Verstärkung von Kopfschmerzen aufgrund von Übergebrauch von Schmerzmitteln oder Triptanen müssen immer dann vermutet werden, wenn Akutmedikamente an mehr als zehn Tagen pro Monat erforderlich werden, gleichgültig, welche Dosis dabei verwendet wird. Wir haben daher die 10-20-Regel zum Vermeiden und Erkennen von Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerz entwickelt: Schmerzmittel und spezifische Migränemittel (die sogenannten Triptane) sollten an weniger als zehn Tagen pro Monat verwendet werden. 20 Tage im Monat sollten also frei von deren Einnahme sein. Bei dieser Regel werden nicht die an den zehn Tagen verwendeten Tabletten gezählt, sondern nur der jeweilige Tag, unabhängig von der eingenommenen Menge.

TK: Mit welchen Verhaltensweisen kann man Kopfschmerzen und Migräne vorbeugen?

Prof. Göbel: Durch Wissen und Information können wir Migräneattacken vermeiden, sodass sie nicht so häufig und weniger stark auftreten. Wir kennen für die Migräne 38 Risikogene, die steuern, wie schnell wir denken und wie tief wir fühlen. Diese nehmen auch Einfluss auf die Energieversorgung für unser Gehirn. Wenn wir diese Mechanismen stabilisieren, können wir weniger Attacken haben. Dazu ist es wichtig, dass Entspannung, Sport und Ausgleich einen festen Platz in unserem Alltag haben. Auch die Ernährung und der Gleichtakt im Leben spielen eine entscheidende Rolle. Zu denselben Zeiten zu essen und schlafen zu gehen, kann einen positiven Effekt haben. So können wir unserem Nervensystem dazu verhelfen, dass es im Gleichtakt arbeitet und weniger Migräneattacken erleiden muss.

TK: Welches Ziel möchten Sie mit dem Kopfschmerz-Buch für Kinder erreichen?

Prof. Göbel: Es war uns ein sehr großes Anliegen, das Wissen um die Krankheit Kopfschmerzen an Kinder, Jugendliche und an die Eltern zu vermitteln, damit sie Kopfschmerzen frühzeitig erkennen und später vermeiden können. Das Motto war: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. In dem Buch führen wir die Kinder spielerisch in einen Zoo. Dort lernen sie am Modell der Tiere, wie man Kopfschmerzen vermeiden kann. Sie lernen, wie man das richtige Verhalten umsetzen kann, Entspannung übt, mit seinen Emotionen umgehen kann und sich einen festen Tagesplan macht. Das alles können die Kinder spielerisch und einfach am Modell erlernen. Das Buch soll dazu beitragen, dass weniger Kinder an Migräne und Kopfschmerzen leiden müssen. 

Blogbeitrag: Mit Kohlehydraten gegen Migräne