TK: Welches Projekt haben Sie beim Pitchday vorgestellt?

Dr. Judith Pietschmann: Wir haben das Projekt "aphaDIGITAL" vorgestellt. Das ist ein Verbundprojekt aus Wissenschaft und Wirtschaft. Der Teil "apha" im Akronym steht für ein sprachtherapeutisches Störungsbild, die Aphasie, die wir mit dem Projekt adressieren. Eine Aphasie bezeichnet einen "Teilverlust" des Sprachsystems, der meist in Folge eines Schlaganfalls auftritt und mit Symptomen wie beispielsweise einer halbseitigen Lähmung einhergehen kann. Aphasien betreffen überwiegend ältere Menschen (65+) und Männern sind häufiger betroffen als Frauen. 

Für die Betroffenen ist die Diagnose "Aphasie" in mehrfacher Hinsicht problematisch. Sie erleben, gewissermaßen von einer Sekunde auf die andere, eine zum Teil enorme kommunikative und zugleich lebenspraktische Einschränkung. Sie können sich nicht mehr mitteilen und auch das Verstehen kann beeinträchtigt sein. Das ist ein extremer Einschnitt, weil sie von einem auf den anderen Tag einfach "abgeschnitten" sind von der Welt. Teilhabe, ob im Kleinen in der Familie oder im Großen in der Gesellschaft, funktioniert nun mal über Kommunikation. 

Bei einer schweren Symptomatik funktioniert die Kommunikation tatsächlich nahezu nicht mehr, bei einer mittelgradigen Symptomausprägung kann es Einschränkungen beim Sprechen, Schreiben, Hören und Lesen geben. Die Aussicht auf eine Verbesserung der Symptomatik und das Wiedererlernen der Sprache ist bei einer hochfrequenten und nahtlosen Sprachtherapie mit drei bis fünf Einheiten pro Woche allerdings tatsächlich recht gut. 

Die Versorgungsrealität sieht aber aufgrund des Fachkräftemangels ganz anders aus. Patientinnen und Patienten in Sachsen-Anhalt müssen mindestens ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten. Wir im Projekt aphaDIGITAL wollen diese Lücke schließen. "DIGITAL" steht dabei für eine digitale Therapielösung in Form einer App, die es den Betroffenen ermöglicht, Sprache wieder zu erlernen.

TK: Wie entstand die Idee und welches Team steckt dahinter?

Pietschmann: Die Idee zum Projekt ist bereits 2017 gemeinsam mit unserem Forschungspartner, der Technischen Hochschule Wildau und insbesondere mit Prof. Mathias Walther entstanden. Im Rahmen der Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung (TDG) gab es einen ersten Austausch dazu, Projektideen zur Verbesserung der Pflege- und Gesundheitsversorgung beim Pitch-Day einzureichen. Für die Sprechwissenschaft an der MLU steht das Miteinandersprechen von Menschen im Zentrum. Und in der klinischen Sprechwissenschaft unter dem Lehrstuhl von Frau Prof. Susanne Voigt-Zimmermann geht es unter anderem um die Therapie von Sprachstörungen. 

Die Aphasie ist das zentrale Störungsbild älterer Menschen und die Versorgungsrealität sieht hier vergleichsweise schlecht aus. Unsere Idee war also, die Problematik vollumfänglich abzubilden, also auch die Sprachproduktion und das Sprechen. Dafür braucht es aber eine KI- und Analysepipeline im Hintergrund, die aphasische Sprache erkennen und Fehlertypen klassifizieren kann. Ein weiterer Anspruch, den wir an die Entwicklung unserer App hatten, ist die Interaktivität. Dafür haben wir haben einen Avatar entwickelt, also eine virtuelle Übungsbegleiterin, die die einzelnen Sprachübungen erklärt, anleitet, Feedback gibt und das Üben begleitet. Die Patientinnen und Patienten sind also nicht allein, sondern sie haben unsere virtuelle Übungsbegleiterin "Eva".

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Steffi Suchant (zweite von rechts), Leiterin der TK-Landesvertretung Sachsen-Anhalt, gratuliert Dr. Judith Pietschmann (zweite von links) bei der Preisübergabe.

TK: Was ist die langfristige Vision des Projekts?

Pietschmann: Momentan existiert die App noch als Prototyp. Ziel ist es natürlich, noch fehlende Komponenten zu entwickeln und das Ganze auf den Markt zu bringen. Besonders die detailgetreue Animation von "Eva" ist wichtig, weil sie wie eine Therapeutin in der Praxis Hilfestellungen geben soll. Bei Wortfindungsstörungen soll sie zum Beispiel eine sogenannte Anlauthilfe bieten - also das Mundbild des ersten Lautes eines gesuchten Wortes sehr langsam und plastisch vormachen. Der Bedarf dafür ist da; uns erreichen jetzt schon immer wieder Anfragen von Patientinnen und Patienten, wann die Testversion online geht.

TK: Inwieweit haben Sie damit gerechnet, den TK-Sonderpreis zu gewinnen?

Pietschmann: Tatsächlich haben wir überhaupt nicht damit gerechnet, den Sonderpreis zu gewinnen. Das war wirklich eine große Überraschung. Natürlich ist uns klar, dass wir ein sehr elementares Problem adressieren, aber die "Konkurrenz" war ja echt gut und mit spannenden Themen und sehr überzeugenden Auftritten. Der Preis hat unserem Projekt auch eine gewisse Reichweite verliehen. Neben der Auszeichnung und Wertschätzung, über die wir uns wirklich gefreut haben, wirkt der Preis auch nach, vor allem in Sachen Öffentlichkeit. Vor Kurzem war beispielsweise ein MDR-Fernsehteam zu Besuch und hat einen Beitrag produziert. Das ist ein großer Gewinn für uns.

TK: Wo stehen Sie jetzt mit dem Projekt und was ist für 2026 geplant?

Pietschmann: Aktuell beschäftigen wir uns mit der Anschlussfinanzierung und sind auf der Suche nach weiteren Investoren und Fördermöglichkeiten, um den Prototypen unserer App fertigzuentwickeln und in einer Testphase auf den Markt bringen zu können. Wir sind optimistisch, dass wir das 2026 realisieren können.

Am 23. September 2025 präsentierten über 20 Teams aus Sachsen-Anhalt, Deutschland und der Welt beim Investforum Pitch-Day im BANKERS Club Halle ihre Geschäftsideen vor Investoren, Unternehmen und Branchenvertretern. Der Pitch-Day ist das größte Startup-Event in Sachsen-Anhalt und zielt darauf ab, Gründerinnen und Gründer mit Kapitalgebenden zusammenzubringen und Synergien zwischen Startups, Investoren und Unternehmen zu schaffen. Zum zweiten Mal hat die TK-Landesvertretung Sachsen-Anhalt im Rahmen des Pitch-Days den mit eintausend Euro dotierten Sonderpreis Gesundheit an ein Startup vergeben, das mit einer besonders innovativen Idee das Gesundheitssystem zum Positiven verändern will.