Im Interview ziehen Dr. Tobias Steffen, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Landkreis Goslar und Dr. Friederike Schlingloff, geschäftsführende Leitung der Entwicklungsgruppe Telenotfallmedizin an diesem Standort eine positive Bilanz.

TK: Frau Dr. Schlingloff, Herr Dr. Steffen, könnten Sie anhand klassischer Notfallsituationen erläutern, inwiefern das Telenotarzt-System, das Sie nun seit mehr als zwei Jahren leiten, dabei unterstützen kann, Patientinnen und Patienten medizinisch zu versorgen?

Dr. Friedericke Schlingloff und Dr. Toias Steffen: Es gibt in der Notfallmedizin klassische Indikationen, also Krankheitsbilder, bei denen zwingend ein Notarzt vor Ort sein muss. Zum Beispiel bei schweren Atemstörungen, Einsätzen mit schwer erkrankten oder verletzten Kindern oder Einsätzen, bei denen händisch ärztliche Maßnahmen durchgeführt werden müssen wie zum Beispiel das Legen einer Thoraxdrainage.

Dr. Frede­ricke Schling­loff

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Geschäftsführende Leitung der Entwicklungsgruppe Telenotfallmedizin am Standort Goslar

Es gibt aber auch viele Einsätze, bei denen ein Notarzt vor allem für das Treffen einer ärztlichen Entscheidung, der Anordnung einer Maßnahme oder Medikamenten benötigt wird, beispielsweise um die Gabe von Betäubungsmitteln zur Behandlung von starken Schmerzzuständen freizugeben. Grundlage hierfür ist der in Deutschland in 2013 eingeführte Notfallsanitäter, der in einer dreijährigen Berufsausbildung geschult wird, und heutzutage einige Maßnahmen übernehmen kann, die früher ausschließlich Ärzten vorbehalten waren. 

Dr. Tobias Steffen

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Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Landkreis Goslar

Da die Einsatzzahlen im Rettungsdienst seit Jahren steigen, ist die Entlastung des Notarztes von diesen, meist medizinisch weniger dringlichen Fällen, in denen er physisch nicht an der Einsatzstelle benötigt wird, eine relevante Maßnahme zur Schonung der Ressourcen. 

Die Entlastung des Notarztes ist eine relevante Maßnahme zur Schonung der Ressourcen. Dr. Tobias Steffen

TK: Welche Voraussetzungen mussten geschaffen werden, beispielsweise in technologischer Hinsicht oder auch in Bezug auf die Qualifizierung des Personals, damit das Telenotarzt-System starten konnte? Hakt es eventuell noch an der ein oder anderen Stelle?

Dr. Schlingloff / Dr. Steffen: Zunächst musste ein Arbeitsplatz für den Telenotarzt eingerichtet werden, der eine Vielzahl an Voraussetzungen erfüllt. So ist unter anderem die Übertragung aller Vitalparameter aus dem Einsatz in Echtzeit sicherzustellen. Ferner bedarf es eines stabilen Audio-Video-Feeds zwischen Telenotarzt  und Notfallsanitäter, der über eine entsprechende Software zur Verfügung gestellt wird. Und natürlich muss der Einsatz auch digital in geeigneter Form dokumentiert werden. Dabei genügt der Arbeitsplatz den Ansprüchen an Datenschutz und Datensicherheit. 

Es mussten genügend erfahrene Notärzte (Facharzt in einem geeigneten Fachgebiet, ausreichende Erfahrung in der Notfallmedizin, Ausbildung zum leitenden Notarzt, Ausbildung oder Erfahrung im Intensivtransport) zur Verfügung stehen, um den Arbeitsplatz rund um die Uhr zu besetzen. Diese Notärzte wurden in einer dreitägigen Ausbildung geschult. 

Alle Rettungsmittel sind mit einem Smartphone mit ausreichend guter Kameraqualität ausgestattet. Dr. Friedericke Schlingloff

Alle Rettungsmittel, die an den Telenotarzt angeschlossen wurden, sind mit einem Smartphone mit ausreichend guter Kameraqualität, einem Tragesystem sowie einem Bluetooth-Headset ausgestattet. Die EKG-Geräte müssen mit einem GSM-Modul zur Datenübertragung ausgestattet sein. Das Rettungsdienstpersonal, also Notfallsanitäter und Rettungssanitäter, wurden in einer eintägigen Schulung ausgebildet. 

Grundvoraussetzung für die Nutzung von Telenotfallmedizin sind erfahrene Notärzte und Notfallsanitäter, die regelmäßig die Technik einsetzen. Besonderer Bestandteil aller Schulungen ist das Thema Kommunikation und "Crew Ressource Management", da diese für die sichere Anwendung im virtuellen Einsatz von zentraler Bedeutung sind. 

Störungen treten in jedem komplexen, technischen System regelmäßig auf, deswegen ist auch das Troubleshooting, also die Kenntnis von Rückfallebenen und Lösungsstrategien, immer wieder Teil der Ausbildung und wird auch im Einsatz regelmäßig angewendet. Dass ein Einsatz aber aufgrund von technischen Störungen nicht durchgeführt werden kann, haben wir bisher erst in 1,1 Prozent unserer Einsätze erlebt. Hier ist der Hauptgrund tatsächlich ein fehlendes Mobilfunknetz - besonders in abgelegenen Regionen des Oberharzes. 

TK: Wie viele Einsätze wurden inzwischen telemedizinisch begleitet und wie oft musste vom Rettungspersonal vor Ort ein Notarzt hinzugezogen werden?

Dr. Schlingloff / Dr. Steffen: Bis heute wurden an unserem Standort über 4.600 telenotfallmedizinische Einsätze durchgeführt. In 1,1 Prozent dieser Einsätze musste, wie oben beschrieben, aus technischen Gründen ein Notarzt an die Einsatzstelle nachgefordert werden. In 1,9 Prozent der Einsätze musste ein Notarzt nachgefordert werden, weil die medizinische Behandlung durch den Telenotarzt allein nicht ausreichte. 

TK: Sofern erst nachträglich festgestellt wird, dass doch ein Notarzt vor Ort benötigt wird, droht da nicht ein gewisser Zeitverlust?

Notfallsanitäter sind medizinisch sehr gut ausgebildetes Fachpersonal und können sehr gut einschätzen, ob sie vor Ort einen Notarzt benötigen. Dr. Tobias Steffen

Dr. Schlingloff / Dr. Steffen: Notfallsanitäter sind medizinisch sehr gut ausgebildetes Fachpersonal, die sehr genau einschätzen können, ob sie einen Notarzt vor Ort benötigen, oder ob ein Telenotarzt ausreicht. Sollte trotzdem noch ein Notarzt vor Ort benötigt werden, ist der Patient durch den Notfallsanitäter und für den Übergang per Telenotarzt gut versorgt.

Wissenschaftliche Untersuchungen aus anderen Kreisen mit bereits langjähriger Erfahrung in der Telenotfallmedizin haben aber auch gezeigt, dass der Telenotarzt auch bei Einsätzen mit größerer Dringlichkeit sicher eingesetzt werden kann. Diese Untersuchungen haben auch ergeben, dass in Einsätzen mit Telenotarzt die Leitlinienadhärenz höher und die Dokumentationsqualität verbessert war. In der diagnostischen Konkordanz ist der Telenotarzt einem vor Ort anwesenden Notarzt ebenfalls nicht unterlegen. 

TK: Sehen Sie das Potential, mit Hilfe des Projekts Notfalleinsätze zu reduzieren und gleichzeitig dennoch eine älter werdende Bevölkerung auf qualitativ hochwertigem Niveau zu versorgen?

Dr. Schlingloff / Dr. Steffen: Der Notarzt kann durch den Telenotarzt und den Notfallsanitäter von Einsätzen niedrigerer Dringlichkeit entlastet werden. Bei Nichtverfügbarkeit eines Notarztes kann der Telenotarzt überbrückend auch bei Einsätzen mit höherer medizinischer Dringlichkeit sinnvoll eingesetzt werden.

In Anbetracht der steigenden Einsatzzahlen ist der Telenotarzt eine wertvolle neue Ressource. Dr. Friedericke Schlingloff

In Anbetracht der steigenden Einsatzzahlen ist dies eine sinnvolle Entwicklung und der Telenotarzt eine wertvolle neue Ressource in der prähospitalen Notfallmedizin. Durch die hohe Qualifizierung und Erfahrung der Telenotärzte wird eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung sichergestellt. 

TK: Wie ist Ihre persönliche Bilanz bislang?

Dr. Schlingloff / Dr. Steffen: In unserem Landkreis ist das System "Telenotarzt" von den Mitarbeitern gut angenommen worden und wird regelmäßig genutzt. Der telenotärztliche Arbeitsplatz ist auch von den Notärzten akzeptiert und fester Bestandteil der Tätigkeit geworden. Auch die Akzeptanz bei Patienten ist sehr gut. Hier bauen wir sicher auch auf eine durch die Pandemie in der Bevölkerung große Vertrautheit mit digitalen Medien und Angeboten wie "Videosprechstunden", auch in den höheren Altersgruppen. 

In unseren Augen ist der "Telenotarzt" eine wichtige neue Ressource in einer gerade einem starken Wandel ausgesetzten Landschaft der Notfallversorgung in Deutschland.