TK: Frau Professorin Herr, wir alle haben unser Arbeiten in den letzten eineinhalb Jahren verändert, wie hat sich das wissenschaftliche Arbeiten durch die Corona Pandemie verändert?

Prof. Dr. Annika Herr: Durch die Umstellung auf einen digitalen Austausch ist es leichter, häufigere Projekttreffen in größeren Gruppen zu vereinbaren, die jedoch kürzer sind als vorher. Dadurch sind unsere Arbeitstage zersplitterter und die Intensität hat zugenommen. Es fällt mir schwerer, die Ruhe für die Forschung in den Tag voller Meetings zu integrieren. Dafür hat man die Wahl mit einem Klick an einem von Hunderten internationalen Vorträgen teilzunehmen und es eröffnen sich viele neue Horizonte. Diese internationalen, digitalen Vortragsreihen und Projekttreffen werden wir vermutlich beibehalten. Leider hat es durch den erschwerten Zugang zu sensiblen Daten sowie Patientinnen und Patienten auch Verzögerungen gegeben. Darunter leiden vor allem die Doktorandinnen und Doktoranden bzw. Postdoktorandinnen und -doktoranden.

Die Pandemie selbst ist auch zu einem neuen, großen und sehr aktiven Forschungsbereich geworden. 

Prof. Dr. Annika Herr

Prof. Dr. Annika Herr, Leiterin des Institute of Health Economics derLeibniz Universität Hannover Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Leiterin des Institute of Health Economics der Leibniz Universität Hannover

TK: Trotz dieser anderen Umstände arbeiten Sie ja aktuell an spannenden Themen. Was sind die aktuellen Forschungsschwerpunkte in Ihrem Institut?

Herr: Wir analysieren Gesundheitssysteme und deren Leistungsfähigkeit mit Blick auf die Verbesserung der Gesundheit sowie Lebensqualität der Bevölkerung in verschiedenen Regionen und Kontexten. Konkret arbeiten wir einerseits zu Fragen der Pflegequalität im Wettbewerb und dem knappen Angebot an Pflegekräften, zu den Effekten von Wettbewerb auf das Verschreibungsverhalten von englischen Hausärzten oder auf die Qualität deutscher Krankenhäuser. Darüber hinaus ebenso zu gesundheitlichen Auswirkungen des Klimas in Entwicklungs- oder Schwellenländern oder zu Auswirkungen der Preisregulierung auf den deutschen Arzneimittelmarkt. Andererseits liegt im Gesundheitsökonomischen Zentrum CHERH ein Fokus auf der Versorgungsforschung, in dem wir häufig mit Routinedaten der Krankenkassen und Kliniken der Region arbeiten. In einem Projekt beleuchten wir z. B. die Akzeptanz von digitalen Gesundheitsanwendungen in der Psychotherapie bei Patientinnen und Patienten sowie Verschreibenden. In einer weiteren Studie evaluieren wir, unter anderem in Kooperation mit der TK, innovative Versorgungsansätze für die psychosoziale Behandlung und Prävention von Kindern und Jugendlichen mit psychisch kranken und suchtkranken Eltern.

TK: Die Corona Pandemie zeigt auch die Herausforderung, drängende Probleme wissenschaftlich fundiert zu analysieren und evidenzbasierte Ergebnisse zeitnah in die Gesundheitspolitik zu tragen. Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, dass das gut gelingen kann?

Herr: Für gute Analysen brauchen wir, neben unserem theoretischen und methodischen Rüstzeug, zunächst gute und aktuelle Daten. Große, repräsentative Stichproben über einen längeren Zeitraum, die sich mit regionalen soziodemografischen Charakteristika verknüpfen lassen, wären ideal. Außerdem ist auch die Validität ökonomischer Studienergebnisse, wie in der Medizin, von der (Quasi-)Randomisierung der untersuchten Maßnahmen abhängig. Selektionseffekte können Ergebnisse verzerren, daher wäre es toll, wenn es mehr ökonomische Feldexperimente in der deutschen Gesundheitsversorgung gäbe. 

TK: Wie wird sich Versorgungsforschung vor dem Hintergrund von Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI), durch die große Datenmengen verarbeitet werden können. weiterentwickeln?

Herr: Zum Beispiel bei der Analyse von Routinedaten der Krankenkassen, könnte KI hilfreich sein, bestimmte Muster, sei es für Behandlungspfade bei bestimmten Erkrankungen, seltene Nebenwirkungen bei Medikamentenkombinationen, Kostentreiber und Faktoren für schwere Krankheitsverläufe zu identifizieren. Auch könnten Biomarker mit soziodemografischen Eigenschaften verknüpft und für ökonomische Fragen analysiert werden. 

TK: Zum Schluss noch eine Frage zu Ihren Studierenden: Neben den Herausforderungen der Online-Vorlesungen stehen viele auch privat vor einer völlig neuen Situation. Wie macht sich das an der Stimmung der Studierenden bemerkbar?

Herr: Während einige die Digitalisierung als Erleichterung und Beschleunigung ihres Studiums angesehen haben (durch Bereitstellung der Vorlesungsmitschnitte keine Überschneidungen von Vorlesungen, effizientere Teilnahme), sind andere untergegangen, da sie sich alleine vor dem Computer nicht ausreichend motivieren konnten. Wir hatten an unserem Institut mehr herausragende Leistungen, aber auch mehr (geäußerte) psychische Probleme und Studienabbrüche als vorher, letzteres auch aus finanziellen Gründen. Genauso divergent sieht auch das Stimmungsbild der Studierenden zum Wiedereinstieg in die Präsenz zum Wintersemester aus. Als Lehrende freuen wir uns darauf, alle (wieder) zu sehen und hoffen, dass durch hohe Impfquoten die Präsenz über den Winter aufrechterhalten werden kann.

TK: Vielen Dank!

Zur Person

Dr. Annika Herr ist seit März 2019 Professorin für Gesundheitsökonomie und Leiterin des Institute of Health Economics (IHE) an der Leibniz Universität Hannover. Das IHE ist ein Institut der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und zuständig für Forschung und Lehre im Bereich Gesundheitsökonomie. Frau Dr. Herr gehört dem Vorstand des Center for Health Economics Research Hannover (CHERH) an sowie dem erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö). Zuvor war sie Juniorprofessorin am Düsseldorf Institute of Competition Economics der Heinrich Heine Universität.