TK: Warum sollten sich Menschen gegen Grippe und nach wie vor auch gegen eine Covid-19-Infektion impfen lassen?

Professorin Sabine Wicker: Ich sage immer, Covid-19 ist gekommen, um zu bleiben. Die Infektion ist zwar nicht mehr in den Schlagzeilen, aber sowohl Influenza als auch Covid-19 verursachen weiterhin schwere Krankheitsverläufe, Komplikationen und Todesfälle. Die gute Nachricht ist, dass die Impfungen sicher und effektiv sind und uns selbst und auch andere schützen.

Covid-19 ist gekommen, um zu bleiben.
Prof. Sabine Wicker

Impfungen gehören zu den wichtigsten Maßnahmen der Prävention von Erkrankungen. Louis Pasteur hat einmal gesagt: "Wenn ich über eine Krankheit nachdenke, habe ich nie daran gedacht, ein Heilmittel dafür zu finden, sondern ein Mittel, sie zu verhüten."

Bei Influenza und Covid-19 sehen wir große Unterschiede im Krankheitsverlauf. Das reicht von leichten Erkrankungen bis hin zu tödlich verlaufenden Infektionen. Das Impf-Ziel ist nicht das Verhindern jedweder Infektion, sondern das Verhindern von schweren Infektionsverläufen mit Krankenhausaufnahmen und intensivmedizinischer Behandlung.

Das größte Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben ältere, vorerkrankte Personen. Doch Influenza- und Covid-Infektionen können auch bei vormals gesunden Personen unter Umständen schwerwiegend, mitunter sogar lebensbedrohlich verlaufen. Es kann beispielsweise zu einer Influenzapneumonie durch das Virus oder zu Superinfektionen der Lunge durch Bakterien kommen. Ebenso können weitere Organe beteiligt sein. Es kann beispielsweise zu einer Entzündung des Gehirns oder des Herzens kommen.

Auch bei Covid-19 kann es unter Umständen zu neurologischen, kardialen oder pulmonalen Komplikationen kommen. Auch ist das Risiko für Post-Covid und Long-Covid bei den Geimpften signifikant reduziert.

Die kardiologischen Fachgesellschaften sagen mittlerweile, dass Impfen die vierte Säule der kardiovaskulären Prävention ist, neben dem Einsatz von Lipidsenkern, Blutdruckmedikamenten und Antidiabetika. Die Studienlage ist hier sehr eindeutig, die Daten zeigen, dass beispielsweise die Infarkthäufigkeit nach einer Influenzainfektion um das Siebenfache gesteigert ist.

Prof. Sabine Wicker

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Leiterin des Betriebsärztlichen Dienstes der Universitätsmedizin Frankfurt

TK: In Hessen ließen sich in der Impfsaison Herbst/Winter 2024/ 25 nur 37 Prozent der TK-Versicherten ab 60 Jahren gegen die Influenza impfen. Das liegt sogar noch knapp unter dem - nach unseren Daten - bundesweiten Durchschnitt von 38 Prozent und weit unter dem EU-Ziel von 75 Prozent. Welche Ursachen sehen Sie für diese Zurückhaltung?

Wicker: Leider zeigen die Daten des Robert Koch-Instituts tatsächlich teils erhebliche Lücken der Impfquoten. Das WHO-Ziel einer mindestens 75-Prozent-Impfquote für die Zielgruppen der Influenzaimpfung wird klar verfehlt. Viele Menschen unterschätzen ihr Infektionsrisiko. Ursachen für die niedrigen Impfquoten sind oftmals Fehl- oder Desinformationen sowie Misstrauen gegenüber Impfstoffen oder Impfempfehlungen.

Viele Menschen unterschätzen ihr Infektionsrisiko.
Prof. Sabine Wicker

TK: Warum verzichten gerade diejenigen, die am meisten von der Grippeimpfung profitieren - ältere Menschen ab 60, chronisch Kranke und Schwangere - trotz der STIKO-Empfehlung auf die Impfung? 

Wicker: Die psychologische Forschung hat hierzu ein interessantes Model, welches beschreibt, wann eine präventive Maßnahme von den Menschen akzeptiert wird, es handelt sich um das sogenannte "Health belief model".

Ich habe dieses Modell mal auf die Impfungen fokussiert und da zeigen sich folgende Punkte:

  • Auch die Risikogruppen unterschätzen die Schwere der impfpräventablen Infektionen, also der Infektionskrankheiten, die durch rechtzeitige und vollständige Impfungen verhindert oder abgeschwächt werden können.
  • Sie glauben nicht, dass sie persönlich gefährdet sind und erwarten auch keine ernsthaften Konsequenzen einer Infektion.
  • Sie sind nicht von der Effektivität der Impfung überzeugt und
  • sie haben Angst vor Nebenwirkungen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen.

Vor Nebenwirkungen braucht man bei den Impfungen aber keine Angst zu haben. Die Impfungen sind sicher und effektiv, dass zeigt uns die Studienlage eindeutig. Wie bei jedem Medikament kann es zu Nebenwirkungen kommen, beispielsweise Schmerzen an der Impfstelle, Müdigkeit, Abgeschlagenheit. Das geht schnell vorbei. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind sehr seltene Ereignisse. In Deutschland überwacht das Paul-Ehrlich-Institut die Sicherheit von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln. Das Melden von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen ist eine zentrale Säule für die Beurteilung der Sicherheit von Arzneimitteln. So können zeitnah neue Signale detektiert und das Nutzen-Risiko-Profil der Impfstoffe kontinuierlich überwacht werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass auch Reaktionen in zeitlicher Nähe zu einer Impfung nicht unbedingt im ursächlichen Zusammenhang mit einer Impfung stehen müssen.

TK: Wie kann man das Bewusstsein für das Impfrisiko in diesen Gruppen stärken?

Wicker: Die Datenlage ist überzeugend, von der Influenzaimpfung profitieren die Risikogruppen. Angesichts der Datenlage ist eine klare Kommunikation von besonderer Wichtigkeit. Oft werden die Risikopatienten ganz unverbindlich gefragt "Möchten Sie eine Influenzaimpfung?" Man vergleiche dies einmal mit den Gesprächen über andere wichtige Medikamente. Man fragt Hochdruckpatienten auch nicht, ob sie Blutdrucktabletten einnehmen möchten, sondern empfiehlt die Blutdrucktabletten als wichtige medizinische Behandlung. Somit sollte die Influenzaimpfung in der Interaktion mit den Patienten dringend empfohlen werden und eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Das Impfen muss so niederschwellig wie möglich sein. Wichtig wäre, dass wir auch in Deutschland einen digitalen Impfausweis mit einer entsprechenden Erinnerungsfunktion hätten, denn viele Impfungen werden ganz einfach vergessen oder die Menschen wissen nicht, dass für sie eine Impfung empfohlen wird.

TK: Deutschland liegt bei den Grippeimpfquoten deutlich hinter Ländern wie Dänemark oder Irland zurück. Was machen diese Länder anders und welche Lehren lassen sich für Deutschland daraus ziehen?

Wicker: Dänemark ist in der Medizin digital viel besser aufgestellt als Deutschland. Hier gibt es mehr Daten zur Infektionsepidemiologie und auch die Möglichkeit die Risikogruppen gezielt anzusprechen.

Wichtig ist natürlich auch, welchen Stellenwert die Prävention in einer Gesellschaft hat - und hier sind uns manche Länder - das muss ich leider sagen - weit voraus. Die Prävention muss gerade in einer alternden Gesellschaft eine besondere Rolle spielen. Wir wollen eigentlich keine Patienten stationär aufnehmen müssen oder an Folgekrankheiten oder Komplikationen behandeln, wenn es sichere und effektive Impfstoffe gibt.

Zur Person

Professorin Sabine Wicker ist Fachärztin für Arbeitsmedizin und seit 2004 Leiterin des Betriebsärztlichen Dienstes der Universitätsmedizin Frankfurt. Von Februar 2011 bis März 2024 war sie Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut und von 2020 bis 2024 Stellvertretende Vorsitzende dieses Gremiums.