Die Abkürzung PEKo steht für "Partizipative Entwicklung von Konzepten zur Prävention von Gewalt in der stationären Pflege". Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und von der Techniker Krankenkasse gefördert. Wir haben mit Projektleiterin Ulli Maria Jefcoat über ihre Erfahrungen der letzten Jahre mit dem PEKo-Projekt gesprochen. 

TK: Frau Jefcoat, warum war Ihnen die Teilnahme am PEKo-Projekt so wichtig?

Ulli Maria Jefcoat: Als wir seinerzeit von der Hochschule Fulda auf das PEKo-Projekt angesprochen wurden, waren wir sofort der Meinung: Da machen wir mit. In den letzten zwei Jahren ist das Präventionsprojekt für uns ein Herzensthema geworden, das in unserem Alltag fest verankert ist.

Ulli Maria Jefcoat

Projektleiterin Ulli Maria Jefcoat vor grünen Pflanzen Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Projektleiterin PEKo, Alten- und Pflegeheim Anlagenring Frankfurt 

In den letzten Jahren ist das Thema Gewaltprävention für uns ein Herzensthema geworden.Ulli Maria Jefcoat

Uns war immer bewusst, dass Grenzüberschreitungen und Gewalt im erweiterten Sinn in zwischenmenschlichen Beziehungen vorkommen, insbesondere auch in Pflegeeinrichtungen. Und es war uns klar: Alle Menschen in unserer Einrichtung sollen gewaltfrei leben und arbeiten können. Gewalt soll in unserem Haus überhaupt keinen Platz haben.

TK: "Gewalt" ist ein starkes Wort. Welche Verhaltensweisen gehören im weitesten Sinn dazu?

Jefcoat: Ich habe selbst, als ich noch neu in meinem Beruf war, relativ schnell eine unangenehme Gewalterfahrung gemacht. Ich musste damals eine psychisch erkrankte Bewohnerin mit einem festen Griff am Arm daran hindern, eine stark befahrene Straße allein zu überqueren. Sie konnte das nicht verstehen und hat sich heftig gewehrt. Sie biss mich heftig in den Arm und fügte mir eine tiefe, blutende Wunde zu, die ich später ärztlich versorgen lassen musste. Zusätzlich zur körperlichen Verletzung war ich regelrecht geschockt, hatte aber das Glück, dass sich meine Kolleginnen und Kollegen damals um die Erstversorgung der Wunde gekümmert und mich auch psychisch aufgefangen haben. Es war unglaublich wichtig für mich, über das Erlebte sprechen zu können.

Grundsätzlich müssen wir Pflege- und Betreuungskräfte lernen, mit Konflikten und anderen schwierigen Situationen umzugehen, wie sie beispielsweise zwischen Mitarbeitenden und Bewohnerinnen und Bewohnern entstehen können, bei denen etwa eine demenzielle oder psychische Erkrankung vorliegt. Es ist wichtig, bestimmte Aussagen oder Verhaltensweisen nicht persönlich zu nehmen. Wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner beispielsweise aus einer Angstsituation heraus schimpft oder aggressiv ist, können wir ihr oder ihm unterstellen, dass sie das nicht absichtlich gemacht hat.

Unter den Mitarbeitenden ist die häufigste Form der Gewalt nach meiner Erfahrung die verbale Gewalt, also eine schlechte Kommunikation. Diese Konflikte sind nicht gewollt; sie entstehen durch Zeitdruck und Stress.

Auflistung der am häufigsten vorkommenden Formen der Gewalt in der Pflege. Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.

TK: Wie haben Sie das Thema Gewaltprävention angepackt?

Jefcoat: Das Programm des langfristig angelegten Gewaltpräventionsprojekts, in dem wir von einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Hochschule Fulda intensiv unterstützt wurden, war eine höchst produktive Zeit. Ende 2019 sind wir mit unserem einjährigen "Think Tank" gestartet und haben zuerst ein bereichsübergreifendes PEKo-Team geschaffen. Es war uns wichtig, aus jedem Bereich unserer Einrichtung - also aus der Pflege, Betreuung, Verwaltung, Hauswirtschaft und Küche - mindestens einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit dabei zu haben. 

Das Team war von Beginn an sehr motiviert und der intensive Austausch äußerst befruchtend. Alle Kollegen und Kolleginnen aus unserem PEKo-Team wurden im Laufe der Zeit auch zu Vertrauenspersonen für alle Mitarbeitenden im Haus.

TK: Welche Aufgaben hat sich das PEKo-Team vorgenommen?

Jefcoat: In unseren ersten Arbeitstreffen haben wir unser bestehendes Konzept zur Gewaltprävention auf den Prüfstand gestellt. Es stammte aus dem Jahr 2013 und war 2016 nochmal überarbeitet und aktualisiert worden. Wir haben es nochmals überarbeitet und an die aktuelle Situation in unserem Haus angepasst und schon Anfang 2020 konnten wir unser neues Gewaltfreiheitskonzept allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aushändigen. Zudem haben wir eine Pocket-Version auf allen Etagen ausgehängt. Die Kurzversion erklärt auf einen Blick, dass wir im Anlagenring zu jedweder Form von Gewalt Nein sagen, sei es psychische oder körperliche Gewalt, Vernachlässigung oder Freiheitsentzug etc. 

Aus der einjährigen Arbeit am Gewaltpräventionskonzept heraus hat sich die Idee eines Workshops für die Mitarbeitenden im Haus entwickelt. Das Team erarbeitete gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Hochschule Fulda ein tragfähiges Schulungskonzept. So konnten wir relativ schnell den ersten Workshop anbieten, der sehr erfolgreich war. 

TK: Wie profitieren die Mitarbeitenden von den Workshops?

Jefcoat: Ein Novum dieser Workshops, das sich sehr bewährt hat, ist für uns: Sie werden von den Mitarbeitenden für die Mitarbeitenden angeboten. Die Hemmschwelle der "Hierarchie" fällt dadurch weg. Alle teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen begegnen sich auf Augenhöhe, was es einfacher macht, offen von persönlichen Erfahrungen zu berichten. In Rollenspielen greifen wir Situationen aus unserem Alltag beispielsweise in der Betreuung, in der Küche oder in der Pflege auf, in denen zwischen Mitarbeitenden und Angehörigen oder zwischen Bewohnern und Personal etwas schiefgelaufen ist. Es ist dann Aufgabe der Gruppe, für die verzwickten Situationen Lösungsansätze zu finden. Das ist praxisnah und kommt bei den Teilnehmenden gut an, weil sie Ähnliches vielleicht sogar schon selbst erlebt haben.

Die Workshops bieten wir allen Mitarbeitenden an und legen sie insbesondere auch denjenigen ans Herz, die neu zu uns in die Einrichtung kommen. Sie sind für die Neuen auch eine Möglichkeit, in vertrauensvoller Atmosphäre weitere Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen. Das verbindet und hilft im Alltag. Es ist mein Eindruck, dass unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Workshops immer wieder "happy" verlassen. Das Feedback ist jedes Mal sehr positiv. Mittlerweile sind wir schon beim sechsten Workshop.

Ein besonderer Glücksfall ist, dass im Sommer 2021 ein Psychologischer Psychotherapeut zu unserem PEKo-Team dazu gestoßen ist. 

TK: Was ist seine Rolle im PEKo-Projekt?

Jefcoat: Ursprünglich war er zu uns ins Haus gekommen, um unsere Bewohnerinnen und Bewohner und alle Mitarbeitenden bei psychischen Problemen zu unterstützen. Jetzt unterstützt er auch das PEKo-Projekt, indem er aktiv als Fachmann bei den PEKo-Schulungen über deeskalierende Maßnahmen spricht, Rollenspiele zu gewaltfreier Kommunikation durchführt oder vertrauensbildende Anregungen gibt und vieles mehr. Auch außerhalb der Workshops wird er als Fachmann zu Konfliktsituationen hinzugezogen. 

Ein Beispiel: In der Abteilung Küche gab es längere Zeit hindurch zwischenmenschliche Probleme, ausgelöst durch eine Person. Das führte zu großen Spannungen und Aggression innerhalb des gesamten Küchenteams. Der Therapeut wurde gebeten, sich mit diesen Mitarbeitenden an einen Tisch zu setzen, um die Sachlage zu bearbeiten. Sehen Sie es wie eine intensive Therapiestunde, aus der alle Beteiligten aufgeklärt herausgehen.

TK: Wie reagieren Sie heute, wenn es zu einer Gewalterfahrung kommt?

Jefcoat: Nehmen wir ein Beispiel: Ein nicht akzeptables Verhalten unter den Mitarbeitenden wäre beispielsweise, wenn ein junger Kollege oder eine junge Kollegin zum wiederholten Mal eine Frage stellt und von der zuständigen Fachkraft im Stress des Alltags scharf angegangen wird. Aus dieser Situation können beide Seiten lernen. Solche Fälle behandeln wir gerne beispielhaft im PEKo-Workshop als Rollenspiel. Wir diskutieren alle gemeinsam, wie solch eine Situation anders gehandhabt werden kann und erarbeiten im Gespräch Lösungsansätze bzw. wie es erst gar nicht zu dieser Situation kommt.

Egal welche Form von Gewalt stattgefunden hat: Unglaublich wichtig für die Mitarbeitenden ist es zu wissen, dass ihnen ein Ansprechpartner aus dem PEKo-Team zur Verfügung steht, mit dem sie sich über selbst erfahrene, bei anderen beobachtete oder auch über die selbst ausgeübte Gewalt austauschen können. Dieser Austausch mit einer Kollegin oder einem Kollegen ist meist sehr hilfreich. Gegebenenfalls muss ein Vorfall auch weiterverfolgt werden, indem das Gespräch mit allen Beteiligten gesucht wird, oder der Fall muss sogar mit der Führungskraft oder in einer großen Fallbesprechung mit allen Beteiligten behandelt werden, was aber selten vorkommt.

TK: In welchen Fällen wird die Führungskraft eingebunden?

Jefcoat: Vor einiger Zeit hat in unserer Einrichtung ein junger, noch unerfahrener Pfleger im Zimmer einer Bewohnerin den Stecker für die Klingel aus der Steckdose gezogen - ein absolutes Tabu. Was war geschehen? Die Bewohnerin hatte zuvor ohne sichtbaren Anlass alle fünf Minuten geläutet und der Pfleger, der immer wieder zu ihr ins Zimmer kam, hatte in seiner Not schließlich den Stecker gezogen, damit er seine eigentliche Arbeit erledigen konnte. 

Richtig wäre gewesen, wenn der junge Mann seine ebenfalls diensthabende Kollegin gerufen und um Entlastung in dieser schwierigen Lage gebeten hätte. Unsere Führungskraft aus der sozialen Betreuung hat nach dem Vorfall ein sehr gutes Gespräch mit ihm geführt, so dass es keiner weiteren Aktion mehr bedurfte. Er hat gelernt, dass er in einer schwierigen Situation nicht alleine auf sich gestellt ist, sondern Unterstützung bekommt, wenn er sich mit seinem Team austauscht.

TK: Gab es im Lauf des PEKo-Projekts auch Hürden, die Sie überwinden mussten?

Jefcoat: Die Kolleginnen und Kollegen werden für die Treffen unseres PEKo-Teams und für die Workshops von ihrer Arbeit freigestellt, was sich in der Umsetzung als nicht ganz einfach erwies. Aber unsere Dienstplanerinnen und Dienstplaner machen es möglich. Das klappt, weil sie vom PEKo-Projekt wirklich überzeugt sind.

TK: Was hat sich durch PEKo in Ihrem Haus noch verändert?

Jefcoat: Seit dem Abschluss des ersten Projektjahres sind wir, was die Gewaltprävention betrifft, im Regelbetrieb, in dem wir das Gelernte täglich anwenden und die neuen Strukturen unseres Gewaltfreiheitskonzepts bewahren. Auch die bereichsübergreifende Zusammenarbeit hat sich bei uns verbessert, dadurch werden Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Mitarbeitenden in allen Bereichen abgebaut. Es ist mir als PEKo-Kollegin sehr wichtig, dass diese Schwellen zwischen den Bereichen immer flacher werden und sich die Fachkollegen untereinander immer besser vernetzen. Wenn beispielsweise die Kolleginnen und Kollegen aus der Küche keine Hemmschwelle mehr kennen, bei Fragen einen Mitarbeitenden aus der Pflege anzurufen, bin ich zufrieden. 

Was ich nach den ersten Jahren mit dem PEKo-Projekt als sehr positiv erlebe: Es hat sich mittlerweile in unserem Haus herumgesprochen, dass sich die Kolleginnen und Kollegen bei Problemen jedweder Art an das PEKo-Team wenden können. Durch die vielen Gespräche und den regelmäßigen Austausch in den PEKo-Workshops kamen weitere Gewaltthemen zur Sprache, die bis dahin weniger im Fokus standen. Das sind zum Beispiel der Generationenkonflikt unter den Mitarbeitenden in unserem Haus, aber auch die Themen sexualisierte Gewalt oder und Rassismus,.

Es arbeiten Menschen vieler Nationalitäten und mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund bei uns im Haus. Untereinander funktioniert das in der Regel gut - aber von Seiten einzelner Bewohnerinnen und Bewohner gibt es - im wahrsten Wortsinn -Berührungsängste: Manche wollen sich von einer dunkelhäutigen Person zum Beispiel nicht helfen oder waschen lassen. 

PEKo wird uns noch viele Jahre begleiten - auch weil es uns in unserem Alltag ganz enorm hilft.
Ulli Maria Jefcoat

TK: Was können Sie in solchen Fällen tun?

Jefcoat: Unsere Bewohnerinnen und Bewohner, die durch ihre Erkrankungen oftmals psychisch verändert sind, können wir nicht ändern. Aber wir können unsere Mitarbeitenden darin unterstützen, wie sie sich in solchen Fällen abgrenzen, ohne dass das Geschehene sie belastet. 

Dasselbe gilt für sexualisierte Gewalt, die bei uns im Haus glücklicherweise selten vorkommt. Dennoch gab und gibt es Fälle, in denen Bewohner, während sie von einer weiblichen Mitarbeiterin gebadet oder geduscht werden, anzügliche Bemerkungen äußern. Gerade unseren jüngeren Kolleginnen gibt der Austausch in unseren Workshops über solche Situationen viel Sicherheit, beispielsweise wenn die langjährigen Mitarbeitenden berichten, dass ihnen das schon häufig passiert ist oder sie den Jüngeren dazu raten, das Geschehen mit Humor zu nehmen oder einfach zu ignorieren - und auf keinen Fall persönlich zu nehmen. Beim nächsten Mal kann sich die junge von einer älteren Kollegin begleiten lassen, die schützend eingreifen kann, sollte es erneut zu diesem Verhalten kommen.

TK: Und wie können Sie die Generationenkonflikte lösen, die Sie beobachten?

Jefcoat: Bei den Spannungen zwischen Jung und Alt, also zwischen der Generation Z und unseren erfahrenen Mitarbeitenden der sogenannten Boomer-Generation, geht es in der Regel um die unterschiedlichen Werte, die die verschiedenen Generationen prägen. Es sind vermeintliche Kleinigkeiten, wie beispielsweise die Tonalität untereinander, die plötzlich Spannungen auslösen kann, die wir aber sehr ernst nehmen. 

Wir haben zum Beispiel Top-Pflegefachkräfte im Haus, die in ihrem Berufsleben viel gelernt und erfahren haben. Sie arbeiten innerhalb ihres erprobten Wertesystems, das sie viele Jahre geprägt hat. Gerade für diese Menschen ist es schwierig, im stressigen Alltag plötzlich mit völlig anderen Werten konfrontiert zu werden. Sie sollen neue Mitarbeitende anlernen, sie begleiten und beraten. Was aber, wenn der junge Mensch zum Beispiel nicht die Notwenigkeit sieht, unbedingt immer pünktlich zur Arbeit zu kommen? Er macht ja seine Arbeit, nur vielleicht ein wenig später. Hier bedarf es viel Geduld, Ausdauer und auch Zeit, um die notwendigen Erklärungen weiterzugeben, damit der neue Mitarbeitende versteht, warum es notwendig ist, pünktlich zu sein. Ein Informationsaustausch ist unentbehrlich - und führt zu gegenseitigem Verständnis. Vielleicht wäre es von Vorteil, in die fachliche pflegerische Ausbildung künftig auch ein Seminarteil "Leadership" einzuführen. 

Eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit kann für alle nur positiv sein und wir machen gerade die Erfahrung, dass PEKo ein Thema bleibt, das uns noch viele Jahre begleiten wird - gerade auch, weil es uns in unserem Alltag ganz enorm hilft. 
 


Weitere Informationen