"Gewalt hat in unserem Haus keinen Platz"
Interview aus Hessen
Das Alten- und Pflegeheim Anlagenring in Frankfurt hat ein Präventionsprojekt gegen Gewalt in der Pflege durchgeführt. Wir haben mit Projektleiterin Ulli Maria Jefcoat über deren Erfahrungen mit dem PEKo-Projekt gesprochen.

Ziel des Projekts ist es, Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen für das Thema Gewalt in der Pflege zu sensibilisieren sowie Maßnahmen zur Gewaltprävention zu entwickeln und in der Einrichtung umzusetzen. Die Abkürzung PEKo steht für "Partizipative Entwicklung von Konzepten zur Prävention von Gewalt in der stationären Pflege".
Am Projekt haben bundesweit 53 Einrichtungen der stationären Langzeitpflege teilgenommen. Es wird von vier Hochschulen wissenschaftlich begleitet, unter anderem von der Hochschule Fulda, und von der Techniker Krankenkasse gefördert.
TK: Frau Jefcoat, warum war Ihnen die Teilnahme am PEKo-Projekt so wichtig?
Ulli Maria Jefcoat: Als wir von der Hochschule Fulda auf das PEKo-Projekt angesprochen wurden, waren wir sofort der Meinung: Da machen wir mit. In den letzten zwei Jahren ist das Präventionsprojekt für uns ein Herzensthema geworden, das in unserem Alltag fest verankert ist.
Ulli Maria Jefcoat
Alle Menschen in unserer Einrichtung sollen gewaltfrei leben und arbeiten können.
Uns war immer bewusst, dass Grenzüberschreitungen und Gewalt im erweiterten Sinn in zwischenmenschlichen Beziehungen vorkommen, insbesondere auch in Pflegeeinrichtungen. Und es war uns klar: Alle Menschen in unserer Einrichtung sollen gewaltfrei leben und arbeiten können. Gewalt soll in unserem Haus überhaupt keinen Platz haben.
TK: "Gewalt" ist ein starkes Wort. Welche Verhaltensweisen gehören im weitesten Sinn dazu?
Jefcoat: Ich habe selbst, als ich noch neu in meinem Beruf war, relativ schnell eine unangenehme Gewalterfahrung gemacht. Ich musste damals eine psychisch erkrankte Bewohnerin mit einem festen Griff am Arm daran hindern, eine stark befahrene Straße allein zu überqueren. Sie konnte das nicht verstehen und hat sich heftig gewehrt. Sie biss mich heftig in den Arm und fügte mir eine tiefe, blutende Wunde zu, die ich später ärztlich versorgen lassen musste. Zusätzlich zur körperlichen Verletzung war ich regelrecht geschockt, hatte aber das Glück, dass sich meine Kolleginnen und Kollegen damals um die Erstversorgung der Wunde gekümmert und mich auch psychisch aufgefangen haben. Es war unglaublich wichtig für mich, über das Erlebte sprechen zu können.
Grundsätzlich müssen wir Pflege- und Betreuungskräfte lernen, mit Konflikten und anderen schwierigen Situationen umzugehen, wie sie beispielsweise zwischen Mitarbeitenden und Bewohnerinnen und Bewohnern entstehen können, bei denen etwa eine demenzielle oder psychische Erkrankung vorliegt. Es ist wichtig, bestimmte Aussagen oder Verhaltensweisen nicht persönlich zu nehmen. Wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner beispielsweise aus einer Angstsituation heraus schimpft oder aggressiv ist, können wir ihr oder ihm unterstellen, dass sie das nicht absichtlich gemacht hat.
Unter den Mitarbeitenden ist die häufigste Form der Gewalt nach meiner Erfahrung die verbale Gewalt, also eine schlechte Kommunikation. Diese Konflikte sind nicht gewollt; sie entstehen durch Zeitdruck und Stress.
TK: Wie haben Sie das Thema Gewaltprävention angepackt?
Jefcoat: Das Programm des langfristig angelegten Gewaltpräventionsprojekts, in dem wir von einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Hochschule Fulda intensiv unterstützt wurden, war eine höchst produktive Zeit. Ende 2019 sind wir mit unserem einjährigen "Think Tank" gestartet und haben zuerst ein bereichsübergreifendes PEKo-Team geschaffen. Es war uns wichtig, aus jedem Bereich unserer Einrichtung - also aus der Pflege, Betreuung, Verwaltung, Hauswirtschaft und Küche - mindestens einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit dabei zu haben.
Das Team war von Beginn an sehr motiviert und der intensive Austausch äußerst befruchtend. Alle Kollegen und Kolleginnen aus unserem PEKo-Team wurden im Laufe der Zeit auch zu Vertrauenspersonen für alle Mitarbeitenden im Haus.
TK: Welche Aufgaben hat sich das PEKo-Team vorgenommen?
Jefcoat: In unseren ersten Arbeitstreffen haben wir unser bestehendes Konzept zur Gewaltprävention auf den Prüfstand gestellt. Es stammte aus dem Jahr 2013 und war 2016 nochmal überarbeitet und aktualisiert worden. Wir haben es nochmals überarbeitet und an die aktuelle Situation in unserem Haus angepasst und schon Anfang 2020 konnten wir unser neues Gewaltfreiheitskonzept allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aushändigen. Zudem haben wir eine Pocket-Version auf allen Etagen ausgehängt. Die Kurzversion erklärt auf einen Blick, dass wir im Anlagenring zu jedweder Form von Gewalt Nein sagen, sei es psychische oder körperliche Gewalt, Vernachlässigung oder Freiheitsentzug etc.
Aus der einjährigen Arbeit am Gewaltpräventionskonzept heraus hat sich die Idee eines Workshops für die Mitarbeitenden im Haus entwickelt. Das Team erarbeitete gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Hochschule Fulda ein tragfähiges Schulungskonzept. So konnten wir relativ schnell den ersten Workshop anbieten, der sehr erfolgreich war.
TK: Wie profitieren die Mitarbeitenden von den Workshops?
Jefcoat: Ein Novum dieser Workshops, das sich sehr bewährt hat, ist für uns: Sie werden von den Mitarbeitenden für die Mitarbeitenden angeboten. Die Hemmschwelle der "Hierarchie" fällt dadurch weg. Alle teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen begegnen sich auf Augenhöhe, was es einfacher macht, offen von persönlichen Erfahrungen zu berichten. In Rollenspielen greifen wir Situationen aus unserem Alltag beispielsweise in der Betreuung, in der Küche oder in der Pflege auf, in denen zwischen Mitarbeitenden und Angehörigen oder zwischen Bewohnern und Personal etwas schiefgelaufen ist. Es ist dann Aufgabe der Gruppe, für die verzwickten Situationen Lösungsansätze zu finden. Das ist praxisnah und kommt bei den Teilnehmenden gut an, weil sie Ähnliches vielleicht sogar schon selbst erlebt haben.
Die Workshops bieten wir allen Mitarbeitenden an und legen sie insbesondere auch denjenigen ans Herz, die neu zu uns in die Einrichtung kommen. Sie sind für die Neuen auch eine Möglichkeit, in vertrauensvoller Atmosphäre weitere Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen. Das verbindet und hilft im Alltag. Es ist mein Eindruck, dass unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Workshops immer wieder "happy" verlassen. Das Feedback ist jedes Mal sehr positiv. Mittlerweile sind wir schon beim sechsten Workshop.
Ein besonderer Glücksfall ist, dass im Sommer 2021 ein Psychologischer Psychotherapeut zu unserem PEKo-Team dazu gestoßen ist.
TK: Was ist seine Rolle im PEKo-Projekt?
Jefcoat: Ursprünglich war er zu uns ins Haus gekommen, um unsere Bewohnerinnen und Bewohner und alle Mitarbeitenden bei psychischen Problemen zu unterstützen. Jetzt unterstützt er auch das PEKo-Projekt, indem er aktiv als Fachmann bei den PEKo-Schulungen über deeskalierende Maßnahmen spricht, Rollenspiele zu gewaltfreier Kommunikation durchführt oder vertrauensbildende Anregungen gibt und vieles mehr. Auch außerhalb der Workshops wird er als Fachmann zu Konfliktsituationen hinzugezogen.
Ein Beispiel: In der Abteilung Küche gab es längere Zeit hindurch zwischenmenschliche Probleme, ausgelöst durch eine Person. Das führte zu großen Spannungen und Aggression innerhalb des gesamten Küchenteams. Der Therapeut wurde gebeten, sich mit diesen Mitarbeitenden an einen Tisch zu setzen, um die Sachlage zu bearbeiten. Sehen Sie es wie eine intensive Therapiestunde, aus der alle Beteiligten aufgeklärt herausgehen. Es werden in nächster Zeit noch weitere Gespräche geführt werden, um eine dauerhafte Verbesserung der Atmosphäre und des Verständnisses untereinander zu erreichen.
TK: Wie reagieren Sie heute, wenn es zu einer Gewalterfahrung kommt?
Jefcoat: Nehmen wir ein Beispiel: Ein nicht akzeptables Verhalten unter den Mitarbeitenden wäre beispielsweise, wenn ein junger Kollege oder eine junge Kollegin zum wiederholten Mal eine Frage stellt und von der zuständigen Fachkraft im Stress des Alltags scharf angegangen wird. Aus dieser Situation können beide Seiten lernen. Solche Fälle behandeln wir gerne beispielhaft im PEKo-Workshop als Rollenspiel. Wir diskutieren alle gemeinsam, wie solch eine Situation anders gehandhabt werden kann und erarbeiten im Gespräch Lösungsansätze bzw. wie es erst gar nicht zu dieser Situation kommt.
Unglaublich wichtig für die Mitarbeitenden ist es zu wissen, dass ihnen ein Ansprechpartner aus dem PEKo-Team zur Verfügung steht.
Egal welche Form von Gewalt stattgefunden hat: Unglaublich wichtig für die Mitarbeitenden ist es zu wissen, dass ihnen ein Ansprechpartner aus dem PEKo-Team zur Verfügung steht, mit dem sie sich über selbst erfahrene, bei anderen beobachtete oder auch über die selbst ausgeübte Gewalt austauschen können. Dieser Austausch mit einer Kollegin oder einem Kollegen ist meist sehr hilfreich. Gegebenenfalls muss ein Vorfall auch weiterverfolgt werden, indem das Gespräch mit allen Beteiligten gesucht wird, oder der Fall muss sogar mit der Führungskraft oder in einer großen Fallbesprechung mit allen Beteiligten behandelt werden, was aber selten vorkommt.
TK: In welchen Fällen wird die Führungskraft eingebunden?
Jefcoat: Vor einiger Zeit hat in unserer Einrichtung ein junger, noch unerfahrener Pfleger im Zimmer einer Bewohnerin den Stecker für die Klingel aus der Steckdose gezogen - ein absolutes Tabu. Was war geschehen? Die Bewohnerin hatte zuvor ohne sichtbaren Anlass alle fünf Minuten geläutet und der Pfleger, der immer wieder zu ihr ins Zimmer kam, hatte in seiner Not schließlich den Stecker gezogen, damit er seine eigentliche Arbeit erledigen konnte.
Richtig wäre gewesen, wenn der junge Mann seine ebenfalls diensthabende Kollegin gerufen und um Entlastung in dieser schwierigen Lage gebeten hätte. Unsere Führungskraft aus der sozialen Betreuung hat nach dem Vorfall ein sehr gutes Gespräch mit ihm geführt, so dass es keiner weiteren Aktion mehr bedurfte. Er hat gelernt, dass er in einer schwierigen Situation nicht alleine auf sich gestellt ist, sondern Unterstützung bekommt, wenn er sich mit seinem Team austauscht.
TK: Gab es im Lauf des PEKo-Projekts auch Hürden, die Sie überwinden mussten?
Jefcoat: Die Kolleginnen und Kollegen werden für die Treffen unseres PEKo-Teams und für die Workshops von ihrer Arbeit freigestellt, was sich in der Umsetzung als nicht ganz einfach erwies. Aber unsere Dienstplanerinnen und Dienstplaner machen es möglich. Das klappt, weil sie vom PEKo-Projekt wirklich überzeugt sind.
TK: Was hat sich durch PEKo in Ihrem Haus noch verändert?
Jefcoat: Seit dem Abschluss des ersten Projektjahres sind wir im Regelbetrieb, in dem wir das Gelernte täglich anwenden und die neuen Strukturen unseres Gewaltfreiheitskonzepts bewahren. Positiv erlebe ich: Es hat sich mittlerweile in unserem Haus herumgesprochen, dass sich die Kolleginnen und Kollegen bei Problemen jedweder Art an das PEKo-Team wenden können.
Auch die bereichsübergreifende Zusammenarbeit hat sich bei uns verbessert, dadurch werden Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Mitarbeitenden in allen Bereichen abgebaut. Es ist mir als PEKo-Kollegin sehr wichtig, dass diese Schwellen zwischen den Bereichen immer flacher werden und sich die Fachkollegen untereinander immer besser vernetzen. Wenn beispielsweise die Kolleginnen und Kollegen aus der Küche keine Hemmschwelle mehr kennen, bei Fragen einen Mitarbeitenden aus der Pflege anzurufen, bin ich zufrieden.
Eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit kann für alle nur positiv sein. Dennoch bleibt PEKo ein Thema, das uns sicherlich noch viele Jahre begleiten wird. Die Sensibilisierung der Mitarbeitenden für akzeptable und nicht akzeptable Verhaltensweisen und die Grenzen dessen, was als Gewalt empfunden wird, ist enorm wichtig und notwendig.
TK: Zuletzt eine Frage an Sie, Herr Heil. Als Sie im August 2021 als neuer Einrichtungsleiter in das Alten- und Pflegeheim Anlagenring gekommen sind, war die Arbeit am PEKo-Projekt bereits in vollem Gange. Was war Ihr erster Eindruck?
Ich bin froh, dass das Thema Gewaltprävention hier im Haus seinen festen Platz hat.
Andreas Heil: Vom PEKo-Projekt wurde mir bereits in den ersten Tagen berichtet und ich bin froh, dass das Thema hier im Haus seinen festen Platz hat. In meiner beruflichen Laufbahn sind mir immer wieder Situationen begegnet, die für alle Beteiligten herausfordernd waren. In der Vergangenheit waren das meist Situationen, die zwischen zwei Menschen entstanden sind.
Andreas Heil
Durch die Corona-Pandemie kommt es nun auch zu einer neuen Art spannungsgeladener Situationen. Deshalb bin ich besonders froh, dass sich alle Kolleginnen und Kollegen hier im Haus mit dem Thema Gewalt offen beschäftigen und durch die Workshops Lösungsstrategien kennenlernen und gemeinsam erarbeiten können.
Derzeit bin ich selbst noch nicht eingebunden, da ich mich noch in der Einarbeitungsphase befinde und erst einmal das Haus und seine Arbeitsbereiche kennenlerne. Frau Jefcoat ist aber bereits dabei, einen Platz für mich in einem der Workshops zu finden. Darauf freue ich mich schon sehr.