TK: Die Ausgaben für Arzneimittel steigen in der gesetzlichen Krankenversicherung seit Jahren stark an. Im Jahr 2021 hat die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nach vorläufigen Zahlen fast 47 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben. Was sind die Gründe für die Steigerungen, welche Arzneimittel sind extrem kostenintensiv?

Tim Steimle: Insbesondere neue, patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber. Wenn wir noch mal auf die Zahlen schauen, entfällt mehr als die Hälfte der Arzneimittel-Ausgaben der GKV, fast 56 Prozent, auf patentgeschützte Präparate, obwohl sie nur etwa elf Prozent des Gesamtverbrauchs ausmachen. Die Preisspirale dreht sich hier sehr schnell nach oben.

Tim Steimle

Tim Steimle (Apotheker und Fachbereitsleiter Arzneimittel der TK) posiert für ein Porträtfoto. Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Apotheker und Leiter des Fachbereichs Arzneimittel der Techniker Krankenkasse

Das bekannteste Beispiel aus der letzten Zeit ist das Gentherapeutikum Zolgensma zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie bei Kindern. Zolgensma wurde als teuerstes Medikament der Welt bekannt, mit einem Preis von fast zwei Millionen Euro. Dazu muss man wissen: Im ersten Jahr können die Hersteller in Deutschland den Preis frei gestalten. Dabei kritisieren wir, dass die Preisgestaltung intransparent ist und sich nicht an tatsächlichen Forschungskosten orientiert. Die extreme Entwicklung der Preise führt dazu, dass die Arzneimittel für die Versichertengemeinschaft nicht mehr finanzierbar sind. Dabei ist natürlich ganz klar, dass wir neue, innovative Medikamente brauchen, und die Industrie diese auch gut bezahlt bekommen soll, aber es muss ein fairer Preis sein.

TK: Nun soll laut Koalitionsvertrag der Ampel künftig der zwischen GKV-Spitzenverband und Herstellern verhandelte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel bereits nach sechs Monaten gezahlt werden statt wie bisher nach zwölf Monaten. Wie bewerten Sie diese Pläne der Ampel?

Steimle: Als Schritt in die richtige Richtung. Noch besser wäre es, wenn der Erstattungsbetrag rückwirkend direkt ab Markteintritt gelten würde. Denn dieser Preis wird ja anhand der Nutzenbewertung verhandelt. Wir brauchen allerdings noch mehr Maßnahmen, kurzfristige wie langfristige, um die Kosten in den Griff zu bekommen.

TK: Welche sind das?

Steimle: Kurzfristig sollte zum Beispiel die Umsatzsteuer auf Arzneimittel gesenkt werden. Für Grundnahrungsmittel und kulturelle Leistungen gilt der ermäßigte Umsatzsteuersatz - für Arzneimittel bisher aber nicht. Außerdem sollten die sogenannten Herstellerabschläge für patentgeschützte Arzneimittel erhöht werden. Allein mit diesen beiden Maßnahmen ergibt sich ein Einsparpotenzial von etwa neun Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung. Langfristig müssen wir zu einem Modell der Preisbildung kommen, das sich an objektiven Kriterien orientiert. Dahingehend muss das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) weiterentwickelt werden.

TK: Eine Sonderstellung kommt den sogenannten Orphan Drugs zu, also neuen Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen. Hier müssen die Hersteller zunächst keinen Zusatznutzen des Arzneimittels nachweisen, zumindest bis zur Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro pro Jahr. Die Stimmen, dass diese Regelung überarbeitet werden muss, werden immer lauter - warum?

Steimle: Weil wir sehen, dass ein beträchtlicher Teil dieser Arzneimittel eben keinen Zusatznutzen für die Patientinnen und Patienten hat. Das hat vor Kurzem auch eine Untersuchung des unabhängigen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bestätigt. Dass bei diesen Medikamenten erst einmal pauschal ein fiktiver Zusatznutzen angenommen wird, ist für die Industrie ein Anreiz, hier viele Arzneimittel auf den Markt zu bringen, aber sie müssen den Versicherten natürlich auch nutzen.

TK: Immer wieder geraten die Rabattverträge, die die Krankenkassen mit Herstellern für sogenannte Generika (patentfreie Arzneimittel) schließen, in die Kritik. Häufig ist dann zu lesen, dass sie der Grund für Lieferengpässe sind. Was ist da dran?

Steimle: Diese Kritik ist aus unserer Sicht nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil sind Rabattverträge ein geeignetes Instrument, um Lieferengpässe zu minimieren. Denn durch diese Verträge erhalten Hersteller Planungssicherheit. Die Liefersicherheit bei TK-Rabattarzneimitteln liegt bei rund 98 Prozent. Das liegt daran, dass wir unsere Rabattverträge dort, wo das möglich ist, im Mehrpartnermodell ausschreiben, also nicht nur auf einen Hersteller setzen, und wir lieferunfähige Firmen konsequent ausschließen. Generell sollte die Politik aber aktiver werden, Lieferengpässen, die eben häufig nicht Rabatt-Arzneimittel betreffen, vorzubeugen. Dazu gehört aus unserer Sicht, die Meldepflicht für pharmazeutische Hersteller zu Lieferunfähigkeiten auszuweiten.

TK: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens schreitet nicht zuletzt wegen der Coronapandemie schnell voran. Wie wird sie Ihrer Meinung nach den Apotheken- und Arzneimittelmarkt verändern? Wie sieht die Apotheke der Zukunft aus?

Steimle: Es ist wichtig, dass das elektronische Rezept schnell in die breite Versorgung kommt, weil es Prozesse vereinfacht, Flexibilität und Sicherheit erhöht und einen echten Mehrwert für Versicherte bieten kann. Wie Viele wissen, verzögert sich die flächendeckende Einführung. Wir als TK fordern, dass das E-Rezept künftig an die Apps der Krankenkassen angebunden wird, die ohnehin schon viele Versicherte nutzen, und nicht eine extra App der gematik mit einem umständlichen Anmeldeprozess notwendig ist. Das ist für Versicherte unnötig kompliziert. Ein weiteres Ziel der Apotheken sollte sein, ihre Beratungsangebote künftig weiter zu digitalisieren, um den Kundinnen und Kunden vermehrt eine digitale Kommunikation zu ermöglichen.