TK: Die Ausgaben für Arzneimittel steigen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Jahren stark an. Im Jahr 2022 hat die GKV etwa 49 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben. Was sind die Gründe für die Steigerungen, welche Arzneimittel sind extrem kostenintensiv?

Tim Steimle: Insbesondere neue, patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber. Die Ausgaben der GKV für diese Medikamente haben sich innerhalb von fünf Jahren fast verdoppelt, von 14,6 Milliarden Euro im Jahr 2018 auf rund 28 Milliarden Euro im Jahr 2022. Dabei machen die patentgeschützten Arzneimittel unseren aktuellen Berechnungen nach nur etwa sechs Prozent des Gesamtverbrauchs aus. Die Zahlen zeigen deutlich: Die Preisspirale  dreht sich hier sehr schnell nach oben.

Neue, patentgeschützte Arzneimittel sind die Kostentreiber.
Tim Steimle

Tim Steimle

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Apotheker und Leiter des Fachbereichs Arzneimittel der Techniker Krankenkasse

Ein bekanntes Beispiel aus der letzten Zeit ist das Gentherapeutikum Zolgensma zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie bei Kindern. Zolgensma wurde als teuerstes Medikament der Welt bekannt, mit einem Preis von fast zwei Millionen Euro. Dazu muss man wissen: Im ersten Jahr können die Hersteller in Deutschland den Preis frei gestalten. Dabei kritisieren wir, dass die Preisgestaltung intransparent ist und sich nicht an tatsächlichen Forschungs- und Produktionskosten orientiert. Die extreme Entwicklung der Preise führt dazu, dass die Arzneimittel für die Versichertengemeinschaft auf Dauer nicht finanzierbar sind. Dabei ist natürlich ganz klar, dass wir neue, innovative Medikamente brauchen, und die Industrie diese auch gut bezahlt bekommen soll, aber es muss ein fairer Preis sein.

Langfristig müssen wir zu einem Modell der Preisbildung kommen, das sich an objektiven Kriterien orientiert.
Tim Steimle

TK: Wie könnte man aus Ihrer Sicht die Ausgabensteigerungen bei Arzneimitteln in den Griff bekommen?

Steimle: Kurzfristig sollte zum Beispiel die Umsatzsteuer auf Arzneimittel gesenkt werden. Für Grundnahrungsmittel und kulturelle Leistungen gilt der ermäßigte Umsatzsteuersatz - für Arzneimittel bisher aber nicht. Langfristig müssen wir zu einem Modell der Preisbildung kommen, das sich an objektiven Kriterien orientiert. Dahingehend muss das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) weiterentwickelt werden.

TK: Immer wieder geraten die Rabattverträge, die die Krankenkassen mit Herstellern für sogenannte Generika (patentfreie Arzneimittel) schließen, in die Kritik. Häufig ist dann zu lesen, dass sie der Grund für Lieferengpässe sind. Was ist da dran?

Die Liefersicherheit bei TK-Rabattarzneimitteln liegt bei rund 98 Prozent.
Tim Steimle

Steimle: Diese Kritik ist aus unserer Sicht nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil sind Rabattverträge ein geeignetes Instrument, um die Liefersicherheit zu erhöhen. Denn durch diese Verträge erhalten Hersteller Planungssicherheit. Die Liefersicherheit bei TK-Rabattarzneimitteln liegt bei rund 98 Prozent. Das liegt daran, dass wir unsere Rabattverträge dort, wo das möglich ist, im Mehrpartnermodell ausschreiben, also nicht nur auf einen Hersteller setzen, und wir lieferunfähige Firmen konsequent ausschließen. Generell sind die Gründe für Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln vielfältig und auch Teil eines globalen Phänomens, auch in anderen stark vernetzten Branchen fehlen beispielsweise Materialien zur Herstellung von Tech-Produkten oder Autos.

TK: Mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) will die Politik das Problem in den Griff zu bekommen.

Steimle: Gut finden wir die Einrichtung eines Frühwarnsystems und die verpflichtende Bevorratung. Nicht sinnvoll finden wir hingegen, die Liefersicherheit mit pauschalen Preiserhöhungen für bestimmte Arzneimittel zu erhöhen. Das wird nicht funktionieren. 

TK: Was würde aus Ihrer Sicht gegen Lieferengpässe bei Arzneimitteln helfen?

Steimle: Wir haben das Thema in unserem " Lieferklima-Report 2023 " genauer unter die Lupe genommen. Zunächst einmal: Produktengpässe haben nur selten Auswirkungen auf die Versorgung. In fast allen Fällen bleibt eine Therapie durch wirkstoffidentische oder zumindest wirkstoffähnliche Arzneimittel möglich. Um Lieferengpässe vorzubeugen, schlagen wir die Weiterentwicklung der Rabattverträge zu Lieferverträgen vor. Anders als bisher sollten Lieferverträge gesetzlich verpflichtend stärkere und durchsetzbare Anforderungen an die Lieferfähigkeit und Lieferkettendiversifikation beinhalten. Dies könnte durch verpflichtende präventive Maßnahmen - wie einer Lagerung von mindestens drei Monatsbedarfen zum Ausgleich kurzfristiger Produktionsausfälle - erreicht werden.

Außerdem können sinnvolle Investitionen in die Diversifikation von Lieferketten begünstigend berücksichtigt werden, indem ein Punktesystem besonders liefertreue Vertragspartner bei der Vergabe bevorzugt. Ebenfalls denkbar sind hierarchische Ausschreibungscluster, welche den Wettbewerb um die beste Lieferqualität fördern. Auf ähnliche Weise lassen sich weitere gesellschaftlich relevante Elemente wie die Förderung von EU-Standorten und Anforderungen an die Nachhaltigkeit der Produktion in Lieferverträge integrieren. In jedem Fall müssen zusätzliche Daten für die Krankenkassen verfügbar gemacht werden, damit diese frühzeitig Auskunft über die Lagerhaltung bei Liefervertragspartnern erhalten.