DECIDE: Beruhigungsmittel bei Demenz reduzieren
Interview aus Bayern
Ungefähr die Hälfte der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz erhalten Beruhigungsmittel, in erster Linie sedierende Antipsychotika. Normalerweise werden mit Antipsychotika Symptome wie Wahn und Halluzinationen behandelt, bei Demenzpatientinnen und Demenzpatienten helfen sie beispielsweise gegen Agitation, Angst, Reizbarkeit, Aggression, Enthemmung und Schlafstörungen.
Gerade wenn Demenzerkrankte Gefahr laufen, sich oder andere aufgrund ihrer Erkrankung zu verletzen oder der Leidensdruck der Betroffenen besonders hoch ist, können Antipsychotika helfen. Leider zeigen Studien, dass Beruhigungsmittel in Pflegeheimen zu häufig eingesetzt und vor allem nicht mehr abgesetzt werden. Dabei haben sie je nach Dosis unangenehme Nebenwirkungen wie Bewegungsstörungen, Schwindel und Müdigkeit. Außerdem erhöhen sie die Sturzgefahr und das Schlaganfallrisiko, verschlechtern die kognitive Leistungsfähigkeit und verringern insgesamt die Lebensqualität.
Um die Verschreibungshäufigkeit von dämpfenden Psychopharmaka bei dementiell erkrankten Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen und ambulant betreuten Wohngemeinschaften in Bayern nachhaltig zu reduzieren, wurde das DECIDE-Projekt ins Leben gerufen. DECIDE steht für Reduktion sedierender Psychopharmaka bei Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz. Das Projekt wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert und 2023 abgeschlossen. Unter der Leitung von Prof. Dr. Janine Diehl-Schmid setzte Dr. Sarah Kohl, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, das Projekt um. Im Interview stellt sie das Projekt und dessen Ergebnisse vor.
TK: An wen richtete sich DECIDE und welches Ziel verfolgte das Projekt?
Dr. Sarah Kohl: DECIDE richtete sich an alle, die mit Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz zu tun haben: Angehörige, Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Amtsrichterinnen und -richter, Apothekerinnen und Apotheker. Die Aufklärung stand im Vordergrund. Und wir wollten die Angst vor dem so genannten De-prescribing - dem schrittweisen Reduzieren bis hin zum Absetzen der Medikamente - nehmen. Denn es gibt Studien, die zeigen, dass das in vielen Fällen ohne Nebenwirkungen möglich ist. Wichtig ist uns, Antipsychotika nicht zu verteufeln. Bei jedem Einzelfall muss man genau schauen, ob Beruhigungsmittel vorübergehend eingesetzt werden sollten oder ob man darauf verzichten kann.
Dr. Sarah Kohl
TK: Wie sind Sie bei dem Projekt vorgegangen?
Dr. Kohl: Wir haben 50 zufällig ausgewählte Pflegeheime in Bayern und zehn Demenz-WGs besucht. Dort habe ich mir die Medikationspläne angeschaut und für einzelne Fälle auf Basis der Pflegeberichte der letzten drei bis vier Monate Empfehlungen gegeben - zum Beispiel, ob und wie man eine Dosis reduzieren oder ein Medikament absetzen könnte. Die letztendliche Entscheidung lag natürlich immer bei der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt.
Außerdem bot ich bei meinen Besuchen eine Fortbildung für das Pflegepersonal an, die immer sehr großen Anklang fand. Oft kamen Pflegekräfte danach zu mir und sagten, sie hätten direkt zwei, drei Bewohnerinnen oder Bewohner im Kopf, bei denen man prüfen könnte, ob ein Ausschleichen oder Absetzen der sedierenden Medikamente möglich wäre; zum Beispiel, weil schon seit einigen Monaten keine auffälligen Verhaltenssymptome mehr beobachtet worden waren.
TK: Inwiefern spielen die Strukturen vor Ort eine Rolle?
Dr. Kohl: Das war zwar kein expliziter Teil unserer Datenerhebung, aber aus den Gesprächen und Erfahrungen vor Ort sowie insgesamt großen Unterschieden zwischen den Einrichtungen wissen wir, dass Personal- und Zeitmangel, ärztliche und pflegerische Ansichten, regionale Praktiken und persönliche Einstellungen beim Thema Psychopharmaka in Pflegeheimen eine Rolle spielen. Der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz, die sedierende Medikamente bekommen, schwankte in unserer Stichprobe stark - zwischen 30 und 70 Prozent, teils sogar innerhalb eines einzelnen Heims von Station zu Station.
Ein großer Faktor kann auch die persönliche Einstellung sein: Was den einen stört, findet der andere noch im Rahmen. Manche greifen schneller zum Medikament, andere reagieren zugewandter, geduldiger. Deshalb ist es so wichtig, aufzuklären - wer die Zusammenhänge kennt und vielleicht selbst schon gute Erfahrungen mit Reduktion gemacht hat, stellt solche Entscheidungen eher infrage. Und am Ende profitieren nicht nur die Betroffenen, sondern auch das ganze Umfeld.
TK: Um was ging es bei der Schulung?
Dr. Kohl: Neben der Aufklärung rund um Beruhigungsmittel ging es auch um den Umgang mit bestimmten Verhaltenssymptomen bei Menschen mit Demenz. Zunächst sollte die Ursache abgeklärt werden: Hat der Bewohner oder die Bewohnerin Schmerzen, kann er sich nicht anders ausdrücken, ist er unter- oder überfordert? Dann sollten die auslösenden Faktoren behandelt werden. Sollte das nicht helfen oder können die auslösenden Faktoren nicht identifiziert werden, sollten weitere nicht medikamentöse Maßnahmen verschrieben werden, wie Ergotherapie, Bewegungstherapie, kognitive Stimulationsverfahren, Entspannungsverfahren. Manchmal kann eine vorübergehende Eins-zu-Eins-Betreuung zu einer Linderung der Verhaltenssymptome führen. Was all diese Maßnahmen eint, ist, dass sie personal- und zeitaufwändig sind. Im Vergleich dazu wirken Medikamente natürlich zeitsparend.
TK: Wie funktioniert das Absetzen oder Ausschleichen der Medikamente?
Dr. Kohl: Es wird empfohlen, bei Menschen mit Demenz regelmäßig zu prüfen, ob ein Absetzen möglich ist - vor allem, wenn die Betroffenen über einen längeren Zeitraum keine auffälligen Verhaltenssymptome mehr gezeigt haben. In solchen Fällen kann man die Dosis schrittweise, zum Beispiel in 25-Prozent-Schritten, reduzieren - idealerweise mit maximal ein bis zwei Reduktionschritten pro Woche. Natürlich gibt es auch berechtigte Sorgen, dass Verhaltenssymptome wie Unruhe oder Aggression wieder auftreten könnten. Aber sollten die Symptome tatsächlich wieder auftreten und mit nicht-medikamentösen Verfahren nicht zu lindern sein, dann können Antipsychotika in möglichst niedriger Dosierung auch wieder angesetzt werden. Wichtig ist, den Prozess engmaschig zu begleiten und individuell zu entscheiden.
TK: Was können Angehörige tun?
Dr. Kohl: Angehörige spielen eine ganz zentrale Rolle. Menschen mit fortgeschrittener Demenz können oft weder selbst entscheiden, ob sie ein Medikament nehmen möchten, noch äußern, ob sie unter Nebenwirkungen leiden. Angehörige sind daher wichtige Ansprechpartner im Austausch mit dem Pflegeheim und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich gut informieren und gegebenenfalls fachlichen Rat einholen - zum Beispiel bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Zudem empfehle ich Angehörigen, den aktuellen Medikamentenplan zu kennen und im Gespräch mit dem Pflegeheim oder der behandelnden Ärztin bzw. dem Arzt ruhig nachzufragen, wenn ihnen etwas auffällt oder sie unsicher sind.
TK: Welche Ergebnisse konnte das DECIDE-Projekt liefern?
Dr. Kohl: Wir konnten zeigen, dass 50 Prozent der rund 2.000 Menschen mit Demenz in den teilnehmenden Pflegeheimen und ambulant betreuten Wohngemeinschaften sedierende Psychopharmaka erhielten - also Medikamente wie Antipsychotika, Benzodiazepine oder Z-Substanzen. Gut ein Viertel dieser Menschen wurde mit einer Kombination aus zwei, drei oder sogar vier sedierenden Psychopharmaka behandelt. Die vergleichsweise hohe Verschreibungshäufigkeit könnte auch mit den besonderen Belastungen während der Corona-Pandemie zusammenhängen, da unsere Erhebung genau in diesen Zeitraum fiel.
In etwa 40 Prozent der Fälle haben wir eine Reduktion oder ein Ausschleichen der fest angesetzten sedierenden Medikation empfohlen - zumeist, weil über längere Zeit keine Verhaltenssymptome dokumentiert waren, seltener aufgrund des Verdachts auf Nebenwirkungen.
Positiv ist, dass in den von uns besuchten Einrichtungen vor allem Antipsychotika wie Risperidon, Quetiapin, Pipamperon und Melperon eingesetzt wurden - diese sind im Vergleich zu anderen Wirkstoffen wie Haloperidol, Levopromazin oder Olanzapin besser verträglich und verursachen weniger Nebenwirkungen. Das spricht für einen insgesamt umsichtigen Einsatz der Präparate. Das eigentliche Problem ist also weniger die Wahl der Substanz, sondern die Tatsache, dass sedierende Medikamente bei Demenz häufig über lange Zeit hinweg verordnet werden - oft ohne regelmäßige Überprüfung, ob die ursprüngliche Indikation überhaupt noch besteht. Ein Problem das verschärft wird, wenn zusätzlich noch mehrere andere Medikamente eingenommen werden. Dann steigt das Risiko für Wechselwirkungen deutlich - und damit auch für unerwünschte Nebenwirkungen.
TK: Welches Fazit würden Sie für das Projekt DECIDE ziehen?
Dr. Kohl: Das Projekt hat deutlich gemacht, dass ein großer Teil der Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen sedierende Psychopharmaka erhält - häufig dauerhaft und ohne regelmäßige Überprüfung der Indikation. Angesichts der Tatsache, dass wir in den meisten Fällen unsere Empfehlung zum Ausschleichen oder Absetzen der sedierenden Medikation ausgesprochen haben, weil über mindestens drei Monate keine Verhaltenssymptome mehr dokumentiert waren, legt nahe, dass die ursprüngliche Indikation möglicherweise gar nicht mehr gegeben war - es aber einfach nicht aufgefallen ist.
Angesichts von Personalmangel und Zeitdruck könnte es hilfreich sein, wenn Pflegeeinrichtungen hier durch digitale Lösungen unterstützt würden - zum Beispiel durch eine monatliche automatische Erinnerung, zu prüfen, ob eine sedierende Medikation noch notwendig ist. Solche Systeme könnten dabei helfen, die Entscheidung zum Deprescribing systematischer und verlässlicher zu gestalten.