TK: Frau Professorin Boll, in Ihre Forschungen binden Sie stark die Bereiche Technologie und Gesundheit der nächsten Generation ein. So bringen Sie beispielsweise die Themenfelder Pflege und Technik zusammen, um in speziellen Praxiszentren neue Technologien im pflegerischen Alltag zu erproben. Mit welchen Innovationen beschäftigen Sie sich in diesem Bereich gerade?

Prof. Susanne Boll: Deutschland steht vor einer großen Herausforderung im Pflegebereich, die dem demografischen Wandel geschuldet ist: In den nächsten 30 Jahren wird der Anteil pflegebedürftiger Menschen um fast das Doppelte ansteigen. Gleichzeitig stagniert die Anzahl ausgebildeter Fachkräfte für die Pflege sowie die Anzahl der Ärztinnen und Ärzten in der Pflege. Wenn auch technologische Innovationen in den letzten Jahren entstanden sind, gelingt die Integration in den Alltag von Pflegenden und Gepflegten oft nicht.

Prof. Susanne Boll

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Professorin für Medieninformatik und Multimedia-Systeme an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Im Rahmen des BMBF geförderten Clusters "Zukunft der Pflege" werden die für das Gelingen von Technologien im pflegerischen Alltag soziale und technische Innovationen in der Pflege zusammengebracht: Forschung, Wirtschaft und Pflegepraxis arbeiten gemeinsam mit Anwender:innen an neuen Produkten, die den Pflegealltag in Deutschland erleichtern und verbessern sollen. Im in Deutschland einmaligen Pflegeinnovationszentrum (PIZ) erforschen Ingenieurinnen und Ingenieure gemeinsam mit Pflegewissenschaftlern neue Technologien, wie z.B. Virtuelle Realität, erweiterte Realität und Robotik: Wie können robotische Systeme die Pflegekräfte entlasten und die Autonomie der Gepflegten steigern? Wie können anspruchsvolle pflegerische Aufgaben in virtueller Realität nachgestellt und geübt werden? Wie kann erweiterte Realität wichtige Information vermitteln, ohne von der pflegerischen Aufgabe und der Kommunikation mit den Gepflegten abzulenken? Das sind Themenfelder mit dem wir Pflege und Technik zusammenbringen. Zusammen mit Prof. Dr.-Ing. Andreas Hein und Dr.-Ing. Tobias Krahn koordiniere ich sowohl das Cluster Zukunft der Pflege als auch das Pflegeinnovationszentrum. In den vier Pflegepraxiszentren (PPZ) in Freiburg, Nürnberg, Berlin und Hannover, werden neue Pflegetechnologien im pflegerischen Alltag erprobt werden. Die vier Pflegepraxiszentren überprüfen die Praxistauglichkeit unterschiedlicher Technologien in klinischen, stationären und ambulanten Pflegebereichen.

TK: Für Menschen mit einer psychischen Erkrankung entwickeln Sie derzeit Sensoren, die am Körper des Patienten angebracht werden, um Informationen für spezielle therapeutische Übungen zu erhalten. Wie stellen wir uns das vor?

Prof. Boll: Psychische Verhaltensstörungen wie ADHS gehen häufig mit reduzierter Lebensqualität der Betroffenen durch Gefühlsausbrüche, Vergesslichkeit, Beziehungs- oder auch Arbeitsstörungen einher. Die Wahrnehmung der eigenen Symptome und das Anwenden spezifischer Behandlungsstrategien stellt sich dabei, insbesondere bei gestörtem Selbstmanagement, erschwert dar. Erfolge in der Therapie verspricht ein multimodaler Ansatz mit individualisierten Lösungsansätzen zum Selbstmanagement. Eine medizintechnische Erfassung der Symptome sowie eine interaktive Unterstützung beim Erlernen von Strategien für den eigenen Umgang mit den Symptomen kann den Therapieprozess der Patienten:innen hierbei unterstützen. Durch am Körper getragene Sensoren können zum Beispiel Vitalparameter und Bewegungen gemessen und direkt ausgewertet werden. Eine Rückmeldung mit entsprechenden Handlungsempfehlungen kann dann beispielsweise über das Smartphone direkt den Patienten:innen empfangen werden. Ziel ist es die Selbstwahrnehmung der Symptome, die emotionale Selbstregulation und das Selbstmanagement zu stärken. Im Rahmen des Projektes AwareMe wurden spezifische physiologische Marker untersucht, die eine aufkommende Symptomatik anzeigen und deren medizintechnische Erkennung im Alltag ermöglicht und das Selbstmanagement mit psycho-edukativen Inhalten in der interaktiven AwareMe-App unterstützt.

TK: In einem weiteren Forschungsprojekt beschäftigen Sie sich mit der Bewegungsförderung bei Menschen ab 65 Jahren, um sie vor Gebrechlichkeit zu schützen. Welche digitalen Technologien setzen Sie dafür ein?

Prof. Boll: Ein wichtiger Baustein des gesunden Alterns ist die körperliche Aktivität. In der Vergangenheit wurden bereits zahlreiche Gesundheitskampagnen durchgeführt, die zum Ziel hatten, zu mehr Bewegung zu motivieren. Es fehlt jedoch weiterhin an geeigneten Interventionsmaßnahmen, die auf die Charakteristik der Zielgruppe ältere Menschen hin konzipiert wurden. Ein relativ einfacher Satz von Übungen, der leicht in den Alltag und die Routine integriert werden kann, liefert bereits gute gesundheitliche Ergebnisse und eignet sich daher als niedrigschwelliger Einstieg in die körperliche Aktivität für noch nicht aktive Personen. Die Durchführung dieser Übungen kann jedoch im Alltag leicht vergessen werden. Im Rahmen des Projektes AEQUIPA entwickeln wir intelligente Erinnerungsfunktionen, die günstige Momente für Übungen erkennen und die Person im Haushalt daran erinnert, sie auszuführen. Dazu haben wir eine vergleichende Studie in 19 Haushalten über einen Zeitraum von drei Monaten durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die technologiegestützten Erinnerungshilfen die regelmäßige Einhaltung der positiv unterstützen können.

TK: Im Zukunftslabor Gesellschaft und Arbeit engagieren Sie sich hinsichtlich neuer Technologieansätze für virtuelle Arbeitsumgebungen. Welche Potenziale bietet beispielsweise 'Virtual Reality' für die Arbeitswelt, insbesondere im Gesundheitswesen?

Prof. Boll: Das Zukunftslabor Gesellschaft und Arbeit untersucht Einsatzmöglichkeiten sowie Auswirkungen digitaler Technologien auf die Arbeitswelt und ermittelt den rechtlichen Rahmen für eine erfolgreiche Digitalisierung im Berufsleben. Wichtigstes Element für eine erfolgreiche Digitalisierung der Arbeitswelt sind die Menschen. Nur wenn sie die digitalen Technologien akzeptieren und einsetzen wollen, können umfangreiche Transformationsprozesse im Berufsleben stattfinden. Der virtuellen Realität kommt dabei eine immer größere Aufmerksamkeit zu. Diese Technologie, mit der Räume und Situation virtuell erlebbar werden, bietet im Gesundheitswesen eine Vielzahl an wichtigen Nutzungsmöglichkeiten, von der Prävention über die Ausbildung bis zur Therapie, Rehabilitation und Pflege. Konkret können beispielsweise in der Pflegeausbildung Situationen virtuell erlebbar gemacht werden, denen man sonst erst viel später in der pflegerischen Arbeit gegenübersteht. Damit können schon früh ungewohnte und auch kritische Situationen in der Pflege bereits in der Pflegeausbildung trainiert und im Team gelöst werden.

TK: In Ihren Forschungsprojekten stellen Sie den Menschen in den Mittelpunkt der Digitalisierung. Wie gelingt Ihnen die Transformation? Insbesondere vor dem Hintergrund der Akzeptanz und Nutzungsbereitschaft der Menschen?

Prof. Boll: In unseren Forschungen wird großer Wert auf die Partizipation der zukünftigen Nutzer:innen in die Entwicklung neuer digitaler Technologien gelegt. Entlang des Human Centered Design Prozesses werden die Menschen frühzeitig in die Entwicklung eingebunden. Für neue Systeme werden beispielsweise Teilnehmer:innen an ihrem Arbeitsplatz beobachtet, um Bedarfe zu ermitteln. Methoden wie Interviews oder Fokusgruppen geben Einblicke in den Nutzungskontext und die Anforderungen. Unsere Prototypen werden regelmäßig von Nutzer:innen evaluiert und kontinuierlich verbessert. So wird sichergestellt, dass ein effektiver Nutzen entsteht und die neuen Technologien von denjenigen, die sie später einsetzen, akzeptiert und geschätzt werden.

TK: Vielen Dank!

Zur Person

Prof. Dr. Susanne Boll-Westermann ist Professorin für Medieninformatik und Multimedia-Systeme an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Mitglied im Vorstand des Oldenburger Instituts für Informatik (OFFIS). Sie forscht und lehrt im Themengebiet der Interaktion von Mensch und Technik im Zeitalter der Digitalisierung und Automatisierung bei der bei der Mensch und Maschine gemeinsam Aufgaben im Team übernehmen.

Sie leitet eine Vielzahl an nationalen und internationalen Forschungsprojekten im Gebiet der Mensch-Technik Interaktion. Als Sprecherin verantwortet sie das Competence Center Human Machine am OFFIS, das die Kompetenzen im OFFIS zur Gestaltung, Entwicklung, Analyse und Evaluation neuartiger Mensch-Maschine Schnittstellen bündelt. Sie ist aktives Mitglied der GI, ACM, IEEE und von acatech.