Digitale Innovationen: Nur wenn Menschen im Zentrum der Digitalisierung stehen
Interview aus Niedersachsen
Der Schritt in eine menschenzentrierte digitale Gesundheitsversorgung gelingt nur mit einer klaren Strategie, festem Wertegerüst, fundierten Daten und einem offenen Mindset, so Professorin Kristina Lemmer. Im Interview spricht die Wissenschaftlerin über den gezielten Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen und warum die Technik dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.
TK: Frau Professorin Lemmer, der demografische Wandel, Digitalisierung und der gezielte Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) stellen Krankenkassen - sowohl intern für Mitarbeitende als auch extern für Versicherte und Akteure im Gesundheitswesen - vor tiefgreifende Veränderungen; aber auch vor große Chancen. Dabei gilt: Die Technik muss dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Welche zentralen Punkte müssen bei diesem herausfordernden Dreiklang beachtet werden? Wo gibt es aus Forschungssicht Stolpersteine und wie könnte eine menschzentrierte Digitalisierung konkret aussehen?
Prof. Dr. Kristina Lemmer: Drei wesentliche Punkte sind dabei entscheidend: Zum einen ein digitales Transformationsmindset, denn die Technologie folgt der Haltung und braucht Raum für Reflexion, Beteiligung und Experimentierfreude - insbesondere im öffentlichen Sektor. Zum anderen Interdisziplinarität und Kollaboration. Gerade im Gesundheitswesen muss der Transfer zwischen medizinischem Fachwissen, Verwaltung und Technologie kontinuierlich moderiert werden; idealerweise mit Praxispartnern und forschendem Lernen. Und schlussendlich Stammdatenqualität und Vertrauen. Wenn wir von Digital Health sprechen, ist die Verlässlichkeit von Daten ein absoluter Hygienefaktor. Eine strukturierte Stammdatenpflege - insbesondere im Zusammenspiel zwischen Kassen, Leistungserbringern und Behörden - ist die unverzichtbare Grundlage für vernetzte Versorgung.
Gerade im Gesundheitswesen muss der Transfer zwischen medizinischem Fachwissen, Verwaltung und Technologie kontinuierlich moderiert werden.
Aus Forschungssicht stellen wir beim oben genannten Dreiklang aber auch Stolpersteine fest. Wir beobachten häufig, dass Digitalisierungsprojekte zwar technisch ambitioniert starten, aber ohne strategische und kulturelle Verankerung verlaufen. KI-Systeme werden beispielsweise implementiert, ohne dass Mitarbeitende die Grundlogik verstehen - was Ängste schürt, statt Nutzen zu stiften. Menschzentrierte Digitalisierung bedeutet deshalb, nicht nur Prozesse zu automatisieren, sondern den Menschen gezielt mitzunehmen - durch Qualifizierung, transparente Kommunikation und partizipative Gestaltung.
Prof. Dr. Kristina Lemmer
TK: "Die Veränderung beginnt in den Köpfen", so Ihr Zitat beim Talk in der Kommune Lüneburg. Welche Rolle spielt das Mindset bei der digitalen Transformation und wie können Voraussetzungen geschaffen werden, dass Menschen offener und aufgeschlossener für digitale Anwendungen bzw. Lösungen werden? Können Sie praktische Beispiele nennen?
Prof. Dr. Lemmer: Ja, in der Tat: "Die Veränderung beginnt in den Köpfen" - das ist wahrlich keine Plattitüde, sondern empirisch belegt. In unserer Forschung zu digitalen Mindset-Transformationsprozessen haben wir gesehen: Der Erfolg digitaler Innovationen hängt nicht vorrangig von Technologie oder Budget ab, sondern von der inneren Haltung der Menschen, die damit arbeiten. Die Offenheit gegenüber Neuem ist dabei ein immenser Faktor!
Daher ist es wichtig, entsprechende Voraussetzungen zu schaffen. Veränderung gelingt besser, wenn Menschen sich in Geschichten wiederfinden. Deshalb arbeiten wir in der Forschung zum Beispiel mit Storytelling-Methoden, um den Nutzen digitaler Tools erfahrbar zu machen. Ein oft unterschätzter Aspekt ist auch, dass die Digitalisierung Unsicherheit auslöst. In unseren Workshops arbeiten wir daher gezielt mit Emotionen und zeigen auf, wie Frustration, Neugier oder Ängste als Hebel genutzt werden können, um Haltung zu reflektieren und in lernförderliche Bahnen zu lenken.
Veränderung gelingt besser, wenn Menschen sich in Geschichten wiederfinden.
TK: Sie sind im Vorstand von FQS, der Forschungsgemeinschaft Qualität e.V, da Ihnen das Thema Qualitätsmanagement am Herzen liegt. Insbesondere die Datenqualität ist ein integraler Bestandteil Ihrer Forschungsarbeit. Es ist nicht nur ein technischer Faktor, sondern essentiell für die Akzeptanz und das Vertrauen in digitale Systeme. Die Qualität der Daten ist entscheidend für den Erfolg. Für den Bereich "Digital Health": Welche Rahmenbedingungen braucht es für große Datenmengen wie KI und Big Data, zum Beispiel für personalisierte Medizin?
Prof. Dr. Lemmer: Datenqualität ist kein rein technisches Thema - sie ist Ausdruck von Verantwortung und Professionalität. Besonders im Gesundheitswesen gilt: Wo Daten über Leben und Gesundheit entscheiden, muss höchste Sorgfalt walten. Für den erfolgreichen Einsatz von KI in der personalisierten Medizin braucht es deshalb drei zentrale Voraussetzungen. Grundvoraussetzung dabei sind einheitliche Metadatenstandards, nachvollziehbare Datenflüsse und ein eindeutiges Stammdatenmanagement. Alle Beteiligten - von der Krankenkasse bis zur Arztpraxis - müssen eingebunden sein.
Elementar sind auch Transparenz und Erklärbarkeit. Nur wenn KI-gestützte Entscheidungen nachvollziehbar sind, entsteht Vertrauen. Das gilt sowohl für die Versicherten als auch für Akteure im System. Erklärbare Künstliche Intelligenz (XAI) ist daher nicht Kür, sondern Pflicht.
Die dritte Voraussetzung ist, dass sich Qualitätskultur etablieren muss. Das bedeutet, Datenqualität muss integraler Bestandteil jeder digitalen Strategie sein, nicht ein Add-on. Fehlerquellen müssen benannt, gemeldet und behoben werden dürfen - ohne Angst vor Sanktionen.
Digitalisierung im Gesundheitswesen ist keine Technologie - sondern ein Gesellschaftsprojekt.
Digitalisierung im Gesundheitswesen ist keine Technologie - sondern ein Gesellschaftsprojekt.
Nur mit einer klaren Strategie, bestehend aus einem festen Wertegerüst, fundierten Daten und einem offenen Mindset gelingt uns der Schritt in eine wirklich menschenzentrierte digitale Gesundheitsversorgung.
Zur Person
Prof. Dr. Kristina Lemmer ist Inhaberin der Professur für das Fachgebiet "Verwaltungswissenschaft, insbesondere Organisation, Verwaltungsinformatik und E-Government" an der Hochschule Bremen. Zuvor war Sie Inhaberin der Professur für Verwaltungsinformatik an der Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit am Campus Kassel. Sie ist Gastwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Leuphana Universität Lüneburg und dem Niedersächsischen Studieninstitut in Hannover. Vorher hat sie als Chief Digital Officer beim Landkreis Lüneburg gearbeitet und war als Gastwissenschaftlerin an der Victoria University in Wellington, Neuseeland. Nach ihrem Master in Controlling und Risikomanagement und Zwischenstationen an der Colorado State University (USA) und University of Georgia (USA) hat Sie im Themenbereich Strategien der digitalen Transformation mit Spezialisierung auf der Nutzung von Informationstechnologien im privaten und beruflichen Kontext, sowie der Entwicklung von Digitalisierungsstrategien auf organisationaler Ebene promoviert. Zu beispielhaften Erfolgsprojekten von ihr gehören die Koordination der Forschungsprojekte "Digitalisierungsstrategien für Kommunen" im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen, sowie die wissenschaftliche Begleitung des Projekts "Digitale Modellregionen Nordrhein-Westfalen", und die "Gemeinsamen Initiative Digitalisierung Siegen-Wittgenstein", die erste europaweite Initiative, bei der sich ein Kreis mit seinen Städten und Gemeinden zusammen getan hat, um Digitalisierung gemeinsam voran zu bringen und DIGITALIS im Landkreis Lüneburg.