Wie schnell muss der Patient von wem versorgt werden?
Artikel aus Thüringen
Um den Anruferinnen und Anrufern bei der 116117 bedarfsorientierte Informationen geben zu können und an die richtigen Stellen weiterzuleiten, nutzt die Vermittlungszentrale für den ärztlichen Bereitschaftsdienst der KVT digitalgestützte medizinische Ersteinschätzung. Sie haben uns erklärt, wie das in der Praxis funktioniert.

"Wie stark sind Ihre Bauchschmerzen auf einer Skala von eins bis zehn?" "Neun", sagt der Anrufer. "Stellen Sie sich den stärksten Schmerz vor, den Sie sich überhaupt vorstellen können. Das ist die Zehn. Die Eins ist ein leichter, dennoch gut wahrnehmbarer Schmerz. Wie stark sind die Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn," fragt die Frau am anderen Ende mit Headset auf dem Kopf, auf ihren Bildschirm schauend zurück. "Eine drei bis vier dann wahrscheinlich eher", berichtigt der Anrufer. Die Frau klickt die Antwort auf ihrem Bildschirm an. Weitere Fragen und Antwortmöglichkeiten erscheinen.
Digitalgestützte medizinische Ersteinschätzung bei der 116117
Der Versicherte hat bei der 116117 angerufen. Rund 316.000-mal taten das Menschen aus Thüringen im vergangenen Jahr. Der Mann im Beispiel oben sprach mit einer sogenannten medizinischen Agentin der Vermittlungszentrale für den ärztlichen Bereitschaftsdienst für die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen (KVT).
Die Vermittlungszentrale nutzt seit 2019 die Strukturierte medizinische Ersteinschätzung Deutschland, kurz SmED, in der telefonischen Abfrage. Das webbasierte Ersteinschätzungstool wurde als Innovationsfondsprojekt erprobt und evaluiert.
In welcher Zeit muss wie versorgt werden?
Wenn Hilfesuchende mit Beschwerden anrufen, unterstützt die Anwendung dabei einzuschätzen, in welcher Zeit die Anruferin oder der Anrufer wie versorgt werden sollte. Benötigt er oder sie eine Auskunft über die nächstgelegene Bereitschaftsdienstpraxis und deren Sprechzeiten oder den nächsten fachärztliche Bereitschaftsdienst? Oder ist ein Hausbesuch durch einen Arzt erforderlich? Seit 2022 gibt es auch die Möglichkeit, per Videokonferenz oder Telefon mit einem Arzt oder einer Ärztin im Bereitschaftsdienst Thüringen zu sprechen. Drei bis vier Prozent der Anruferinnen oder Anrufer werden als Notfall eingestuft und an die Rettungsleitstelle vermittelt.
"Die strukturierte Abfrage sorgt dafür, dass keine relevanten Fragen vergessen werden. Eine virale Meningitis zum Beispiel könnte man leicht mit harmlosen Infekten verwechseln. Erkrankte haben typischerweise Fieber, Kopfschmerzen und einen steifen Nacken. Das Kinn auf die Brust zu legen allerdings, ist bei der Meningitis häufig unmöglich. Ob das geht, erfährt man aber nur durch Fragen", erklärt Markus Vogel, der seit der Gründung der KVT-Notdienst Service gGmbH 2015 deren Geschäftsführer ist. "Mit der digital gestützten, standardisierten Abfrage wird nichts vergessen. Es ist grundsätzlich auch möglich, diese Abfrage am Tresen der Bereitschaftspraxis einzusetzen."
Markus Vogel
Medizinprodukt statt Suchmaschine
Die Vermittlungszentrale wird bei ihrer Ersteinschätzung von einem Medizinprodukt unterstützt. Unter anderem das unterscheidet Anwendungen wie SmED grundlegend von klassischen Suchmaschinen, in die immer noch viele Menschen ihre Beschwerden eintippen, wenn der Arzt ihres Vertrauens keine Sprechzeit hat. Dass das Prinzip Schwarmintelligenz dort nicht funktioniert , merken viele recht schnell, wenn man sich nach so ziemlich jeder Eingabe am Rande des Grabes fühlt.
Wenn schon das Internet befragt wird, empfiehlt sich das Patientennavi der 116117, das ebenfalls auf SmED basiert. Auch dort werden systematisch Symptome, Krankheitsbilder, Vorerkrankungen und Risikofaktoren, sogenannte "Red Flags", abgefragt.
"Im Zweifel gehen die medizinischen Agentinnen und Agenten am Telefon und auch die Ergebnisse des Patientennavis auf Nummer sicher", sagt Jens Pauly, Abteilungsleiter der Vermittlungszentrale und IT-Leiter. "Unsere Kolleginnen und Kollegen sind alle medizinisch ausgebildet und begleiten die Anruferinnen und Anrufer am Telefon. Wenn zum Beispiel jemand keuchend seine Schmerzen als vier auf der Skala einschätzt, wird man hellhörig. Im Zusammenspiel werden die Vorteile beider Seiten genutzt: Menschen sind empathisch, haben Erfahrungswissen und die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Das Digitale bietet die strukturierte, objektive Abfrage."
Die digital gestützte Ersteinschätzung ist dabei immer ein Wegweiser. Es werden grundsätzlich keine Therapieempfehlung gegeben. "Auch wenn es einem vielleicht manchmal auf der Zunge liegt", sagt Vogel. "Diagnosen jeglicher Art sind nicht Aufgabe der Vermittlungszentrale. Das hat auch haftungsrechtliche Gründe." Bei einigen Indikationen, zum Beispiel Infekten oder Fragen zu Medikationen, bietet der Ärztliche Bereitschaftsdienst in Thüringen telemedizinische Angebote.
Jens Pauly
Video und Telefon ersparen unnötige Arzt- und Krankenhausbesuche
Die Video- und Telefonkonsultationen beim Bereitschaftsarzt werden besonders niederschwellig und beratend genutzt. "Für Fragen wie ‚Kann ich meinem Kleinkind mit Fieber einfach noch ein Zäpfchen geben?‘ oder wenn Personal aus dem Pflegeheim wissen möchte, ob bei Blutzuckerproblemen einer Bewohnerin ein zweites Mal gespritzt werden darf, muss niemand sich in eine volle Praxis setzen oder ein Arzt ins Pflegeheim fahren", sagt Pauly.
Für Pflegekräfte im Heim sei das telemedizinische Angebot des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Thüringen eine große Erleichterung, wenn sie sich zu Fragen zur Medikation oder Vitalwerten ärztlich rückversichern wollen und müssen. Für die Bewohnerinnen und Bewohner spart es unnötige Belastung und ärztliche Ressourcen werden ebenfalls gespart.
Ersteinschätzung
Gute Versorgung zählt
"Nach einer Video- oder Telefonsprechstunde bitten wir die Versicherten seit einiger Zeit, uns in einer Befragung ihre Meinung zu sagen", erzählt Pauly. "Ein sehr großer Teil ist zufrieden mit dieser Art des Kontaktes. Sie hatten ein medizinisches Problem und bekamen dafür eine Lösung. Die Menschen möchten gar nicht in eine Bereitschaftspraxis gehen, wenn es nicht nötig ist, oder gar einen Arzt geschickt bekommen. Wer ein gesundheitliches Problem hat, möchte gut versorgt werden, nur das zählt. Auffällig ist übrigens, dass die meisten das Telefon der Videokonferenz vorziehen."
Mit ihrem telemedizinischen Angebot ist die KV in Thüringen bundesweit eine der Vorreiterinnen. "Es hat auch etwas gedauert, bis die Menschen die Möglichkeit angenommen haben. 2022, als wir mit dem VideoDoc Projekt gestartet sind, gab es 690 telemedizinische Konsultationen. Vergangenes Jahr waren es über 7.000", sagt Vogel.