"Wir müssen den telemedizinischen Ansatz noch weiter fassen"
Interview aus Baden-Württemberg
Die Mitglieder der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) haben im Dezember 2022 ihren Vorstand neu besetzt. Seit über einem halben Jahr sind nun Dr. Karsten Braun und Dr. Doris Reinhardt im Amt. Eine erste Bilanz im Interview.
TK: Herr Dr. Braun, Frau Dr. Reinhardt, wie fällt Ihre erste Bilanz nach einem halben Jahr aus? Was hat Sie positiv bzw. negativ überrascht?
Dr. Karsten Braun: Natürlich ist das eine deutliche Umstellung von der Praxis in das Vorstandsbüro in der Bezirksdirektion Stuttgart. Das geht ja weit über einen reinen Vorstandswechsel hinaus. In diesem Jahr beginnt eine neue Amtsperiode in der KV-Welt.
Das bedeutet, dass es eine neu zusammengesetzte Vertreterversammlung gibt, dass es Veränderungen im Vorstand der KBV gibt, sich dort die Vertreterversammlung neu formiert hat usw. Positiv aufgefallen ist mir die Arbeitsatmosphäre bei uns im Haus und die Art und Weise, wie wir von der Verwaltung eingearbeitet wurden. Negativ - hm, würde ich sagen, zu erfahren, mit welch bürokratischen Hemmnissen und Regelungen eine öffentliche Verwaltung heute umgehen muss und wie kompliziert viele Prozesse im Gesundheitswesen sind.
Dr. Doris Reinhardt: So gerne ich Hausärztin in meiner Gemeinschaftspraxis war, umso mehr freue ich mich über die neue Tätigkeit. Ich finde es unglaublich spannend, sich mit all den Themen zu beschäftigen, die in meinem Ressort anstehen. Gerade die Sicherstellung der Versorgung und der Notfalldienst sind aktuell absolute Top-Themen, die mich umtreiben.
Unsere Vorgänger haben uns ein wohl bestelltes und organisiertes Haus hinterlassen. Ich habe als positiv die vielen Gespräche auf allen Ebenen empfunden. Geärgert hat mich, dass der ambulante Sektor - und übrigens auch die Krankenkassen - in viele Diskussionen nicht miteinbezogen werden. Ich denke da gerade an die aktuellen Reformgesetze des Bundes.
TK: Ein zentrales Thema ist die Sicherstellung der ambulanten Versorgung auch in ländlichen Regionen. Digitalisierung ist dabei ein wichtiges Stichwort. Von Ihren Vorgängern wurde das CUB-Modell mit telemedizinischen Callcentern ins Spiel gebracht. Sie selbst haben sich für mehr Homeoffice-Möglichkeiten bei digital erbringbaren Leistungen (u.a. Videosprechstunde) ausgesprochen. Welche Voraussetzungen brauchen Sie dafür und wie ist hier der aktuelle Stand?
Dr. Reinhardt: Der Landesausschuss hat im Oktober 2022 zum ersten Mal einen Planungsbezirk als unterversorgt eingestuft. Wir sind als Vorstand also sofort intensiv in die aktuelle Problematik involviert gewesen. Parallel dazu haben viele Kinderarztpraxen "die weiße Flagge gehisst". Wir bekommen täglich Rückmeldungen von Bürgermeistern, Patienten und Landräten, wie es mit der Versorgung weitergeht. Wir werden kurzfristig nicht mehr Ärztinnen und Ärzte an Bord bekommen. Wo sollen die auch herkommen? Also brauchen wir andere Lösungen. Eine davon ist der Ausbau des Potenzials von telemedizinischen Angeboten.
Mit docdirekt haben wir hier bereits vorgelegt, auch dank der guten Zusammenarbeit mit den Krankenkassen. Wir starten jetzt eine große Werbekampagne, weil wir glauben, dass docdirekt ein guter Ansatz ist. Aber wir wollen hier noch mehr machen und bereiten das im Haus vor. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass der Deutsche Ärztetag Erleichterungen geschaffen hat, dass beispielsweise in der Berufsordnung festgelegt wird, dass Vertragsärztinnen und -ärzte auch außerhalb der Praxisräume telemedizinisch tätig sein dürfen.
Dr. Braun: Ich bin mir mit meiner Vorstandskollegin einig, dass wir den telemedizinischen Ansatz noch weiter fassen müssen, als das bisher angedacht war. Aus unserer Sicht brauchen wir ein System, das Patientinnen und Patienten eine medizinische Ersteinschätzung ermöglicht und sie dann in die richtige Versorgungebene bringt. Damit werden die Menschen heute alleine gelassen. Die Folge sind zahllose Fehlsteuerungen, etwa indem die Patientinnen und Patienten in die Notaufnahmen gehen, die Fachärzte ansteuern, obwohl sie dort gar nicht hingehören usw. Das könnte besser organisiert werden. Aus meiner Sicht besteht hierbei in der voranschreitenden Technik und in KI-Anwendungen ein großes Potenzial.
TK: Insgesamt wird die gesundheitspolitische Diskussion dominiert von der Krankenhausreform. Die Ergebnisse werden sich auch auf die ambulante Versorgung auswirken. Wie bewerten Sie die bisherige Diskussion?
Dr. Reinhardt: Ich glaube, dass es unstrittig ist, dass Reformbedarf in der Krankenhauslandschaft besteht. Und es ist schön, wenn der Bund und die Länder sich geeinigt haben. Dabei wird aber vergessen, dass es noch weitere Player gibt. Wenn bisherige Krankenhäuser in ambulant-stationäre Einrichtungen umgewandelt werden sollen, dann hat das weitreichende Auswirkungen auf die Praxen. Weder die KVen, noch die kommunale Ebene sind hier aber bisher einbezogen worden. Nun gibt es bisher auch nur ein Eckpunktepapier, bis zum Gesetz ist es noch ein ganzes Stück. Aber wir befürchten schon, dass uns dann einfach was vor die Füße gekippt wird und wir gemeinsam mit den Landräten und Bürgermeisterinnen den Ärger haben.
Dr. Braun: Auf dem Schlossplatz in Stuttgart haben mehrere Tausend unserer Mitglieder zusammen mit den Praxisteams gegen die Rahmenbedingungen protestiert. Auch auf unserer Tour durchs Land, die wir als Vorstand mit vielen Terminen vor Ort durchgeführt haben, ist dies uns gegenüber deutlich artikuliert worden. In den Praxen herrscht aktuell ernsthaft die Sorge, dass die Versorgung auf Dauer so nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das gibt mir zu denken, das sollte uns allen zu denken geben. Denn da sind auch viele dabei, die bisher keineswegs mit Protesten aufgefallen sind.
Wir haben nicht den Eindruck, dass die Belange der Praxen in den ganzen Reformvorhaben ausreichend berücksichtigt werden. Dabei hat doch gerade die Pandemie gezeigt, wo der Löwenanteil der Versorgung stattfindet. Die aktuellen Diskussionen um die doppelte Facharztschiene, die vertane Chance zu Hybrid-DRGs, und die Weigerung der Krankenhausgesellschaft, sich für mehr ambulante Operationen in den Praxen zu öffnen, empfinden wir bremsend und nicht lösungsorientiert.
Viele der Reformvorhaben des Bundes, angefangen von Gesundheitskiosken bis hin zu Primärversorgungszentren sollen zu einem wesentlichen Teil von den Krankenkassen finanziert werden. Aber sind das wirklich Aufgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung? Wir sind der Ansicht, dass besser auf bewährten Strukturen aufgesetzt werden sollte. Und natürlich dürfen die Finanzen der Gesetzlichen Krankenkassen nur für die Aufgaben in Anspruch genommen werden, die auch ihre Aufgabe sind.
TK: Wie bewerten Sie die bisherige Zusammenarbeit mit den Krankenkassen? Was lief gut, wo gibt es Optimierungsbedarf?
Dr. Braun: Der Gesetzgeber hat weite Teile des Gesundheitswesens in die Hände der Gemeinsamen Selbstverwaltung gegeben. Also erwartet die Politik - und natürlich auch die Öffentlichkeit, dass wir unserer Aufgabe gerecht werden und Lösungen erarbeiten. In Baden-Württemberg klappt das aus unserer Sicht ziemlich gut. Wir brauchen kein Schiedsamt und können in einer konstruktiven Atmosphäre zusammenarbeiten. Das ist in Berlin leider nicht der Fall. Und ich freue mich, dass wir uns immer wieder mit gemeinsamen Positionen gegenüber der Politik nach außen äußern. Das ist ein gutes Zeichen.
Dr. Reinhardt: Die Zeiten und damit die Aufgaben, die wir zu erfüllen haben, werden ja nicht leichter. Ganz im Gegenteil. Die Anforderungen an die Zusammenarbeit werden zunehmen. Wir haben hierfür in Baden-Württemberg eine gute Basis, auf der wir aufbauen können. Das sollten wir auch weiterhin nutzen.
Zu den Personen
Dr. Karsten Braun ist 1968 in Würzburg geboren und hat sein Medizinstudium in Homburg/Saar absolviert. Er war unter anderem am Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim und an der Sportklinik Stuttgart Bad-Cannstatt tätig. Als Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie hat er sich in einer Praxis in Wertheim niedergelassen. Dr. Braun ist Mitglied der Vertreterversammlung der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg und seit 1. Januar 2023 Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.
Dr. Doris Reinhardt ist 1962 in Öttenhofen (Ortenaukreis) geboren. Sie studierte Medizin in Freiburg und bildete sich nach dem Staatsexamen am Klinikum Lahr in Innerer Medizin und HNO weiter, ehe sie eine hausärztliche Gemeinschaftspraxis gründete. Sie war bisher schon im Vorstand des Hausärzteverbands Baden-Württemberg, in der Vertreterversammlung des Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg und im Vorstand der Landesärztekammer tätig. Seit 1. Januar ist sie die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.