Im Rahmen des PornLoS-Projekts wird bei Betroffenen zunächst in den drei Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland eine bessere psychotherapeutische Versorgung erprobt. Wir haben mit Dr. Schahryar Kananian, der dem Frankfurter Behandlungsteam des Projekts angehört, über die Erkrankung und mögliche Auslöser gesprochen.

TK: Pornografisches Material ist im Internet mit nur wenigen Klicks erreichbar. So kommen Jugendliche heute immer früher mit Pornografie in Kontakt. Erhöht der frühe Kontakt nach Ihrer Erfahrung das Risiko, eine Pornografie-Nutzungsstörung (PNS) zu entwickeln? 

Dr. Schahryar Kananian: Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Allgemein hat es durchaus einen Sinn, dass pornografisches Material für Personen unter 18 Jahren nicht freigegeben ist. Durch die fehlende Aufklärung und Fähigkeit, das konsumierte Material adäquat einzuordnen, kann es durchaus zu schädlichen Einflüssen auf die Sexualentwicklung kommen und zu einem erhöhten Risiko an einer Pornosucht zu erkranken. Hierzu müssten allerdings noch stärker längsschnittliche Untersuchungen durchgeführt werden, die idealerweise im frühen Jugendalter beginnen. Solche Studien sind leider aus ethischen Gründen oft nicht möglich. Es gibt allerdings schon erste Befunde, die darauf hindeuten, dass je früher Jugendliche mit dem Konsum beginnen, desto höher die Wahrscheinlichkeit ist, eine PNS zu entwickeln. 

Dr. Schahryar Kana­nian

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Behandelnder Psychotherapeut im Projekt PornLoS

TK: Welche Rahmenbedingungen, Persönlichkeitsstrukturen und weiteren Ursachen tragen dazu bei, dass manche Menschen eher gefährdet sind als andere, eine Suchterkrankung wie eine Pornografie-Sucht zu entwickeln?

Psychische Beschwerden oder Probleme in anderen Bereichen stehen in engerem Zusammenhang mit einer Pornografie-Nutzungsstörung. Dr. Schahryar Kananian

Dr. Kananian: Psychische Beschwerden oder Probleme in anderen Bereichen stehen in engerem Zusammenhang mit einer Pornografie-Nutzungsstörung. Zum Beispiel steht die PNS in engerem Zusammenhang mit anderen Verhaltenssüchten, was aber nicht unbedingt heißt, dass eine Computerspielsucht zu einer PNS führt. 

Als sogenannte Prädikatoren, also Faktoren, die eine zukünftige PNS vorhersagen, zählen das männliche Geschlecht, subjektiver Stress, Impulsivität und mangelnde Emotionsregulationsfähigkeiten. Wir beobachten häufig in der Praxis, dass eine PNS bei einigen Personen vor allem der Regulation von Emotionen und Stress dient. Zum Beispiel konsumieren einige Betroffene Pornos auf der Toilette, nachdem es zu belastenden Situationen am Arbeitsplatz gekommen ist. 

TK: Welche Kriterien müssen vorliegen, damit wir von einer Pornografie-Nutzungsstörung sprechen können?

Dr. Kananian: Wichtig zu wissen ist, dass sich die PNS nicht nach absoluten Kriterien richtet, das heißt wie viele Stunden die Betroffenen pornografisches Material konsumieren. Es geht vielmehr um den erlebten Kontrollverlust, also das Weiterkonsumieren wider besseren Wissens und Gewissens. Das heißt, der Konsum wird fortgesetzt, obwohl eine Reduktion angestrebt wird, da der Konsum Konsequenzen für den Alltag hat, sowohl privat als auch beruflich. Weiter muss der Pornografiekonsum immer mehr das Leben dominieren. Eine PNS wird diagnostiziert, wenn die Symptome mindestens für einen Zeitraum von sechs Monaten bestehen. 

TK: Wie unterschiedlich sind die Krankheitsgeschichten, die Sie von Betroffenen hören, bzw. wie können sich die Krankheitsbilder von Person zu Person unterscheiden?

Dr. Kananian: Die Krankheitsgeschichte kann sich wie bei anderen psychischen Beschwerden von Person zu Person unterscheiden. Bei manchen Personen entsteht der Leidensdruck durch die hohen moralischen Standards, bei anderen wiederum nur dadurch, dass der Alltag nicht mehr so klappt wie früher. Gemeinsam haben die Betroffenen hingegen, dass sie meistens früh mit dem Konsum gestartet haben, dass der Konsum schleichend mehr wurde und dass sie in Phasen von Stress verstärkt konsumieren. 

TK: Was verursacht pornosüchtigen Menschen den größten Leidensdruck?

Dr. Kananian: Wie bereits angedeutet, kann der primäre Leidensdruck einerseits durch erhöhte moralische Ansprüche kommen. Es konnte gezeigt werden, dass sehr religiöse Personen einen höheren Leidensdruck haben. Das heißt, hier liegt der Fokus weniger auf den Konsequenzen für den Alltag, sondern darauf, dass die Personen mehr konsumieren als sie möchten und das als psychisch belastend erleben. Andererseits können auch die Konsequenzen für den Alltag zunehmend gravierender werden, sodass der Konsum von pornografischem Material andere Lebensbereiche, wie Hobbys oder soziale Aktivitäten, fast verunmöglicht. Dies gilt gerade bei Personen, die bis zu zehn Stunden täglich konsumieren. Manchmal sind es wiederum sexuelle Probleme in der Partnerschaft, die den Leidensdruck auslösen. PNS kann mit mangelnder Erregbarkeit im "echten Leben" einhergehen, so dass die Partnerinnen indirekt betroffen sind und die Betroffenen ebenfalls zu einer Therapie anregen. 

TK: Welche Stationen haben Patientinnen und Patienten Ihrer Erfahrung nach möglicherweise bereits (erfolglos?) durchlaufen, bevor sie im PornLoS-Projekt aufgenommen wurden, und warum ist es bei diesem Krankheitsbild so schwer, Hilfe zu bekommen?

Dr. Kananian: Leider gibt es viele unprofessionelle Angebote im Internet, die unrealistische Versprechungen machen und die Betroffenen damit weiter unter Druck setzen. Das Thema Pornografie hat häufig medial und auch politisch zu Polarisierung und Überspitzung geführt, sodass eine nüchterne Auseinandersetzung verhältnismäßig spät startete. Daher leistet die Arbeitsgruppe um Professor Stark mit ihren Forschungen echte Pionierarbeit auf diesem Gebiet. Jetzt wird erstmals frei von irgendwelchen Moralkeulen geguckt, was die Betroffenen brauchen und wie ihnen wirksam geholfen werden kann. Gerade, dass auch geschaut wird, ob nicht der reduzierte Konsum auch eine sinnvolle Variante ist, macht das Projekt so spannend. 

TK: Wie schwer ist nach Ihrer Erfahrung der Ausstieg aus der Pornosucht und welche Angebote können Betroffenen - neben der psychotherapeutischen Begleitung - dabei zusätzlich helfen?

Dr. Kananian: Tatsächlich erleben wir zunehmend gute Verläufe bei den Betroffenen. Das bezieht sich allerdings vor allem auf psychotherapeutische Angebote. Wir raten nicht von Selbsthilfegruppen ab, diese können durchaus entlastend sein, ähnlich wie bei  anderen psychischen Belastungen. Jedoch sollten Betroffene darauf achten, dass diese Gruppen Pornografie nicht "verteufeln" oder für verwerflich erklären, da dies den Leidensdruck sowie Selbstabwertung noch weiter erhöhen kann. 

TK: Haben Sie vor Beginn des Innovationsfondsprojekts "PornLoS" bereits Patienten oder Patientinnen betreut, die von einer Pornosucht betroffen sind, und was war für Sie persönlich ausschlaggebend, am PornLoS-Projekt als behandelnder Psychotherapeut mitzuarbeiten?

Betroffene sind gehemmt, das tabuisierte Thema der Pornosucht proaktiv anzusprechen. Dr. Schahryar Kananian

Dr. Kananian: Ich habe bereits mit einigen Patienten gearbeitet, die von einer PNS betroffen waren. Interessant war, dass alle diese Personen wegen anderen Anliegen vorstellig geworden sind. Sie haben zum Beispiel von Stress am Arbeitsplatz oder familiären Konflikten berichtet. Viele Therapeuten, und ich zähle mich dazu, explorieren nicht standardmäßig den Pornografie-Konsum, sodass das Thema hinten runterfallen kann. Erst im Laufe der Therapie, als die Patienten Vertrauen gefasst hatten, wurde das Thema angesprochen. Zum Beispiel, als es um Probleme in der Partnerschaft oder allgemein um Sexualität ging. Das hat mir nochmal vor Augen geführt, wie gehemmt Betroffene sind, dieses tabuisierte Thema proaktiv anzusprechen und gleichzeitig, wie wenig sensibilisiert ich dafür war. Das hat mich motiviert daran mitzuwirken, mehr Bewusstsein für dieses Problem zu schaffen und den Betroffenen ein wirksames Therapieangebot machen zu können.