TK: Herr Professor Gräske, kann die Akademisierung des Pflegeberufs helfen, dem Fachkräftemangel zu begegnen? 

Prof. Johannes Gräske: Ja, die Akademisierung des Pflegeberufs kann helfen, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Dafür spielen unterschiedliche Gründe eine Rolle.

Erstens die Attraktivität des Berufs: Durch die Akademisierung wird der Pflegeberuf aufgewertet und als gleichwertig mit anderen akademischen Berufen angesehen. Dies kann dazu führen, dass mehr Menschen, insbesondere junge Menschen, sich für eine Karriere in der Pflege entscheiden. Eine höhere Anziehungskraft des Berufs kann zu einer größeren Anzahl von Bewerbenden führen und somit den Fachkräftemangel mildern.

Zweitens die Karrieremöglichkeiten: Die Akademisierung eröffnet den Pflegefachpersonen erweiterte Karrieremöglichkeiten. Sie können in Führungspositionen aufsteigen, Forschung betreiben, in der Politik mitwirken oder in anderen Bereichen des Gesundheitswesens tätig werden. Diese vielfältigen Möglichkeiten können Personen anziehen, die an einer langfristigen und herausfordernden Karriere interessiert sind.

Drittens die Qualitätssteigerung: Durch die akademische Ausbildung werden Pflegefachpersonen besser auf die komplexen Anforderungen des modernen Gesundheitswesens vorbereitet. Sie erwerben erweitertes Wissen in den Bereichen Gesundheitsmanagement, Forschungsmethoden, evidenzbasierter Praxis und Patientensicherheit. Eine höhere Qualifikation der Pflegepersonen kann zu einer verbesserten Qualität der Versorgung und damit zu besseren Ergebnissen für die Patientinnen und Patienten führen.

Eine höhere Qualifikation der Pflegepersonen kann zu besseren Ergebnissen für die Patientinnen und Patienten führen. Prof. Johannes Gräske

Viertens die interprofessionelle Zusammenarbeit: Akademisch ausgebildete Pflegepersonen können besser mit anderen Fachkräften im Gesundheitswesen zusammenarbeiten, da sie über ein breiteres Verständnis des Gesundheitssystems und der verschiedenen Disziplinen verfügen. Eine verbesserte interprofessionelle Zusammenarbeit kann zu einer effektiveren Versorgung der Patientinnen und Patienten führen.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass die Akademisierung allein nicht ausreicht, um den Fachkräftemangel zu lösen. Es bedarf auch weiterer Maßnahmen wie verbesserter Arbeitsbedingungen, attraktiver Vergütung, flexibleren Arbeitsmodellen und einer positiven Berufskultur, um langfristig genügend Fachkräfte für den Pflegeberuf zu gewinnen und zu halten.

Geringe Nachfrage, hohe Abbruchquote

TK: Sind Sie mit der Nachfrage und der Zahl der Studierenden zufrieden? Wo liegen derzeit noch Hürden?

Prof. Gräske: In Bezug auf die Nachfrage und die Zahl der Studierenden im Pflegebereich gibt es bundesweit eine besorgniserregende Tendenz. Es ist eine geringe Nachfrage bei gleichzeitiger hoher Abbruchquote zu sehen. Genaue Zahlen zur Anzahl Pflegestudierender gibt es nicht. Der Referentenentwurf des Pflegestudiumstärkungsgesetzes geht von rund 1.500 Pflegestudierenden bundesweit aus.

Die Hürden sind vielfältig, das fängt zunächst damit an, dass es keine Tradition eines Pflegestudiums gibt. Im Gegensatz zu nahezu allen anderen Ländern der Erde stellt das Studium erst seit 2020 einen regulären Weg in den Pflegeberuf dar. Bundesweite Kampagnen dazu fehlen bislang.

Weiterhin ist eine der ganz großen Herausforderungen für die Studierenden, dass sie für Ihre Tätigkeit nicht vergütet werden. Insbesondere die 2.300 Pflichtpraktikumsstunden stellen dabei die Studierenden vor nahezu unlösbare Aufgaben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch erfolgt oftmals keine strukturierte Praxisanleitung auf akademischem Niveau. Das liegt daran, dass es in der Versorgungspraxis wenige studierte Pflegefachpersonen gibt. Und letztlich ist auch völlig unklar, was die Einsatzgebiete studierter Pflegefachpersonen, auch in Abgrenzung zur beruflichen Ausbildung, eigentlich sind. Somit ist das Studium aktuell oftmals unbekannt und unattraktiv.

Es ist wichtig, das Bild von Pflegeberufen in der Gesellschaft zu verbessern. Prof. Johannes Gräske

TK: Was müsste noch passieren, damit sich mehr junge Leute für die Pflege begeistern und dem Beruf dann treu bleiben?

Prof. Gräske: Es ist wichtig, das Bild von Pflegeberufen in der Gesellschaft zu verbessern und über die vielfältigen Karrieremöglichkeiten und Chancen in der Pflege aufzuklären. Information über die positiven Aspekte des Berufs, wie die Möglichkeit, anderen zu helfen und einen direkten Einfluss auf das Wohlergehen der Menschen zu haben, kann das Interesse junger Menschen wecken.

Die Bereitstellung von Mentoring-Programmen und Praktika in der Pflege kann den Schülerinnen, Schülern und Studierenden Einblicke in den Berufsalltag geben und ihnen ermöglichen, die Arbeitsumgebung und die Herausforderungen des Pflegeberufs kennenzulernen. Dies kann dazu beitragen, realistische Erwartungen zu schaffen und das Verständnis für die Pflegepraxis zu vertiefen.

Prof. Dr. Johannes Gräske

Prof. Dr. Johannes Gräske, Studiengangsleiter an der Alice Salomon Hochschule Berlin Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Studiengangsleiter an der Alice Salomon Hochschule Berlin
Um junge Menschen dazu zu ermutigen, in der Pflege zu bleiben, müssen attraktive Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Dazu gehören angemessene Vergütung, flexible Arbeitszeiten, gute Karrieremöglichkeiten, Aufstiegschancen und eine ausgewogene Work-Life-Balance. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kann dazu beitragen, den Pflegeberuf langfristig attraktiv zu machen. Es ist wichtig, Unterstützungssysteme für junge Pflegefachkräfte zu schaffen, um sie bei der Bewältigung der Herausforderungen des Berufs zu unterstützen. Dies kann die Bereitstellung von Fortbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Mentoring-Programme, Peer-Unterstützung und psychologische Betreuung umfassen. Ein starkes Unterstützungssystem kann dazu beitragen, den Berufseinsteigern Sicherheit und Stabilität zu bieten.

Aktuelle Studie zu Gründen für Verbleib in der Pflege 

Die Anerkennung und Wertschätzung der Arbeit von Pflegefachkräften ist entscheidend, um junge Menschen zu ermutigen, in der Pflege zu bleiben. Dies kann durch öffentliche Anerkennungskampagnen, Auszeichnungen und eine positive Berufskultur erreicht werden. Die Wertschätzung der Pflegeberufe kann dazu beitragen, das berufliche Selbstwertgefühl und die Bindung an den Beruf zu stärken.

Oftmals wurde untersucht, wie viele Pflegende den Beruf verlassen und warum. Ich will in einer aktuellen Studie herausfinden, warum Pflegende im Beruf verbleiben. Dazu befragen wir Pflegefachpersonen mit über 30 Jahren Berufserfahrung. Dies kann helfen, Faktoren herauszuarbeiten und entsprechend zu stärken, damit der vorzeitige Berufsaustritt minimiert wird.

TK: Wo hinkt Deutschland bei der Ausgestaltung des Pflegeberufes internationalen Standards hinterher?

Prof. Gräske: Deutschland hinkt in einigen Bereichen hinterher. Während andere Länder wie die Niederlande, Kanada und Norwegen den Pflegeberuf bereits auf Hochschulniveau haben, ist Deutschland noch nicht flächendeckend akademisiert. Es gibt unterschiedliche Qualifikationsniveaus, von der Ausbildung an Berufsfachschulen bis zum Hochschulstudium. Eine einheitliche akademische Ausbildung könnte die Kompetenzen der Pflegefachpersonen stärken.

Pflegefachpersonen werden in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern oft geringer anerkannt und bezahlt. Eine angemessene Vergütung und Anerkennung sind wichtig, um den Beruf attraktiver zu machen und qualifizierte Fachkräfte zu halten. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege sind herausfordernd und belastend. Ein Mangel an Personal, hohe Arbeitsbelastung und Zeitdruck sind Probleme. Eine Verbesserung der Bedingungen, wie ausreichendes Personal und Ruhepausen, könnte den Beruf attraktiver machen und die Pflegequalität verbessern. Die Möglichkeiten zur Weiterbildung und Spezialisierung für Pflegefachkräfte sind in Deutschland begrenzt. Fortgeschrittene Programme können die Kompetenzen erweitern und Karrieremöglichkeiten bieten.

Deutschland zeigt zwar positive Entwicklungen wie das Pflegeberufegesetz zur Vereinheitlichung der Ausbildung, dennoch gibt es noch Raum für Verbesserungen, um den Beruf internationalen Standards anzupassen und dem Fachkräftemangel zu begegnen.

TK: Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird in den nächsten Jahrzehnten stark steigen. Wie kann man ihre Versorgung und Betreuung sichern?

Prof. Gräske: Es ist notwendig, die Pflegeinfrastruktur weiterzuentwickeln und neue Versorgungs- und Beratungsformen zu finden. So zeigen zum Beispiel Pflegebauernhöfe (international) ein hohes Potenzial, die Versorgungsqualität zu steigern. Auch brauchen wir mehr Konzepte des sogenannten Community Health Nursing, also Pflegende, die zu Menschen nach Hause fahren, um dort mögliche pflegerische Herausforderungen gezielt zu identifizieren und Abhilfe zu schaffen. Dies stärkt, wie vielfach gefordert, die ambulante Versorgung bei gleichzeitiger Steigerung der Versorgungsqualität.

Es ist wichtig, pflegende Angehörige zu unterstützen. Prof. Johannes Gräske

Da viele pflegebedürftige Menschen von ihren Familien oder Angehörigen betreut werden, ist es wichtig, diese pflegenden Angehörigen zu unterstützen. Dies kann durch Beratung, Schulungen, finanzielle Unterstützung, flexible Arbeitsmodelle und den Zugang zu Entlastungsangeboten erfolgen. Hierfür sind beispielsweise akademische Pflegefachpersonen besonders ausgebildet.

Entscheidend ist aber, genügend qualifizierte Pflegefachkräfte zu gewinnen und langfristig an den Beruf zu binden. Dazu gehören Maßnahmen wie die Attraktivitätssteigerung des Berufs, verbesserte Arbeitsbedingungen, angemessene Vergütung, Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten sowie eine positive Berufskultur.

Reine Akquise von Pflegefachkräften, wie es derzeit in Brasilien stattfinden soll, sind aus meiner Sicht nicht vielversprechend, da die Tätigkeiten von Pflegefachkräften in Deutschland nicht denen der ausländischen Kolleginnen und Kollegen entsprechen. Daher bleiben viele Kolleginnen und Kollegen  gar nicht langfristig in Deutschland.

Der Einsatz von Technologie kann die Versorgung und Betreuung pflegebedürftiger Menschen verbessern. Telemedizin, Assistenzsysteme, elektronische Patientenakten und digitale Lösungen können die Kommunikation, Steuerung und Koordination der Pflege unterstützen und die Effizienz steigern.

Und letztlich müssen wir auch schauen, welche Maßnahmen zur Prävention von Krankheiten und zur Förderung der Gesundheit wichtig sind, um die Zahl pflegebedürftiger Menschen langfristig zu reduzieren. Investitionen in Gesundheitsförderung, Früherkennung von Krankheiten und Präventionsprogramme können dazu beitragen, die Gesundheit und Selbstständigkeit älterer Menschen zu erhalten.

Zur Person

Prof. Dr. Johannes Gräske ist seit Ende 2019 an der Alice Salomon Hochschule Berlin Studiengangsleiter eines primärqualifizierenden Pflegestudienganges. Weiterhin ist er Vorstandsmitglied der Bundesdekanekonferenz Pflegewissenschaft, einem Zusammenschluss der Vertreterinnen und Vertreter pflegewissenschaftlicher Studiengänge an Fachhochschulen, Universitäten und Gesamthochschulen in der Bundesrepublik Deutschland.