ME/CFS: mehr als nur Erschöpfung
Nach einer anstrengenden Arbeitswoche oder einer ausgelassenen Party ist jeder mal erschöpft und ausgepowert. Auch ein schwerer Infekt oder eine große körperliche Herausforderung können unsere Leistungsfähigkeit vorübergehend schwächen. Doch was, wenn körperliche und geistige Schwäche ständig ohne Grund auftritt und sich der innere Akku weder durch Schlaf noch durch Erholung wiederaufladen lässt?
In Deutschland leiden etwa 250.000 Menschen unter myalgischer Enzephalomyelitis/chronischem Fatigue-Syndrom, auch ME/CFS genannt. Diese komplexe neurologische Erkrankung tritt oft nach einem Virusinfekt wie einer Grippe oder dem Pfeifferschen Drüsenfieber auf.
Woran erkennt man das chronische Fatigue-Syndrom?
Bei ME/CFS ist der Körper nicht mehr in der Lage, ausreichend Energie für physische oder kognitive Aktivitäten bereitzustellen. Vielen Betroffenen fällt es dann zunehmend schwer, ihre alltäglichen Aufgaben zu erfüllen, sie fühlen sich dauerhaft ausgeknockt. Selbst einfache Tätigkeiten, wie den Tisch abzuräumen oder zum Bäcker zu gehen, werden oft zu unüberwindbaren Hindernissen.
Die Beschwerden verschlechtern sich außerdem schon nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung massiv. Experten nennen dieses Leitsymptom "Post-Exertional Malaise (PEM)".
Weitere typische Beschwerden sind unter anderem:
- Grippeähnliche Symptome wie Halsschmerzen, Fieber und geschwollene Lymphknoten mit extremer Abgeschlagenheit
- Herz-Kreislauf-Beschwerden wie Herzrasen, Schwindel und Blutdruckschwankungen
- Sprach-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen
- Muskel-, Gelenk- und Gliederschmerzen
- Schwere Schlafstörungen, Schlaf bessert die Symptome nicht
Welche Ursachen gibt es?
Auch wenn ME/CFS bereits 1969 als neurologische Erkrankung klassifiziert werden konnte, sind ihre genauen Ursachen bis heute nicht bekannt. Experten vermuten, dass Infektionen, Immundefekte und Störungen des Energiestoffwechsels zu den Auslösern zählen. Aktuell steht auch COVID-19 im Verdacht, ME/CFS auslösen zu können, da viele Patienten auch ein halbes Jahr nach ihrer COVID-Infektion noch an Symptomen wie dem PEM leiden.
Gut zu wissen
Sehr häufig ist in der älteren Literatur noch vom "chronischen Erschöpfungssyndrom" beziehungsweise "chronischen Müdigkeitssyndrom" die Rede. Da diese körperliche und geistige Schwäche jedoch nicht durch mangelnde Erholung oder fehlende Aktivität ausgelöst wird, lehnen Experten diesen Begriff für die Beschreibung von ME/CFS heute ab. Zudem verharmlose er die Schwere der Erkrankung.
Diagnose und Therapie
Im Gespräch erfragt Ihr Arzt, unter welchen Symptomen Sie leiden. Anschließend untersucht er Sie gegebenenfalls körperlich. Dabei wird er zunächst verschiedene Ursachen für Ihre chronische Schwäche ausschließen, beispielsweise Tumorerkrankungen oder chronisch-entzündliche Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Diabetes mellitus, Leber- oder psychische Erkrankungen wie Depressionen können ebenfalls starke Erschöpfung und Müdigkeit auslösen.
Leiden Sie unter nächtlichen Atemaussetzern (Schlafapnoe), kann dies die Ursache für eine mangelnde Erholung sein. Da auch bestimmte Medikamente extrem müde machen können, prüft Ihr Arzt gegebenenfalls Ihren Medikamentenplan.
Hat Ihr Arzt andere Ursachen ausgeschlossen, kann er beispielsweise anhand der kanadischen Konsenskriterien (Canadian Consensus Criteria - CCC) sowie mithilfe standardisierter Fragebögen die Diagnose ME/CFS sichern. Dabei prüft er unter anderem, ob folgende Kriterien auf Sie zutreffen:
- Die Beschwerden bestehen schon mindestens seit sechs Monaten.
- Es fällt Ihnen aufgrund der körperlichen und geistigen Schwäche zunehmend schwer, alltäglichen privaten und beruflichen Aufgaben nachzukommen.
- Schlaf führt bei Ihnen nicht zu Erholung.
- Schon nach leichter körperlicher oder auch geistiger Aktivität fühlen Sie sich extrem erschöpft (PEM).
Aktuell gibt es keine Therapie, die nachweislich gegen ME/CFS hilft. Das Hauptziel ist es daher, die Symptome zu behandeln und so Ihre Lebensqualität zu verbessern. Ihr Arzt kann Ihnen beispielsweise Medikamente verordnen, die Schmerzen lindern oder Ihren Kreislauf stabilisieren.
Was unterscheidet ME/CFS von einer Depression?
Beide Erkrankungen gehen mit starker Erschöpfung, Gedächtnisproblemen, Verlust der Libido und Schlafstörungen einher. ME/CFS beginnt in vielen Fällen plötzlich und wird auch von grippeähnlichen Symptomen begleitet (Kopf- und Halsschmerzen, schmerzhafte Lymphknoten, Fiebrigkeit). Eine Depression entwickelt sich dagegen meist schleichend.
Während sich die Symptome einer Depression durch regelmäßige körperliche oder geistige Aktivität spürbar bessern, verschlechtern sie sich dadurch bei ME/CFS zunehmend. Menschen mit einer Depression neigen dazu, sich zurückzuziehen und zu resignieren, während Menschen mit ME/CFS in der Regel aktiv nach Hilfe suchen.
Was können Sie tun, wenn Sie selbst betroffen sind?
Auch wenn es sehr schwerfällt: Akzeptieren Sie, dass Sie weniger belastbar sind, denn Anstrengung kann Ihre Symptome sogar verschlimmern. Überprüfen Sie Ihre Lebensweise und Ihren Tagesablauf. Loten Sie dabei Ihre eigenen Leistungsgrenzen neu aus und richten Sie Ihr Tagespensum danach.
Mögliche Maßnahmen:
- Ein geregelter Tagesablauf mit festen Mahlzeiten sowie Phasen für Aktivität und Erholung entlastet häufig. Auch wenn Ruhe und Schlaf die Symptome nicht verbessern, empfinden viele Betroffene eine klare Tagesstruktur als wohltuend.
- Hilfreich sind oft Entspannungsverfahren. Bewegung und Sport dagegen können die Beschwerden sogar verstärken.
- Schließen Sie sich einer Selbsthilfeorganisation an. Fatigatio e. V., der Bundesverband ME/CFS sowie die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. bieten Informationen und Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige an.