TK: Frau Steffens: Wo sehen Sie die größten Baustellen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
 
Barbara Steffens: Ganz sicher bei der Datenerfassung und Verarbeitung, Stichwort: elektronische Patientenakte und E-Rezept - und natürlich bei der Gesundheitsdatennutzung. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass Informationen beispielsweise über den Impfstatus, Vorerkrankungen oder Therapien und Behandlungen digital gespeichert sind und vor allem auch jederzeit abgerufen werden können, wenn sie benötigt werden.

Wenn die Gesundheitsdaten klug genutzt und sinnvoll zusammengeführt werden, kann das die Versorgung enorm verbessern. Für Patientinnen und Patienten bedeutet das individuellere Therapien und für die Ärztinnen und Ärzte, dass sie gezielter behandeln können.

Selbstverständlich müssen die Patientinnen und Patienten entscheiden dürfen, was mit ihren Gesundheitsdaten passiert. Wir dürfen aber Patientenschutz nicht gegen Datenschutz ausspielen.

Barbara Stef­fens

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Leiterin der TK-Landesvertretung Nordrhein-Westfalen

Die Videosprechstunde ermöglicht eine gute medizinische Behandlung auch in dünn besiedelten Gebieten. Barbara Steffens

TK: In welchem Bereich haben die Patientinnen und Patienten in den letzten Jahren am meisten von der Digitalisierung profitiert? 
 
Barbara Steffens: Da fällt mir als erstes die Videosprechstunde ein. Deren Potenzial für die Versorgung ist längst nicht ausgeschöpft. Während der Coronapandemie hat das Interesse an Videosprechstunden sprunghaft zugenommen: Allein im ersten Halbjahr 2021 nutzten TK-Versicherte in Nordrhein-Westfalen 134.876-mal die Onlinesprechstunde. Zum Vergleich: Im zweiten Halbjahr 2019, also vor Beginn der Pandemie, wurde die Videosprechstunde von TK-Versicherten in NRW lediglich 128-mal in Anspruch genommen. Auch die von der TK über eine App angebotene Onlinesprechstunde wird stark nachgefragt.

Diese unfreiwillige Anschubhilfe sollten wir nutzen: Die Videosprechstunde ermöglicht eine gute medizinische Behandlung auch in dünn besiedelten Gebieten, wo die nächste Praxis oft weit entfernt ist. Zudem kann die Videosprechstunde Infektionen, unnötige Aufenthalte in Wartezimmern und lange Anfahrtswege vermeiden.

Gerade erst ist die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein für ihre Telemedizinische Beratung über die Jahreswende ausgezeichnet worden. Das Angebot hat die Kinder- und Jugendmedizinpraxen ganz erheblich entlastet: Fast die Hälfte der Eltern hat nach der Online-Beratung auf einen Besuch in der Praxis verzichten können.

TK: Wo sehen Sie ganz konkret Möglichkeiten, mit Hilfe digitaler Prozesse die Versorgung zu verbessern?

Barbara Steffens: Die Frage müsste eigentlich lauten: Wo nicht? Im Ernst: Die Potenziale der Digitalisierung für eine bessere Versorgung sind so groß, dass es fast ein Kunstfehler wäre, sie nicht zu nutzen. Ein Beispiel: Prof. Dr. Eva Meisenzahl-Lechner von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erprobt gerade im Rahmen eines Innofondsprojekts die "Computer-assistierte Risiko-Evaluation in der Früherkennung psychotischer Erkrankungen" (CARE). Dabei wird erstmals mit Hilfe Künstlicher Intelligenz versucht, möglichst genau das Risiko einer Psychoseentwicklung bei besonders gefährdeten Patientinnen und Patienten abzuschätzen. Im Idealfall kann so eine personalisierte Diagnostik und Therapie entwickelt werden, um psychiatrische Erkrankungen zu verhindern oder Krankheitsverläufe deutlich abzumildern.

Ein weiteres, spannendes Projekt ist OPTIMAL@NRW, ebenfalls ein Innofondsprojekt, bei dem die Universitätsklinik Aachen federführend ist. Für das Projekt werden Pflegeeinrichtungen mit Telekonsultationssystemen ausgestattet, Behandlungen in einer sektorenübergreifenden, gemeinsamen digitalen Patientenakte (ePa) zusammengeführt und ein "virtueller digitaler Tresen" eingerichtet, den die Uniklinik gemeinsam mit der KV Nordrhein rund um die Uhr besetzt.

TK: In welche Falle sollten wir bei der Digitalisierung nicht tappen? 
 
Barbara Steffens: Wir sollten den Gender-Bias unbedingt vermeiden. Auch in der digitalen Medizin kommen geschlechtssensible Aspekte oft noch zu kurz. Dabei bergen Datenlücken und genderbedingte Verzerrungen speziell in Systemen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, viele Risiken für Versorgung, Forschung und Entwicklung.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Versorgung zunehmend datengetrieben gesteuert und somit komplexer wird, ist die Auseinandersetzung mit der Frage, ob es Geschlechterspezifika bei einem Krankheitsbild gibt oder nicht, für eine passgenauere Versorgung notwendig. In der Forschung sollten Daten daher zwingend geschlechterspezifisch erhoben, analysiert und nach Geschlecht aufgeschlüsselt werden. Denn wir haben riesige Lücken bei geschlechterspezifischen Daten und tun zu wenig, um diese systematisch zu schließen. Zudem laufen wir Gefahr, diversitätsbedingte Verzerrungen zu verstärken, wenn wir undifferenziert Daten aus der analogen in die digitale Welt übernehmen.

Geschlechterspezifika zu betrachten und die Erkenntnisse für eine zielgerichtetere Versorgung zu nutzen muss deshalb von einem "nice-to-have" zu einem "must-have" werden.

TK: Stichwort elektronische Patientenakte und E-Rezept: Wie beurteilen Sie die Entwicklung?
 
Barbara Steffens: Der Opt-out-Ansatz könnte der elektronischen Patientenakte endlich zum Durchbruch verhelfen. Alle Versicherte erhalten eine ePA, haben aber das Recht , deren Einrichtung zu widersprechen Damit ist jeder und jede Versicherte automatisch Besitzer oder Besitzerin einer ePA, die mit allen wichtigen Gesundheitsdaten befüllt ist.

Wer ein Leserecht bekommt und welche Inhalte eingesehen werden dürfen, bestimmen die Versicherten, die damit die Souveränität über ihre Daten behalten.

Das E-Rezept soll mit elektronischen Gesundheitskarte ab Mitte 2023 in allen Apotheken in Deutschland eingelöst werden können, verspricht die Gematik. Ich hoffe, dass damit die flächendeckende Einführung in diesem Jahr tatsächlich noch stattfindet.

TK: Ihr Fazit in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen?
 
Barbara Steffens: Digitalisierung ist nicht alles, sie löst nicht sämtliche Probleme im Gesundheitswesen. Aber ohne Digitalisierung werden wir das hohe Niveau unserer medizinischen Versorgung nicht aufrecht erhalten können. Das gilt im übrigen auch für die Pflege.

TK-Position: Nutzung von Gesundheitsdaten im Sinne der Patientinnen und Patienten