TK: Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lehr, Sie koordinieren aktuell das Forschungsprojekt SafePolyMed, bei dem eine Plattform zu unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen von Arzneimitteln entstehen soll. Erklären Sie doch bitte kurz, was es damit auf sich hat.

Prof. Dr. Thorsten Lehr: Im Alltag nehmen Patientinnen und Patienten oft fünf oder mehr Medikamente gleichzeitig ein. Diese Polymedikation erzeugt oft Probleme in der Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie. Ursachen dafür sind Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten aber auch genetische Veränderungen, die im Erbgut (DNA) der Patienten und Patientinnen verankert sind. In SafePolyMed geht es darum, die komplexen Interaktionen zwischen Arzneimitteln und verschiedenen genetischen Ausprägungen besser zu verstehen und daraus eine optimierte und damit sicherere Therapie für Patientinnen und Patienten abzuleiten.

Polymedikation erzeugt oft Probleme in der Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie. Ursachen dafür sind Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten aber auch genetische Veränderungen. Prof. Dr. Thorsten Lehr

Dazu werden wir mathematische Modelle und Algorithmen der Künstlichen Intelligenz auf großen Patientendatenbanken anwenden und eine Plattform für Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte sowie Apothekerinnen und Apotheker entwickeln, damit sie die gewonnenen Erkenntnisse in Entscheidungen zur optimierten Therapie umsetzen können. Abschließend werden wir diese Plattform in einer klinischen Studie überprüfen, um auch den Nutzen nachzuweisen. Unser Projekt erfolgt in Einbeziehung von Patientenorganisationen und ist patientenorientiert angelegt.

Prof. Dr. Thorsten Lehr

Prof. Dr. Thorsten Lehr koordiniert das Projekt SafePolyMed an der Universität des Saarlandes. Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes und Koordinator für das Projekt SafePolyMed

TK: Wann könnte dieses Projekt aus Ihrer Sicht in Regelversorgung zum Einsatz kommen?

Prof. Dr. Lehr: Realistischerweise müssen wir das Projektende in drei Jahren abwarten und können danach eine Ausweitung in die Regelversorgung anstreben. Für eine breite Anwendung fehlen aber noch Regelungen zum Einsatz und der Erstattung von genetischen Tests in der Praxis. Diese Hürde sollte parallel zum Projekt angegangen werden, da eine große Studie, an der wir auch beteiligt waren, zeigen konnte, dass durch genetische Testung und entsprechender Dosisanpassung die Rate an Nebenwirkungen um etwa 30 Prozent gesenkt werden konnte.

TK: Welche Rolle spielt das Saarland innerhalb dieses Projektes? Schließlich sind die Universität und das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in Sulzbach beteiligt. Zeigt das auch das Potenzial unserer Region?

Ich bin überzeugt, dass SafePolyMed mit dem "Made in Saarland"-Stempel einen wichtigen Baustein zur Patientensicherheit leisten kann und europaweite Signalkraft haben wird. Prof. Dr. Thorsten Lehr

Prof. Dr. Lehr: Unser Projekt ist ein Zusammenspiel aus Pharmazie und Informatik, zwei wichtigen akademischen Säulen des Saarlandes und wir werden durch den dritten saarländischen Partner EURICE aus St. Ingbert im Projektmanagement hervorragend unterstützt. Es zeigt, wie wichtig die Verschmelzung einzelner Fächer ist und auch, dass wir im Saarland sehr gut darin sind, dies umzusetzen und kreative Lösungen zu finden. Ich bin überzeugt, dass SafePolyMed mit dem "Made in Saarland"-Stempel einen wichtigen Baustein zur Patientensicherheit leisten kann und europaweite Signalkraft haben wird.

TK: In dem Projekt arbeiten Sie auch mit Einrichtungen aus sechs anderen europäischen Ländern zusammen. Wo steht Deutschland und auch das Saarland im Vergleich zu diesen Ländern, was das Thema Nutzung von Gesundheitsdaten angeht?

In Deutschland stehen wir uns bei der Erhebung und Nutzung von Gesundheitsdaten selbst im Weg. Prof. Dr. Thorsten Lehr

Prof. Dr. Lehr: In Deutschland stehen wir uns bei der Erhebung und Nutzung von Gesundheitsdaten selbst im Weg und laufen vielen europäischen Ländern meilenweit hinterher. Für unser Projekt nutzen wir Datenbanken aus England, Finnland und Estland, mit Daten von knapp zwei Millionen Patientinnen und Patienten, bei denen die Medikation, Genetik, Verschreibungen und Erkrankungen über viele Jahre und Jahrzehnte gesammelt wurden. Nur dadurch ist uns das Projekt möglich und bis ähnliche Kohortendaten in Deutschland verfügbar sind, wird es noch einige Zeit dauern. 

TK: Welche Chancen sehen Sie generell in der Auswertung und Nutzung von Gesundheitsdaten?

Prof. Dr. Lehr: Wir nutzen nicht nur in SafePolyMed Gesundheitsdaten, sondern in vielen anderen Projekten auch. Hier liegt ein ungeahntes Potenzial darin, neue Erkenntnisse für das Gesundheitswesen zu gewinnen und die Versorgung signifikant und nachhaltig zu verbessern. Allerdings gibt es hier einen dringenden Bedarf zur Harmonisierung der Daten und auch einen transparenten Prozess, wie diese Daten für die Wissenschaft zugänglich gemacht werden können. 

TK: Welche Rolle wird aus Ihrer Sicht die elektronische Patientenakte dabei spielen?

Die ePA wird einen sehr wichtigen Beitrag liefern, gewonnene Erkenntnisse aus der Wissenschaft in einen Vorteil für den einzelnen Patienten zu generieren. Prof. Dr. Thorsten Lehr

Prof. Dr. Lehr: Die ePA wird einen sehr wichtigen Beitrag liefern, gewonnene Erkenntnisse aus der Wissenschaft in einen Vorteil für den einzelnen Patienten zu generieren. Wir sehen oft in der Praxis, dass unsere Algorithmen nicht gut angenommen werden, da Ärztinnen und Ärzte händisch Informationen wie Alter, Organfunktionen und Medikation einfügen müssen. Durch die ePA könnten diese Informationen problemlos in andere digitale Algorithmen überführt werden und die Implementierung neuartiger Entscheidungshilfen in den klinischen Alltag ermöglichen. 
 

Zur Person

Prof. Dr. Thorsten Lehr ist gelernter Apotheker und forscht seit 2012 an der Universität des Saarlandes. Sein aktuelles Forschungsgebiet ist die Individualisierung der Arzneimitteltherapie. Seit 2017 hat er die Professur für Klinische Pharmazie inne.