Univ.-Prof. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius leitet ein in Jena ansässiges Bündnis, das sich die Entwicklung einer ganzheitlichen, digitalisierten Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen zur Aufgabe gemacht hat. wecare wird vom WIR!-Förderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert, um Forschungsprojekte zu begleiten und zu koordinieren, die einen zukunftsfähigen Strukturwandel ermöglichen.  
Testregionen sind die Thüringer Landkreise Ilmkreis, Saalfeld-Rudolstadt, Saale-Holzland-Kreis. Saale-Orla-Kreis und Weimarer Land. Die TK beteiligt sich als Partner bei wecare.

Prof. Orlando Guntinas-Lichius hat mit uns über wecare gesprochen und erklärt, warum die ePA eine zentrale Rolle für digitale unterstützte Gesundheitsversorgung spielt.

TK: Prof. Guntinas-Lichius, was ist die Idee hinter wecare und wie weit ist sie in den vergangenen Jahren vorangeschritten?

Der Fokus auf den ländlichen Raum ist wichtig, weil wir dort bereits Versorgungsprobleme haben.
Prof. Dr. Orlando Guntinas-Lichius 

Univ.-Prof. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius: Wir sind jetzt bei der Halbzeit. Das heißt, wecare gibt es seit drei Jahren. Unser Netzwerk besteht inzwischen aus über 300 Partnern und wir haben uns als wichtiger Ansprechpartner für digitale Gesundheitsversorgung in Thüringen, nicht nur, aber vor allem, im ländlichen Raum etabliert.

Bei wecare geht es um eine ganzheitliche, nachhaltige Gesundheitsversorgung für den strukturschwachen, ländlichen Raum, bei der Digitalisierung eine zentrale Rolle spielt. Der Fokus auf den ländlichen Raum ist wichtig, weil wir dort bereits Versorgungsprobleme haben, sowohl im ärztlichen als auch im pflegerischen Bereich. Die gesundheitliche Versorgung ganz besonders von älteren Menschen soll möglichst lange und gut in der eigenen Häuslichkeit oder wenigstens im eigenen Umfeld stattfinden können.

In den 20 geförderten Projekten analysieren wir sehr praxisnah, wie wir damit die Versorgung verbessern können. Insgesamt 73 Partner sind daran beteiligt. Handlungsfelder sind: medizinische Informatik und Diagnostik, Behandlung und Nachsorge von Patientinnen und Patienten, Versorgungskonzepte für den ländlichen Raum sowie Wissens- und Technologietransfer in die Gesellschaft. Die intelligenten Anwendungen oder zum Beispiel Weiterbildungsangebote, die sich bewährt haben, wollen wir anschließend in die Regelversorgung bzw. breitere Öffentlichkeit bringen.

Die ersten Projekte werden bis zur Mitte des Jahres abgeschlossen sein. Wir erleben großes Interesse für die zweite Halbzeit, an wecare teilzunehmen und haben auch schon Projekte ausgewählt.

TK: In Ihren Projekten ist es explizites Ziel dafür zu sorgen, dass Digitalisierungslösungen von den Menschen besser angenommen werden. Wie sind Ihre Erfahrungen beim Thema Akzeptanz digitaler Gesundheitsangebote in der Bevölkerung?

Wir erproben Versorgungsinnovationen für Probleme, die JETZT bestehen, nicht in 50 Jahren.
Prof. Dr. Orlando Guntinas-Lichius

Guntinas-Lichius: Ich erlebe die Einstellung der meisten Patientinnen und Patienten und auch die der Angehörigen gegenüber unseren Projekten als überraschend positiv. Die Angehörigen sind bei der Versorgung älterer Menschen im ländlichen Raum sehr wichtig. Überraschend, weil gemeinhin immer wieder von einer Technikskepsis ausgegangen wird.

Der Zuspruch wird zum Beispiel bei einem Projekt zur patientenorientierten Weiterbildung, das wir mit der Volkshochschule im Weimarer Land gemeinsam gestalten (POWER), deutlich. Es hat nicht unmittelbar etwas mit Versorgung zu tun, ist aber grundlegend für sie.

Wenn wir über digitale Gesundheitsversorgung sprechen, sind wir schnell beim Thema "sektorenübergreifend".
Prof. Dr. Orlando Guntinas-Lichius

Gleichzeitig erproben wir Versorgungsinnovationen für Probleme, die JETZT bestehen, nicht in 50 Jahren. Es besteht ein Bedarf, manchmal sogar bereits jetzt eine Not. Deswegen gibt es eine große Offenheit, sowohl bei den zu versorgenden Menschen als auch bei Kommunen, die auf uns zukommen, interessiert und offen sind.

TK: Wie ist es bei Partnern der Gesundheitsversorgung? Stichwort Krankenhaus oder ambulante Versorgung?

Guntinas-Lichius: Die vorhandenen Strukturen sind ein dickeres Brett. Wenn wir über digitale Gesundheitsversorgung sprechen, sind wir schnell beim Thema "sektorenübergreifend". Da gibt es traditionelle Widerstände bzw. im Moment leider noch vorhandene strukturelle Mauern. Dabei geht es gar nicht unbedingt um den einzelnen Arzt oder die einzelne Ärztin, sondern um die Systeme, in denen sie agieren und vielleicht agieren müssen.

Wir haben jetzt endlich einen Ort für digitale Gesundheitsdaten mit standardisierten Lösungen, auf den sich alle Beteiligten verständigt haben.
Prof. Dr. Orlando Guntinas-Lichius 

TK: Anfang dieses Jahres ist die elektronische Patientenakte (ePA) für alle an den Start gegangen, wird nun in Pilotregionen getestet und dann deutschlandweit ausgerollt. Wie blicken Sie auf die ePA? Welche Rolle spielt sie für die wecare-Projekte?

Guntinas-Lichius: Wir haben jetzt endlich einen Ort für digitale Gesundheitsdaten mit standardisierten Lösungen, auf den sich alle Beteiligten verständigt haben. Damit kommt das Thema Datenmobilität hoffentlich voran. Wir wollen maximal auf die ePA setzen, damit die Daten, die wir zu Hause gewinnen oder die von Arzt ermittelt werden usw. von A nach B getragen werden.

Für unsere Projekte heißt das konkret, dass wir die ePA und die nötigen Schnittstellen für den Datentransport seit dem Start von wecare mitgedacht und Standards eingefordert haben.

Die ePA soll und kann auch das Herzstück einer digitalisierten Gesundheitsversorgung werden.
Prof. Dr. Orlando Guntinas-Lichius 

Wenn die ePA für alle dann auch von allen genutzt wird, ist das für einige unserer Projekte eine deutliche Bereicherung. Ich denke zum Beispiel an unser Projekt zur Verbesserung der Notfallversorgung.

TK: Welche anderen Projekte kann die ePA voranbringen?

Guntinas-Lichius: Die ePA soll und kann auch das Herzstück einer digitalisierten Gesundheitsversorgung werden. Wenn Sie mich in einem Jahr nochmal fragen, kann ich Ihnen sicher schon genauere Beispiele nennen, wie die ePA die von uns geförderten Projekte unterstützt.

Wecare-AM, das agile Projektmanagement der wecare-Plattformimplementierung, ist ein zentrales Projekt, dass in allen Projekten dafür sorgt, dass adäquate Schnittstellen für die Interaktion Patient-Arzt-Krankenhaus genutzt werden. Die Möglichkeit, die ePA einzusetzen gehört natürlich dazu.

Ein weiteres Projekt ist InfarctCare zur Verbesserung der regionalen Versorgungsqualität des akuten Herzinfarktes durch intelligentes Datenmanagement. Dabei müssen die Daten der Akutversorgung des Patienten mit Herzinfarkt mit dem Patienten in die Klinik gelangen. Ein intelligentes Datenmanagement wird in Zukunft nur mit der ePA funktionieren.

Zur Person

Univ.-Prof. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius ist HNO-Arzt, Universitätsprofessor, und seit 2006 Direktor der HNO-Klinik am Universitätsklinikum Jena. Klinische Schwerpunkte sind die Implementierung von innovativen digitalen diagnostischen Methoden sowie die Behandlung von Tumorpatienten, Speicheldrüsenerkrankungen und die rekonstruktive Chirurgie des Gesichtsnervs. Wissenschaftliche Schwerpunkte sind die Entwicklung von neuen biophotonischen Verfahren, klinische Studien und Versorgungsforschung. Er leitet das wecare Bündnis.