Geschlechterspezifische Daten sind der Schlüssel zu einer guten Versorgung
Interview aus Nordrhein-Westfalen
Männer und Frauen sind anders krank, sie brauchen differenzierte Therapien und Behandlungsangebote. Nur, wenn diese Erkenntnis endlich berücksichtigt wird, können wir unser Gesundheitssystem zukunftssicher gestalten.

Gemeinsam mit anderen Frauen, die an Schaltstellen im Gesundheitswesen sitzen, hat die Leiterin der TK-Landesvertretung Nordrhein-Westfalen (NRW) und ehemalige NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens einen offenen Brief mit klaren Forderungen an die Politik gerichtet.
TK: Frau Steffens, was war die Initialzündung für den Brief und wie haben sie sich gefunden?
Barbara Steffens: Wir wollen die Aufbruchstimmung in der neuen Bundesregierung nutzen, um das Thema Gender-Medizin deutlicher in den Blick zu rücken. Zur Gender-Medizin wird seit Jahren geforscht und diskutiert, sie ist aber noch keine feste Größe in unserem Gesundheitssystem. Die Berücksichtigung des Geschlechts wird noch immer als Kür und nicht als Pflicht angesehen. Mit der neuen Ampel Regierung besteht eine echte Chance das zu ändern.
In einem regelmäßigen Austausch der Autorinnen zu Themen der Gendermedizin ist dann die Idee entstanden, uns jetzt damit an die politischen Entscheiderinnen und Entscheider zu wenden. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verpassen.
TK: In ihrem Brief fordern Sie klare, zwingend einzuhaltende Standards, um Gender-Data-Gaps zu schließen. Wo hakt es in der Praxis?
Steffens: Die meisten Forschungen und Studien zu Erkrankungen und Therapien differenzieren ihre Ergebnisse nicht nach Männern und Frauen. Sie liefern daher keine belastbare Datengrundlage für eine gendergerechte Medizin, daran ändern auch noch so ausgefeilte Algorithmen nichts.
Körperbau, Stoffwechsel, Fett und Wasseranteil im Körper, all das unterscheidet sich bei Männern und Frauen. Daher reicht es nicht, die Medikamentendosis an das Körpergewicht anzupassen. Wenn wir in Prävention und Versorgung besser werden wollen, müssen wir aber genau auf diese Unterschiede achten und Daten präziser erfassen.
Und gerade jetzt, wo viele digitale Angebote entstehen, sollten wir geschlechterspezifische Faktoren von Anfang an berücksichtigen. Denn nachträglich lässt sich eine schlechte Datengrundlage kaum heilen.
Auch Präventions- und Vorsorgeangebote werden von Männern und Frauen unterschiedlich häufig genutzt. So haben 54.9 Prozent der weiblichen Berechtigten im Jahr 2019 die Krebsvorsorge in Anspruch genommen haben, aber nur 25,4 Prozent der Männer. Auch den TK-GesundheitsCoach nutzen Frauen fast doppelt so häufig wie Männer.
TK: Wo muss die Politik ansetzen, damit die Medizin geschlechtergerechter wird?
Steffens: Wir fordern klare, zwingend einzuhaltende Standards, um Gender-Data-Gaps zu schließen! Denn die Auswertung geschlechterspezifischer Daten ist grundsätzlich eine Voraussetzung für evidenzbasierte Medizin, für die Verbesserung der Präzisionsmedizin und für Public Health.
Solange diese Angaben fehlen, liegt stets eine systematische Verzerrung vor, die sich auf alle Bereiche von Prävention, Diagnose und Therapie auswirkt und Fortschritte in der Medizin hemmt. Wir brauchen auch die Implementierung von Gendererhebungen bei Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) und Digitalen Pflegeanwendungen (DIPAs) - im Nutzennachweis ebenso wie bei einer möglichen Verwendung dieser Real-World-Daten. Der Datenschutz kann und muss dabei selbstverständlich weiterhin den strengen Anforderungen für Gesundheitsdaten entsprechen.
Offener Brief an Gesundheitsminister Prof. K. Lauterbach (PDF, 438 kB, nicht barrierefrei)