"Hinschauen statt Wegsehen": Wie ist gezielte Prävention gegen Gewalt an Schulen möglich?
Interview aus Rheinland-Pfalz
Interview mit Sven Teuber, Minister für Bildung des Landes Rheinland-Pfalz.

Der Amoklauf vom 10. Juni 2025 an einer Schule im österreichischen Graz hat auch in Deutschland großes Entsetzen und Betroffenheit ausgelöst. Die möglichen Hintergründe sind noch unklar, aber zentral für die Frage, ob die Tragödie hätte verhindert werden können.
Wie ernst werden die Risiken von Gewalt an Schulen in Rheinland-Pfalz genommen und welche Maßnahmen zur Gewaltprävention gibt es bereits?
Mobbing ist die häufigste Gewaltform an Schulen. Als wichtigste und wirkungsvollste Präventionsmaßnahmen gelten die Stärkung der Gemeinschaft, die Sensibilisierung für Mobbingprozesse und die Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Einschreiten gegen Mobbing. Das Projekt "Gemeinsam Klasse sein" setzt an dieser Stelle an. Es wurde von der Beratungsstelle Gewaltprävention Hamburg in Kooperation mit der Techniker Krankenkasse (TK) entwickelt und wird in Rheinland-Pfalz seit 2010 als Kooperationsprojekt des Ministeriums für Bildung, des Pädagogischen Landesinstituts und der Techniker Krankenkasse für Schulen angeboten.
Welche weiteren Präventions- und Interventionsangebote den Schulen im Land zur Verfügung stehen, um Gewalt, Ausgrenzung oder Radikalisierung frühzeitig zu begegnen, haben wir den Minister für Bildung des Landes Rheinland-Pfalz, Sven Teuber, im Interview gefragt.
TK: Herr Minister, nach dem Amoklauf in Graz werden auch hierzulande Stimmen laut, die eine stärkere Absicherung von Schulgeländen fordern - etwa durch Umzäunungen, wie sie in Großbritannien teils üblich sind. Wie bewerten Sie solche Vorschläge? Und wie schätzen Sie die aktuelle Sicherheitslage an rheinland-pfälzischen Schulen ein?
In Rheinland-Pfalz nehmen wir mögliche Risiken sehr ernst.
Sven Teuber: Zunächst möchte ich betonen, dass meine Gedanken bei den Angehörigen und Betroffenen der Tat in Graz sind. Solche Ereignisse machen uns alle tief betroffen.
In Rheinland-Pfalz nehmen wir mögliche Risiken sehr ernst. Das Thema Schul- und Gebäudesicherheit ist Teil unseres umfassenden Sicherheits- und Präventionskonzepts sowie enger Abstimmung mit dem Innenministerium, den Schulträgern und den kommunalen Ordnungsbehörden.
Sven Teuber
Pauschale bauliche Maßnahmen wie flächendeckende Umzäunungen sehe ich kritisch: Schulen sind auch Orte der Offenheit, der Begegnung und Teil des öffentlichen Raums. Sicherheit entsteht nicht allein durch Zäune, sondern durch wachsame Schulgemeinschaften, funktionierende Netzwerke und gezielte Prävention.
TK: Über das Programm "Gemeinsam Klasse sein" hinaus - welche weiteren Präventions- und Interventionsangebote stehen Schulen im Land zur Verfügung, um Gewalt, Ausgrenzung oder Radikalisierung frühzeitig zu begegnen? Sehen Sie hier zusätzlichen Handlungsbedarf?
Teuber: Das Programm "Gemeinsam Klasse sein" ist ein wichtiger Baustein unserer Präventionsarbeit, aber selbstverständlich nicht der einzige. In Rheinland-Pfalz verfolgen wir einen breit aufgestellten, ganzheitlichen Ansatz.
Wir fördern u.a. Programme zur Demokratiebildung, zur Medienkompetenz, zur Gewaltprävention und zur psychischen Gesundheit - etwa durch die Schulpsychologie, den Einsatz von Schulsozialarbeit sowie durch Fortbildungen für Lehrkräfte. Zusätzlich unterstützen wir Schulen bei der Entwicklung eigener Schutzkonzepte gegen Gewalt und sexualisierte Übergriffe.
Natürlich gibt es immer Potenzial zur Weiterentwicklung. Insbesondere mit Blick auf digitale Gewalt, Cybermobbing und die psychische Gesundheit junger Menschen wollen wir unsere Angebote selbstverständlich immer weiter stärken.
TK: In Österreich gab es Hinweise, dass sich der Täter als Mobbingopfer empfand. Welche psychosozialen Unterstützungsangebote stehen in Rheinland-Pfalz für betroffene Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte zur Verfügung?
Im Bildungsministerium nehmen wir das Thema Mobbing sehr ernst.
Teuber: Mutmaßungen, auch wenn sie sich bestätigen, dürfen konkrete Ursachenprävention nicht ersetzen. Unabhängig von einzelnen Fällen ist Mobbing - ob im analogen oder digitalen Raum - eine zutiefst belastende Erfahrung, die langfristige seelische Spuren hinterlassen kann. Deshalb nehmen wir im Bildungsministerium das Thema sehr ernst und setzen auf ein starkes Netzwerk zur Prävention und Unterstützung.
Mobbing ist niemals ein individuelles Problem allein, es ist eine gesellschaftliche Herausforderung, der wir uns gemeinsam, mit Verantwortung und Haltung, stellen müssen.
Darüber hinaus bieten wir über das Pädagogische Landesinstitut Fortbildungen für Lehrkräfte an, die dabei helfen, Mobbing zu erkennen, zu stoppen und präventiv zu handeln.
In Rheinland-Pfalz stehen allen Schulen vielfältige psychosoziale Angebote zur Verfügung. Dabei arbeiten Schulsozialarbeit, schulpsychologische Beratung und externe Einrichtungen wie Erziehungsberatungsstellen oder spezialisierte Fachstellen für Gewaltprävention eng zusammen. Unser Ziel ist es, betroffene Schülerinnen und Schüler frühzeitig zu erreichen und professionell zu begleiten.
Gleichzeitig ist uns bewusst, dass auch Lehrkräfte im Umgang mit Mobbing stark gefordert sind. Für die eigene seelische Gesundheit stehen ihnen zudem psychosoziale Beratungsdienste im Landesdienst sowie kollegiale Unterstützungsstrukturen zur Verfügung.
TK: Gibt es im Land etablierte Verfahren zur interdisziplinären Gefährdungseinschätzung - beispielsweise unter Mitwirkung von Polizei, Innenministerium und dem Pädagogischen Landesinstitut - falls Schülerinnen oder Schüler durch auffälliges Verhalten Anlass zur Sorge geben?
Teuber: Ja, solche Verfahren existieren bereits, wenn Schulen auffälliges Verhalten feststellen, steht ihnen ein geregelter Handlungsrahmen zur Verfügung.
Über die Schulaufsicht, das Landespsychologische Beratungszentrum und gegebenenfalls die Polizei können interdisziplinäre Einschätzungen erfolgen. Mit dem Ziel, frühzeitig zu intervenieren und gleichzeitig den Schutz der Betroffenen und der Schulgemeinschaft zu gewährleisten.
Prävention und Gefahrenabwehr müssen Hand in Hand gehen, über Zuständigkeitsgrenzen hinweg.
Wir setzen dabei auf das Prinzip "Hinschauen statt Wegsehen" mit klaren Meldewegen, rechtssicheren Verfahren und fachlicher Unterstützung. Prävention und Gefahrenabwehr müssen hier Hand in Hand gehen und dabei über Zuständigkeitsgrenzen hinweg. Mein Dank der gesamten Bildungsfamilie, dass das so gelebt wird. Wir haben selbst erst jüngst im Rahmen einer gezielten, schändlichen, strafbaren Bombendrohungskette an jeder 10. weiterführenden Schule im Land erlebt, wie wachsam und gut eingespielt unsere Schulgemeinschaften sind. Schule ist ein Lebensraum und auch Schutzraum zugleich. Dies gilt es immer wieder in Einklang mit der Freiheit für Entwicklung zu bringen.
Zur Person
Bildungsminister Sven Teuber wurde am 30. Oktober 1982 in Nordhorn geboren. Nach seinem Abitur im Jahr 2003 studierte er Germanistik und Politikwissenschaft für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Trier. Nach dem zweiten Staatsexamen war er von 2014 bis 2016 als Studienrat am Siebenpfeiffer-Gymnasium Kusel tätig. Seit 2016 ist Teuber Mitglied des rheinland-pfälzischen Landtags und war dort bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, bevor er im Mai 2025 das Amt des Bildungsministers des Landes Rheinland-Pfalz übernahm.