TK: Herr Professor Jahn, Sachsen-Anhalt ist das Bundesland mit der ältesten Bevölkerung und zudem ein Flächenland. Auf welche Art und Weise kann eine Digitale Residenz-Praxis zur Sicherstellung einer gleichwertigen Gesundheitsversorgung in Stadt und Land beitragen?

Prof. Dr. Patrick Jahn: Das stimmt. Sachsen-Anhalts Zahl der Pflegebedürftigen ist überdurchschnittlich. Es ist Realität, dass die Sicherstellung der fachärztlichen Versorgung auf dem Land vor enormen Herausforderungen steht. Die medizinisch-pflegerische Versorgung muss integrierter und digitaler werden, das setzen wir bereits in vielen anderen Projekten um. Gemeinsam mit den Betroffenen entwickeln wir digital-gestützte Versorgungsmodelle, die nutzerzentriert sind und co-kreativ mit den Menschen entwickelt werden.

Dass Herzinsuffzienz-Betroffene sich ihrem Kardiologen mittels Tablet näher als je zuvor fühlen, beobachten wir in einem derzeit laufenden Projekt, welches pflegegeleitet organisiert ist und vielversprechende Ergebnisse liefert. In der Digitalen Residenz-Praxis werden wir Menschen mit chronischen Erkrankungen hybrid versorgen und den Pflegebedürftigen vor Ort eine kompetente Pflegefachperson an die Seite stellen. Sie ist befähigt, digitale Unterstützung gezielt einzusetzen, wo sie benötigt wird, und so die Verbindung zur fachärztlichen Versorgung sicherzustellen. Sie wird außerdem, bislang einzigartig in Deutschland, für Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 und chronischen Wunden heilkundliche Tätigkeiten übernehmen.

Die Digitale Residenz-Praxis wird gleichzeitig auch Modellprojekt entsprechend des Paragraf 64d SGB V sein. Wir sind uns sicher, dass die innovative Lösung aus Sachsen-Anhalt damit zu einer Blaupause für die anderen Länder werden kann.

Prof. Dr. Patrick Jahn

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Professor für Versorgungsforschung/Pflege im Krankenhaus, Universitätsmedizin Halle (Saale)

TK: Welche Herausforderungen haben sich in der Entwicklung und praktischen Umsetzung bisher ergeben?

Jahn: Die Entwicklungsarbeit einer funktionsfähigen Digitalen Praxis im Pflegeheim und die Umsetzung von Telemedizin, über eine Videosprechstunde hinaus, bringt eine Vielzahl an Herausforderungen mit sich. Bedeutende Hürden sind die Personalgewinnung, die IT-Infrastruktur, die Abrechnung telemedizinischer Leistungen sowie die Gewinnung von Ärzten für diese innovative Idee.

Die Personalgewinnung stellt eine zentrale Hürde dar, da qualifiziertes Fachpersonal im Gesundheitswesen knapp ist. Der Einsatz von Telemedizin erfordert spezialisiertes Personal, das mit den digitalen Technologien vertraut ist und in der Lage ist, die Technik bedarfsgerecht einzusetzen. An der Universitätsmedizin bilden wir in einem primärqualifizierten Bachelorstudiengang "Evidenz-basierte Pflege" Pflegekräfte aus, die über nötige Qualifikationen, aber noch wenig Berufserfahrung verfügen. Wir werden uns hier breit aufstellen müssen. 

Die nötige IT-Infrastruktur und Praxisausstattung bildet eine weitere Herausforderung. Die Integration von Telemedizin erfordert nicht nur leistungsfähige Hardware, sondern auch eine sichere und datenschutzkonforme Vernetzung verschiedenster Systeme. Auch die Abrechnung telemedizinischer Leistungen ist ein komplexes Thema, das bisherige Abrechnungssysteme vor neue Herausforderungen stellt. Es fehlen einheitliche Standards und klare Regelungen, wie telemedizinische Leistungen abgerechnet werden können. Und welche Gesundheitsfachberufe an welchen Stellen tätig werden. Es braucht dieses Projekt, um neuartige Behandlungspfade zu erarbeiten, die all diese Fragen beantworten und bisher bekannte Strukturen neu denken.

Die Gewinnung von Ärztinnen und Ärzten für die Umsetzung telemedizinischer Projekte gestaltet sich nicht immer leicht. Viele Ärzte sind skeptisch gegenüber digitalen Lösungen oder haben Bedenken bezüglich der Qualität der Patientenversorgung und auch ohne dies schon eine hohe Arbeitsdichte. In der gemeinsamen Entwicklung und Erprobung digital-gestützter Versorgungsformen können wir uns diesen Hürden stellen und die Potentiale der Telemedizin optimal ausschöpfen gerade durch die neue Aufgabenteilung zwischen den Gesundheitsberufen.

TK: Das Schlagwort "Digitalisierung" ist auch im Gesundheitswesen mit vielen Hoffnungen verbunden. Welches Herzensprojekt würden Sie in den nächsten fünf Jahren gern realisieren und warum gerade dieses? 

Jahn: Tatsächlich ist es so: Wir müssen es schaffen, die Projektergebnisse in die Realität zu transformieren. Dazu braucht es neben tragfähigen Finanzierungsmodellen vor allem die Offenheit aller beteiligten Akteurinnen und Akteure, um auch ins Handeln zu kommen. Wir müssen weg vom Modell und rein die Versorgung. Das zeigen uns die skandinavischen Länder, die hier schon weiter vorangegangen sind, beispielsweise in digital-gestützten Nachsorgenetzwerken. Hierfür brauchen wir digitale Schnittstellen, um die Brücke aus dem Ballungsraum in die ländlichen und strukturschwachen Regionen zu bauen. Hier setzen wir bereits vieles in Projekten um und greifen auf digital-gestützte Versorgungsnetzwerke zurück, zum Beispiel durch die digital-gestützte Versorgung von Menschen mit onkologischen Erkrankungen durch unsere hybride Sport- und Bewegungstherapie.

Mein Herzensprojekt?  Ein Ökosystem schaffen, welches die Menschen, die Versorgung benötigen, noch mehr einbindet und mit den Personen interagieren lassen, die die Technik entwickeln - sodass wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz nah bei den Betroffenen und Anwendern sind. Aus dieser Beteiligung heraus können sie so ein Vertrauen in die Digitalisierung aufbauen - sie als Möglichkeit der Entwicklung verstehen und nicht als notwendiges Übel, welches Versorgungslücken stopft.

Digitalisierung soll nicht nur den Notstand beheben, sondern von den Menschen als Instrument zur kontinuierlichen Beteiligung, Entwicklung und Verbesserung verstanden werden. Nur in dieser gegenseitigen Offenheit und Vertrauen können wir die Chancen zur umfassenden Verbesserung des Gesundheitswesens realisieren. 

Übrigens: Mehr zum Thema "Digitale Residenz-Praxis" lesen Sie im Interview mit Dr. Tobias Gantner, Geschäftsführer der HealthCare Futurists GmbH.

Zur Person

Prof. Dr. Patrick Jahn ist gelernter Krankenpfleger und studierte Pflege- und Gesundheitswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und McMaster University Hamilton, Ontario (Kanada). Jahn leitete fast zehn Jahre lang die Stabsstelle Pflegeforschung am Universitätsklinikum Halle (Saale), bevor er den Ruf als Professor für Versorgungsforschung an die Universität Tübingen annahm. 2020 kehrte er nach Halle zurück und trat die Professur "Versorgungsforschung | Pflege im Krankenhaus" an. Hierbei kombiniert er bundesweit einmalig in einer pflegewissenschaftlichen Professur die Aufgaben von Lehre und Forschung mit Krankenversorgung. Er leitet das Transformationsprojekt TDG (Translation für digitalisierte Gesundheitsversorgung), welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 15 Millionen Euro gefördert wird.