TK: Herr Dr. Gantner, was muss man sich unter einer Digitalen Residenz-Praxis vorstellen und wie ist der aktuelle Stand der Umsetzung?

Dr. Tobias Gantner: In vielen ländlichen und einigen städtischen Regionen Deutschlands konfrontieren die demografische Entwicklung und der Fachärztemangel die medizinische Versorgung in Pflegeheimen mit erheblichen Herausforderungen. Die Situation ist durch lange Wartezeiten auf fachärztliche Konsultationen gekennzeichnet, was nicht nur ineffizient, sondern auch belastend für die Betroffenen und das Pflegepersonal ist. Angesichts dieser Problematik eröffnet die Digitale Residenz-Praxis (DRP) einen innovativen Weg, um die Versorgungslücke effektiv zu schließen.

Die DRP ermöglicht es, mithilfe moderner telemedizinischer Geräte, die eine sowohl synchrone als auch asynchrone Diagnostik erlauben, Pflegekräfte in die medizinische Erstversorgung zu integrieren. Diese agieren als Bindeglied zwischen den Hausärzten und den Fachärzten, indem sie diagnostische Aufgaben übernehmen und die Ergebnisse digital zur Verfügung stellen. So können Fachärztinnen und Fachärzte Patienten virtuell untersuchen und bei Bedarf Ratschläge erteilen oder Behandlungen einleiten.

Das Projekt, welches offiziell im April 2023 startete, folgt einer dreijährigen Planungsphase und wird durch öffentliche Gelder unterstützt. Es umfasst die Beschaffung spezialisierter medizinischer Geräte, die Schulung des Pflegepersonals und die Implementierung neuer IT-Systeme. Ziel ist es, die medizinische Versorgung in Pflegeheimen effizienter zu gestalten, die Wartezeiten auf Facharzttermine erheblich zu verkürzen und gleichzeitig die Qualität der Patientenbetreuung zu verbessern. Durch den Einsatz der DRP wird eine Brücke zwischen traditioneller und digitaler Medizin geschlagen, wobei der menschliche Aspekt der Patientenversorgung im Vordergrund steht.

Dr. Tobias Gantner

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Geschäftsführer der HealthCare Futurists GmbH

TK: An diesem Projekt wirken neben der HealthCare Futurists GmbH und der Universitätsmedizin Halle auch zwei Pflegeeinrichtungen mit. Wie sieht die Zusammenarbeit der Beteiligten aus und wie gestaltete sich diese in Bezug auf die Hausärztinnen und -ärzte der Bewohnerinnen und Bewohner?

Gantner: In der Zusammenarbeit an einem Gesundheitsprojekt in Pflegeheimen hat sich zwischen allen Beteiligten ein starker Gemeinschaftssinn entwickelt, getrieben von dem Ziel, das Gesundheitswesen zu verbessern. Trotz finanzieller Unattraktivität für die Pflegeheime unterstützt das Management das Projekt vollends. Es fördert nicht nur ein neues pflegerisches Selbstverständnis, das näher am Patienten ist, sondern schafft auch neue Berufsbilder durch den Studiengang evidenzbasierte Pflege.

Das Interesse der Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner am Projekt ist groß, motiviert durch veränderte Zugänge zur ärztlichen Versorgung aufgrund demografischen Wandels und mangelnder medizinischer Anreize auf dem Land. Um das Projekt in der Region bekannt zu machen, wurden Ärztinnen und Ärzte persönlich kontaktiert und zu einem Kick-off eingeladen, auch wenn dabei noch Kapazitäten für weitere Teilnehmende waren. Das Projekt zielt auf ein kooperatives Modell ab, das Gestaltungsspielraum bietet und darauf ausgerichtet ist, dem Gesetzgeber Empfehlungen für zukünftige Vergütungsstrukturen zu geben. Es steht offen für alle, die konstruktiv mitarbeiten und lernen wollen, während es gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Vorstellungen von ambulanter Versorgung herausfordert.

TK: Das Schlagwort "Digitalisierung" ist auch im Gesundheitswesen mit vielen Hoffnungen verbunden. Welches Herzensprojekt würden Sie in den nächsten fünf Jahren gern realisieren und warum gerade dieses?

Gantner: Mein Weg begann auf einem humanistischen Gymnasium, wo ich eine tiefe Leidenschaft für die klassischen Sprachen und die Bedeutung der Multidisziplinarität entdeckte. Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, die zunehmend digitale und komplexe Welt kritisch zu betrachten. Ich bin überzeugt, dass Bildung uns lehrt, nicht blindlings jedem Trend zu folgen, indem sie uns zeigt, dass bereits Generationen vor uns mit ähnlichen Fragen konfrontiert waren und Antworten gefunden haben, die es auch heute noch zu verstehen gilt.

In meinem Unternehmen vereine ich Technologie mit Bildung, Beziehung und Kommunikation. Ich sehe Digitalisierung als ein Werkzeug, um neue Wege zu erkunden und unser Wissen zu erweitern. Technologische Durchbrüche wie die Erfindung der Brille zeigen, wie Technologie unsere Fähigkeiten erweitern kann. Ich glaube, dass künstliche Intelligenz in der Medizin und den Naturwissenschaften ähnlich transformative Auswirkungen haben wird.
Über unseren Podcast "Mehr Einsatz Wagen" tragen wir zur digitalen Transformation des Gesundheitswesens bei und fördern Bildung und demokratischen Diskurs. Mein Ziel ist es, Entscheidungen auf einer soliden Bildungs- und Beziehungsbasis zu fundieren, um sowohl technologische als auch demokratische Werte zu stärken.

Mit 50 reflektiere ich über das Gesundheitssystem, das meiner Generation und mir dient. Angesichts der OECD-Daten, die Deutschland hinsichtlich der Effizienz der Gesundheitsausgaben hinter anderen Ländern sehen, erkenne ich dringenden Handlungsbedarf. Ich bin bereit, mich für Projekte zu engagieren, die das Gesundheitssystem verbessern und an die Bedürfnisse unserer Zeit anpassen.

Übrigens: Mehr zum Thema "Digitale Residenz-Praxis" lesen Sie im Interview mit Prof. Dr. Patrick Jahn, Professor für Versorgungsforschung/Pflege im Krankenhaus, Universitätsmedizin Halle (Saale).

Zur Person

Dr. Tobias Gantner studierte Humanmedizin, Philosophie, Gesundheitsökonomie sowie Rechtswissenschaften in Deutschland, der Schweiz, der Volksrepublik China und in den USA. Er war Assistenzarzt in der Transplantationschirurgie und unter anderem für Siemens Healthcare, Novartis Pharma, Bayer Healthcare sowie Johnson&Johnson in Leitungsfunktionen tätig. Dr. Gantner ist Gründer und Geschäftsführer der HealthCare Futurists GmbH, einem international agierenden Unternehmen und Netzwerk von innovativen Persönlichkeiten, einem Think und Make Tank.  

Zu den Entwicklungen seiner Unternehmen gehört der 3D Druck von Medikamenten, die XR Gamification zur Vermittlung komplexer medizinischer Sachverhalte, die erste internationale Datenspendeplattform für COVID Daten, die Entwicklung von KI Systemen zur Impfstofferstellung, der Einsatz von KI bei der Vorhersage von Ergebnissen der Nutzenbewertung und die Gründung der ersten Ohnearztpraxen und Digitalen Residenz-Praxen zur medizinischen Versorgung auf dem Land.