TK: Womit beschäftigt sich die Wirtschaftsethik? Welche Forschungsschwerpunkte berühren das Gesundheitssystem?

Prof. Dr. Bernhard Emunds: Wenn von Wirtschaftsethik die Rede ist, denken die meisten an Unternehmensethik: dass gefragt wird, welche Verpflichtungen und Möglichkeiten haben Unternehmen und ihr Management für eine sozial und ökologisch verträgliche Wertschöpfung, welche Mitverantwortung haben sie für das Wohlergehen der Kommunen, Regionen und Länder, in denen sie tätig sind. Das sind zweifellos wichtige Fragen, aber bei der Wirtschaftsethik geht es eigentlich um die politische Gestaltung von Wirtschaft, um die Wirtschaftsordnung: Was bedeutet es überhaupt, zu "wirtschaften"? Auf welche Ziele sollen die wirtschaftlichen Aktivitäten der vielen Privaten, der Gebietskörperschaften und der zivilgesellschaftlichen Organisationen gelenkt werden? Bei welchen Waren und Dienstleistungen ist es gut, auf Markt und Wettbewerb zu setzen, auf Privateigentum und gewinnorientiertes Wirtschaften? Bei welchen Gütern hat der Staat eine Verantwortung dafür, dass sie allen in guter Qualität zugänglich sind? Welche Dienstleistungen sollte der Staat besser selber übernehmen oder sie ausschließlich gemeinnützigen Organisationen übertragen?

Prof. Bern­hard Emunds

Prof. Bernhard Emunds, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik

Dabei hat schon die erste Frage der Wirtschaftsethik - was heißt es denn überhaupt zu wirtschaften? - viel mit dem Gesundheitssystem zu tun, insgesamt viel mit jenen Bereichen der Gesellschaft, in denen personenbezogen Dienstleistungen erbracht werden. Wenn es der Kern des Wirtschaftens ist, möglichst hohe Gewinne zu erzielen, dann fallen einem natürlich mit der Pharmabranche und den Herstellern medizinischer Geräte sofort Akteure des Gesundheitswesens ein, die durch und durch "Wirtschaft" sind. Aber die meisten derjenigen, die Gesundheitsdienstleistungen erbringen, sind dann außen vor oder kommen allenfalls am Rande in den Blick.

Geht es beim Wirtschaften jedoch darum, dass wir arbeitsteilig füreinander tätig werden, dass wir Leistungen füreinander erbringen, die für unser Leben, für unsere persönliche Entfaltung und ein gutes Zusammenleben bedeutsam sind, dann steht die Gesundheitsbranche und dann stehen die personenbezogenen Dienstleistungen insgesamt mit im Zentrum dessen, was wir Wirtschaft nennen. Und innerhalb der Branche werden vor allem die vielen Menschen in den Fokus gerückt, die sich mit besonderen Kompetenzen und viel Herzblut für die Gesundheit der Patientinnen und Patienten einsetzen und die zumeist in Organisationen arbeiten, deren oberstes Ziel gerade nicht ein möglichst hoher Gewinn ist. 
Eine nächste grundlegende Frage ist dann, wie die höchst vielfältigen Leistungen - hier: medizinischen Leistungen - koordiniert werden sollen. Welche Rolle soll dabei das Geld spielen? Wo braucht es die besondere Effizienz privater gewinnorientierter Unternehmen und was steht auf dem Spiel, wenn man diese "machen lässt"? 

TK: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für unser Gesundheitssystem?

Prof. Emunds: Die zentrale Herausforderung besteht darin, den Zugang aller zu qualitativ hochwertigen Leistungen, die medizinisch und pflegewissenschaftlich state of the art sind, abzusichern. Dazu muss die Entwicklung in Richtung einer Zweiklassenmedizin aufgehalten und müssen vor allem ausreichend Fachkräfte ausgebildet werden. 

Weil es um den Zugang aller geht, sind die Leistungen öffentlich bzw. durch die Sozialversicherungen zu zahlen. Dies führt dazu, dass die Expansion des Gesundheitssystems fast gar nicht als Wachstum einer Branche wahrgenommen wird, die für das Wohlergehen von Menschen essenziell ist. Vielmehr geht der Fokus ganz einseitig auf die Kostenseite dieser Expansion, an der selbstverständlich niemand vorbeikommt. Hier halte ich die Riesengewinne einiger Pharmakonzerne für ein zentrales Problem, das politisch angegangen werden kann und muss. 

Ein anderes Kostenproblem ist jedoch fundamentaler. Es hat mit dem Charakter der meisten Gesundheitsdienstleistungen zu tun und kann daher auch nicht durch irgendeine Gesundheitsreform überwunden werden. Die meisten Gesundheitsdienstleistungen sind personenbezogene Dienstleistungen; sie werden in Interaktionsarbeit erbracht. In dem Moment, in dem eine Dienstleistung erbracht wird, kann eine dienstleistende Person zumeist nur mit einer Patientin oder einem Patienten interagieren. Das schränkt die Möglichkeiten, die quantitative Arbeitsproduktivität zu erhöhen, enorm ein. Hinzu kommt, dass es sich bei Gesundheitsdienstleistungen zumeist um Vertrauensgüter handelt, die nur dann erfolgreich erbracht werden können, wenn die jeweiligen Dienstleistungsnehmerinnen und -nehmer kooperieren. Sie müssen den Personen, welche die Dienstleistung erbringen, vertrauen, dass es diesen wirklich um ihr, der Patientinnen bzw. Patienten, Wohl geht. Folglich ist es nicht möglich, die Zahl der in einer Stunde durch eine Person erbrachten Dienstleistungen immer weiter zu erhöhen. 

Da es im Unterschied dazu in der Industrie und bei unternehmensbezogenen Dienstleistungen immer wieder zu erheblichen Produktivitätssteigerungen kommt, müssen Gesundheitsdienstleistungen mit der Zeit - im Vergleich zu anderen Gütern - immer teurer werden.
Zu diesem Kostenproblem, das erstmals der US-amerikanische Ökonom William J. Baumol (1922-2017) analysiert hat, kommt die demographische Entwicklung hinzu: Weil der Altersdurchschnitt der Gesellschaft steigt, wird in den nächsten Jahrzehnten der Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen pro Kopf deutlich steigen. Beide Aspekte zusammen, der Baumolsche Anstieg der Kosten pro Dienstleistung und das quantitative Wachstum der Dienstleistungen, werden einen enormen Kostenanstieg verursachen.

TK: Welche gesellschaftliche Bedeutung hat unser solidarisch finanziertes System?

Prof. Emunds: In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat der häufig als Neoliberalismus bezeichnete Marktliberalismus enorm an Bedeutung gewonnen. Auch danach blieben marktliberale Narrative wichtige Referenzpunkte der meisten wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten. Zuletzt scheint der Einfluss marktliberalen Denkens wieder gestiegen zu sein. Der Marktliberalismus geht von Subjekten aus, die von Anfang an autonom sind und im Wesentlichen sogar autark. Schließlich sind für ihn Menschen nicht immer schon in Kooperationen eingebunden, sondern sie können sich - je nachdem, was für sie vorteilhafter ist - für oder eben auch gegen Kooperationen mit anderen entscheiden.

Dem System der Sozialversicherungen liegt ein anderes - man könnte sagen: solidarisches - Menschenbild zugrunde: Wenn uns etwas gelingt, auch wenn wir wirtschaftlich erfolgreich sind, dann ist das nur möglich, weil wir durch die Sorge-, Erziehungs- und Bildungsarbeit anderer zu autonomen und selbstbewussten Menschen wurden, weil wir auf das Wissen, die tools, die Infrastruktur zurückgreifen, die andere geschaffen haben, und weil wir mit anderen kooperieren. Unsere Erfolge, aber auch unsere Freiheit und unsere Entfaltungschancen beruhen also in vielfältiger Weise auf der Arbeit und den Leistungen anderer. Spiegelbildlich dazu schulden wir jeweils den anderen Mitgliedern der Gesellschaft, dass sie über ähnlich gute Entfaltungschancen verfügen wie wir.

Wir sind auf ein funktionierendes Gemeinwesen angewiesen und auf die solidarischen Leistungen der anderen dafür, dass es ein solches Gemeinwesen gibt. Auf diese Solidarität sind wir alle angewiesen und nicht nur Langzeitarbeitslose, Hochbetagte und Kranke. Zudem ist es essentiell, dass wir, wenn wir arbeitslos, alt oder krank werden, uns darauf verlassen können, auskömmlich abgesichert zu sein sowie die Hilfe und die Leistungen auch wirklich zu erhalten, derer wir bedürfen. Ermöglicht wird dies durch das solidarische System der gesetzlichen Sozialversicherungen. Neben der progressiven Einkommensteuer ist dieses System der wichtigste Ausdruck der Einsicht, dass wir alle voneinander abhängig und auf Solidarität angewiesen sind. Wenn wir es zulassen, dass das solidarische Versicherungssystem unter die marktliberalen Räder gerät, wird es den allermeisten von uns wesentlich schlechter gehen als bisher.

TK: Wie viel Wettbewerb verträgt und braucht unser System?

Prof. Emunds: Im Gesundheitssystem ist es in den meisten Bereichen eine Illusion zu glauben, dass Patientinnen und Patienten, die auf Hilfe angewiesen sind, als souveräne Kundinnen bzw. Kunden auftreten, die nüchtern Nachfrageentscheidungen treffen. Im Gesundheitssystem geht es nur selten um Märkte, auf deren Angebots- und Nachfrageseite jeweils viele Akteure ihren Vorteil suchen.

Zumeist sind es staatliche Stellen oder Krankenversicherungen, die Gesundheitsdienstleistungen bestellen und bezahlen. Wenn diese zwischen den Anbietern der Dienstleistungen Wettbewerb entfachen wollen, geht es ihnen zumeist darum, ihre eigene Position gegenüber den Dienstleistern zu stärken, also die Dienstleistungserbringung stärker zu kontrollieren. Das muss nicht in jedem Falle schlecht sein, führt aber nicht selten zu einem knallharten Preiswettbewerb und/oder zu einer massiven Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten professioneller Akteure. Eingeschränkt werden also ausgerechnet die Handlungsspielräume der Personen, die mit ihrem beruflichen Ethos auf das Wohl der Patientinnen und Patienten ausgerichtet sind und am besten wissen, welche Maßnahmen situations- und personengerecht sind.

Wettbewerb zwischen solidarisch finanzierten Krankenkassen steht vor dem Problem, dass die einzelnen Kassen aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte unterschiedliche Gruppen von Menschen versichern. Kassen mit vielen Menschen in gut bezahlten, gesundheitlich wenig belastenden Berufen können ihren Versicherten mehr Leistungen zu geringeren Beitragssätzen anbieten als Kassen, deren Versicherte zumeist über ein geringes Einkommen verfügen und höheren Gesundheitsrisken ausgesetzt sind. Wettbewerb erfordert Vertragsfreiheit. Die Gesundheitspolitik versucht mit dem Risikostrukturausgleich gegenzusteuern und schränkt die Vertragsfreiheit ein. Aber Wettbewerb würde Vertragsfreiheit erfordern. Wären beide Seiten frei, neue Verträge einzugehen, dies abzulehnen und bestehende Verträge zu kündigen, würden sich die Beitragssätze und das Sicherungsniveau der Kassen zügig sehr deutlich auseinanderentwickeln.

TK: Darf man mit Gesundheit Geld verdienen?

Prof. Emunds: Professionelle Gesundheitsdienstleistungen gibt es nur, wenn diejenigen, die sie erbringen, gute Arbeitsbedingungen haben - und das heißt eben auch: ordentlich verdienen. Problematisch wird es, wenn Einrichtungen des Gesundheitssystems rein gewinnmaximierend geführt werden, wenn die Ziele der Einnahmegenerierung und der Kostensenkung an die oberste Stelle rücken. Private Equity-Fonds sind deshalb als Eigentümer von Pflegeheimen, Krankenhäusern und Medizinischen Versorgungszentren ungeeignet. Kriminell wird es, wenn das Gewinnziel so in den Vordergrund rückt, dass es zu Abstrichen bei der Versorgung kommt oder unnötige, kostenintensive Behandlungen durchgeführt werden.

Zur Person: 

Prof. Dr. Bernhard Emunds, geb. 1962, lehrt seit 2005 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main Christliche Sozialethik und leitet dort das Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Er studierte Katholische Theologie und Volkswirtschaftslehre und ist auf Fragen der Wirtschaftsethik spezialisiert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Ethik der Erwerbs- und der unbezahlten Sorgearbeit, die Ethik des Sozialstaats sowie die Ethik der internationalen Finanzmärkte. Seit Mai 2025 kooperiert er in einem Forschungsprojekt zur Anwerbung von Gesundheitsfachpersonal aus dem Ausland.