TK: Frau Staatssekretärin, im Gesundheitssystem werden auf Bundes- und Landesebene viele Reformen diskutiert. Für viele Akteure im Gesundheitswesen ist beispielsweise die Reform der Notfallversorgung und des Rettungsdienstes lange überfällig. Auch die TK hat dazu aktuelle Vorschläge veröffentlicht. Wie ist Ihre Sicht darauf? Welche Probleme müssen am dringendsten in Niedersachsen gelöst werden?

Dr. Christine Arbogast: Eine Notfallreform ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten nächsten Reformvorhaben. Unser Gesundheitssystem sieht sich derzeit mit vielen Herausforderungen gleichzeitig konfrontiert: überfüllte Notaufnahmen, zu wenig Fachkräfte, Rettungs- und Bereitschaftsdienste an der Belastungsgrenze. Um Patientinnen und Patienten besser zu steuern und knappe Ressourcen effizient einzusetzen, brauchen wir dringend eine bessere Notfallstruktur.

Eine Notfallreform ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten nächsten Reformvorhaben. Dr. Arbogast, Staatssekretärin Sozialministerium

Dr. Chris­tine Arbo­gast

Staatssekretärin Dr. Christine Arbogast Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Niedersächsische Staatssekretärin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung. 

TK: Ein zentrales Ziel der Notfallreform ist es, Patientinnen und Patienten dabei zu unterstützen, dass sie direkt in die richtige Versorgungsstruktur gelangen, beispielsweise durch eine digitale Ersteinschätzung. Wie kann das in Niedersachsen aus Ihrer Sicht konkret umgesetzt werden?

Dr. Arbogast: Niedersachsen setzt hier bereits mit kvn.akut Maßstäbe. Über die 116 117 erhalten Patientinnen und Patienten seit diesem Jahr eine digitale Ersteinschätzung und in mehr als 70 Prozent der Fälle kann die Behandlung direkt telemedizinisch abgeschlossen werden. Schnell, unkompliziert und ohne unnötige Wege in die Notaufnahme. Zudem arbeiten wir daran, die 116 117 technisch mit der 112 zu verzahnen. Dies ist eine wichtige Grundlage, damit Fälle digital übergeben werden können und eine effizientere Abwicklung möglich wird. Wir brauchen definitiv mehr Einsatz von Telemedizin und erweiterte Kompetenzen für das nicht-ärztliche Personal. Ich hoffe, dass der Bund hier die entscheidenden Weichen stellt. 

Darüber hinaus ist aus meiner Sicht die Einrichtung Integrierter Notfallzentren mit Notaufnahme und Notdienstpraxis der Kassenärzte ein geeignetes Instrument. Schließlich können viele Fälle auch ambulant behandelt werden. Das bringt mehr Entlastung ins System.

Darüber hinaus ist aus meiner Sicht die Einrichtung Integrierter Notfallzentren mit Notaufnahme und Notdienstpraxis der Kassenärzte ein geeignetes Instrument. Dr. Arbogast, Staatssekretärin Sozialministerium

TK: Auch in der ärztlichen Versorgung werden derzeit einige grundlegende Veränderungen diskutiert. Inwieweit kann bei einer Reform der ambulant ärztlichen Versorgung auch die Berücksichtigung der geschlechterspezifischen Gesundheitsversorgung eine Rolle spielen? Wie könnte dabei die Digitalisierung unterstützen?

Dr. Arbogast: Ich freue mich sehr über diese Diskussion. Viel zu lange wurde ignoriert, dass Frauen und Männer unterschiedliche Krankheitsbilder und Symptome aufzeigen können. Es ist erwiesen, dass viele Frauen sogenanntes Medical Gaslighting erfahren, also ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden und sie dadurch länger leiden und schlechter behandelt werden. Das zu ändern, bedarf stetiger Sensibilisierung aller im Gesundheitswesen Tätigen. 

Der Digitalisierung kommt dabei allerdings auch eine wichtige Rolle zu. Sie kann unterstützen, geschlechterspezifisch Diagnosedaten zu ermitteln, Befunde auswerten und verknüpfen und so eine zielgerichtete Behandlung ermöglichen. Am Ende ist jedoch auch klar, dass technischer Fortschritt die Expertise einer Ärztin oder eines Arztes nicht vollständig ersetzen kann.

TK: Niedersachsen hat in den letzten Jahren einige Initiativen zur Förderung der Frauengesundheit wie etwa das Netzwerk Frauen, Mädchen und Gesundheit in Niedersachsen umgesetzt. Was sind aus Ihrer Sicht die größten gesundheitlichen Herausforderungen mit denen Frauen in Niedersachsen aktuell konfrontiert sind? 

Dr. Arbogast: Frauengesundheit ist eine Gerechtigkeitsfrage! Denn ein wichtiger Einflussfaktor auf die Gesundheit ist die Lebenssituation. Frauen werden im Durchschnitt noch immer deutlich schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen und sind somit häufiger von Armut bedroht. Sie übernehmen außerdem nach wie vor die meisten Pflegeaufgaben - sowohl für Kinder als auch für die ältere Generation. Es fehlt oft Zeit, Geld und Mobilität, um sich ausreichend um die eigene Gesundheit zu kümmern. Gleichzeitig hat jede dritte Frau in ihrem Leben bereits schon einmal Gewalt erfahren. Und von der Geburtshilfe bis zur Versorgung hochbetagter Menschen: Die Schließung von Einrichtungen und der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen trifft Frauen oft stärker als Männer. 

Frauengesundheit ist eine Gerechtigkeitsfrage! Dr. Arbogast, Staatssekretärin Sozialministerium

In der Medizin ist es noch nicht lange her, dass der Mann als selbstverständliche Norm galt und die geschlechterspezifischen Bedarfe von Frauen, beispielsweise bei Behandlungen oder medizinischen Produkten, nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Gerade das Zusammenspiel von hormonellen Prozessen und körperlichen Beschwerden ist inzwischen besser erforscht und bekannt. Hier erleben wir glücklicherweise seit einigen Jahren ein Umdenken, aber wir sind längst noch nicht am Ziel.

TK: Und nicht zuletzt stellt die Pflegereform eine der zentralen gesundheitspolitischen Aufgaben dar. In Niedersachsen beschäftigt sich schon seit mehreren Jahren die Konzertierte Aktion Pflege Niedersachsen (KAP:Ni) mit diesem wichtigen Thema. Wie ist der aktuelle Stand und was sind die zukünftig zu bearbeitenden Themen? 

Dr. Arbogast: Über die KAP:Ni haben wir u.a. bereits eine bessere Vergütung der Kurzzeitpflege und einen Ausbau der Angebote zur Unterstützung im Alltag erreicht und damit einen starken Anreiz für eine Verbesserung des Angebots sowie eine Entlastung für pflegende Angehörige gesetzt. Mit dem aus Landesmitteln finanzierten Programm Komm.Care unterstützen wir zugleich die Kommunen dabei, eine qualitativ hochwertige Pflegeberichterstattung aufzubauen und in eine pflegerische Versorgungsplanung einzusteigen. Hinzu kommen die Förderprogramme "Stärkung der ambulanten Pflege im ländlichen Raum", "Wohnen und Pflege im Alter" und "Gemeinsame Modellvorhaben". 

Aktuell sind wir dabei, mit den Partnerinnen und Partnern der KAP.Ni, zu denen auch die Pflegekassen gehören, unseren 10-Punkte-Plan intensiv umzusetzen. Der Fokus liegt hier vor allem auf Fachkräftegewinnung, Unterstützung für pflegende Angehörige, Entbürokratisierung und Digitalisierung. Darüber hinaus haben wir umfangreiche Maßnahmen zur Gewinnung von Pflegeassistenzkräften auf den Weg gebracht. Die bisherige Bilanz findet sich auch in einem von uns veröffentlichten Zwischenbericht wieder. Und bezüglich einer Pflegereform arbeitet Niedersachsen engagiert im "Zukunftspakt Pflege" mit, die Eckpunkte sollen bereits im Dezember stehen.

TK: Pflegekräfte leisten oft Herausragendes - Gibt es eine persönliche Begegnung mit einer Pflegeperson, die Sie besonders beeindruckt hat?

Dr. Arbogast: Meine Mutter hat die letzten Monate ihres Lebens in einer Pflegeeinrichtung verbracht. Ich habe dort etliche Pflegepersonen erlebt, die sich mit viel Liebe, Zuwendung und Geduld um die Pflegebedürftigen gekümmert haben. Das war nicht nur für meine Mutter gut, sondern hat auch mir und meiner Familie geholfen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die diese Arbeit machen und das - trotz der Belastungen - oft auch erkennbar gerne tun. 

Zur Person 

Dr. Christine Arbogast ist in Stuttgart geboren und seit November 2022 niedersächsische Staatssekretärin im Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung. 

Sie ist Historikerin und Politologin und war u.a. von Juli 2014 bis September 2018 Erste Beigeordnete der Universitätsstadt Tübingen. Ab Oktober 2018 war sie, bis zum Antritt als niedersächsische Staatssekretärin, als Dezernentin für Soziales, Schule, Gesundheit und Jugend der Stadt Braunschweig tätig.