TK: Herr Schmidt, vor einigen Wochen hat die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen ihren Bereitschaftsdienst restrukturiert. Warum war das aus Ihrer Sicht notwendig?

Thorsten Schmidt: Der Bereitschaftsdienst war in seiner bisherigen Form einfach nicht mehr zeitgemäß. Die Arbeit in den Praxen ist in den vergangenen Jahren komplexer und auch umfangreicher geworden. Neben dieser permanent steigenden Belastung in der Praxistätigkeit regelmäßig Fahrdienste zu übernehmen, stellte für die allermeisten unserer Mitglieder eine extrem hohe Zusatzbelastung dar. Immer weniger Ärztinnen und Ärzte können diese leisten. Viele Ärztinnen und Ärzte gaben ihre Dienste daher an Vertreter ab, was aber landesweit nicht durchgängig möglich ist. Zudem ist die Bereitschaftsdienstbelastung ein echtes Niederlassungshindernis. Das wird uns seit Jahren mit steigender Intensität zurückgespiegelt. Unser Fokus liegt darauf die tagtägliche Versorgung sicherzustellen, dazu müssen wir die in den nächsten Jahren ausscheidenden Ärztinnen und Ärzte durch Nachfolgerinnen/Nachfolger ersetzen. Eine deutliche Verringerung der Belastung durch Bereitschaftsdienste ist dabei ein elementarer Baustein.

Eine deutliche Verringerung der Belastung durch Bereitschaftsdienste ist dabei ein elementarer Baustein. Thorsten Schmidt, stellvertretender Vorsitzender KVN

Abgesehen davon waren die Diensteinteilungen in Niedersachsen recht ungleich verteilt. Das bringt ein Flächenland mit sich, unfair ist es trotzdem. Sprich die Ärztinnen und Ärzte in dünn besiedelten ländlichen Bereichen mussten öfters Bereitschaftsdienste leisten als die in Hannover oder Braunschweig. Auch das gibt es nun nicht mehr.

Thorsten Schmidt

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Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen
 

TK: Viele Patientinnen und Patienten landen mit Bagatellerkrankungen in der Notaufnahme. Kann kvn.akut hier helfen, dass Patientinnen und Patienten mit akuten Beschwerden zielgerichtet in die jeweils richtige Versorgungsebene (Hausarztpraxis, Bereitschaftsdienst, Notaufnahme) geleitet werden?

Schmidt: Ja - kvn.akut kann helfen, dass Patientinnen und Patienten mit akuten Beschwerden zielgerichtet in die jeweils richtige Versorgungsebene geleitet werden. Dafür müssen wir allerdings den telefonischen Erstkontakt über die 116117 mit ihnen haben. kvn.akut kann nicht dazu beitragen, die Patientinnen und Patienten zu steuern, die von sich aus die Notaufnahmen der Krankenhäuser aufsuchen. Dazu bräuchte es einer gesetzlichen Verpflichtung für die Patientinnen und Patienten vor Aufsuchen einer Notaufnahme die 116 117 zu kontaktieren. Für die Anrufer in der 116 117 verkürzt sich aber die Wartezeit bis zu einem telemedizinischen Erstkontakt zu einer Ärztin oder einem Arzt auf wenige Minuten. So entstehen für die Patienten keine langen Wartezeiten, in denen sie sich überlegen doch die 112 - also den Rettungsdienst - zu rufen.

Dazu bräuchte es einer gesetzlichen Verpflichtung für die Patientinnen und Patienten vor Aufsuchen einer Notaufnahme die 116 117 zu kontaktieren. Thorsten Schmidt, stellvertretender Vorsitzender KVN

TK: Der Knackpunkt liegt oft im Zusammenspiel zwischen Bereitschaftsdienst, Rettungsdienst und Klinik. Was macht kvn.akut konkret anders, damit Patienten nicht doppelt untersucht werden oder im System "verlorengehen"?

Schmidt: Die anrufenden Patientinnen und Patienten werden zunächst über eine spezielle Software medizinisch ersteingeschätzt. Schon hier erhalten sie einen Hinweis auf die richtige Versorgungsebene. Durch den telemedizinischen Kontakt mit einer niedersächsischen Ärztin oder einem Arzt erhalten sie schnell eine ärztliche Einschätzung. Die aktuellen Zahlen zeigen, dass über 70 Prozent aller Patientinnen und Patienten telemedizinisch abschließend ärztlich versorgt sind - bei Bedarf einschließlich eRezept und eArbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Diese Patientinnen und Patienten werden nicht die 112 anrufen oder die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen. Optimal wäre, wenn die 116117 mit der 112 enger verknüpft würde. Hier ist das Land gefordert, damit die Rettungsleitstellen mit einer digitalen Schnittstelle zur Übergabe der Patientinnen und Patienten ausgestattet werden. Wir sind dazu bereit und haben die technischen und mit der Reform im Fahrdienst auch die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen.

Diese Patientinnen und Patienten werden nicht die 112 anrufen oder die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen. Thorsten Schmidt, stellvertretender Vorsitzender KVN

TK: Welche Rolle spielen digitale Kommunikationssysteme im Rahmen von kvn.akut, und wie werden sie in bestehende Systeme wie 116117 integriert?

Schmidt: Die 116117 bleibt die zentrale Anlaufstelle und steuert wie bisher alle Anfragen der Patientinnen und Patienten. Hier erfolgt eine standardisierte medizinische Ersteinschätzung. Wir setzen SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung Deutschland) ein. Die Anruferinnen und Anrufer der 116117 werden - entsprechend ihres Beschwerdebildes und des daraus resultierenden notwendigen Behandlungszeitpunktes - in eine Versorgungsebene vermittelt. Das kann die Arztpraxis am Montagmorgen sein oder auch die Bereitschaftspraxis der KVN. Ist es dringender wird der Fall über die Dispositionszentrale direkt an einen Telemediziner weitergeleitet. Eine Ärztin oder ein Arzt ruft die Patienten dann entweder zurück, oder sie erhalten, über die Zusendung eines Links und TANs per SMS, direkten Zugang zu einer Videosprechstunde - ohne Download oder Installation von Apps oder anderen Anwendungen. Das erfolgt im Schnitt in 5 bis 10 Minuten. Über 70 Prozent der Fälle können wir an dieser Stelle bereits abschließend telemedizinisch behandeln. Ist dennoch ein Vor-Ort-Besuch notwendig, wird der medizinische Fahrdienst losgeschickt - bereitgestellt durch die Johanniter-Unfallhilfe. Dieser soll vor allem durch gut ausgebildete Gesundheitsfachkräfte erfolgen und nur im Bedarfsfall durch Ärztinnen und Ärzte. Es gibt aber natürlich auch Fälle, da müssen eine Ärztin oder ein Arzt vor Ort sein - nicht selten im Falle einer Leichenschau.

Über 70 Prozent der Fälle können wir an dieser Stelle bereits abschließend telemedizinisch behandeln. Thorsten Schmidt, stellvertretender Vorsitzender KVN

TK: Können Sie uns sagen, nach welchen Kriterien der Erfolg von kvn.akut gemessen wird - gerade in Bezug auf Patientenzufriedenheit, Versorgungsqualität oder die Entlastung der Notaufnahmen?

Schmidt: Der beste Gradmesser ist die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger. Bisher haben wir kaum Beschwerden erhalten. Zudem erhält jede Patientin/jeder Patient nach einem Videokontakt einen Link, um Feedback zu geben und um die telemedizinische Behandlung zu bewerten. Die Resonanz ist positiv. Und natürlich werden wir die Effekte auch statistisch auswerten. Dazu ist es aber noch zu früh.

Im Übrigen freue ich mich über jede Ärztin und jeden Arzt, der sich für eine Niederlassung in Niedersachsen entscheidet und als einen der Gründe dafür den Wegfall des verpflichtenden Fahrdienstes im Bereitschaftsdienst nennt.

Wenn dann noch die Krankenhäuser eine Entlastung ihrer Notaufnahmen registrieren bin ich zufrieden.