"Sport spielt schon immer eine wichtige Rolle in meinem Leben"
Interview aus Hessen
Giuseppina Dolle ist seit ihrem frühen Kindesalter blind. Bereits bei ihrer Geburt wurde bei ihr ein Grüner Star diagnostiziert. In ihrer Biografie haben Sport und Bewegung als Ausgleich zu ihrer Berufstätigkeit immer eine wichtige Rolle gespielt.
Wir haben mit Giuseppina Dolle über die Herausforderungen gesprochen, die das Blindsein mit sich bringt, warum Sport keine davon sein sollte und was sie an einem von der TK geförderten, inklusiven Sportprojekt sehr schätzt.
TK: Was sind Ihre ersten Erinnerungen, wie sich ihr Alltag durch Ihre Sehbehinderung verändert hat?
Giuseppina Dolle: Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich in meinen ersten Lebensjahren noch visuelle Eindrücke, vor allem Farben wahrnehmen konnte. Mit der Zeit wurde dies aber zunehmend schwieriger. Aufgewachsen bin ich im südlichen Niedersachsen in der Nähe von Göttingen und wurde in den 1970er Jahren - damals gab es an den Schulen noch keine Inklusion - in Hannover in eine landesweite Blindenschule mit Internat für blinde und stark sehbehinderte Kinder eingeschult. In diesem Alter von meinen Eltern und meinem Bruder getrennt zu sein, war ein großer Einschnitt für mich. Die zunehmende Sehbehinderung war aber eine so tiefgreifende Einschränkung, dass es unerlässlich war, bereits in der Grundschule damit umzugehen zu lernen. Später wechselte ich an die Karl-Strehl-Schule in Marburg, an das damals bundesweit einzige Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte, und habe dort mein Abitur absolviert.
Die zunehmende Sehbehinderung war eine so tiefgreifende Einschränkung, dass es unerlässlich war, bereits in der Grundschule damit umgehen zu lernen.
TK: Wie haben Ihre schulischen Erfahrungen Ihre weitere Entwicklung geprägt?
Dolle: Ohne die Unterstützung beider Schulen wäre ich bei Weitem nicht so selbstständig, wie ich es heute bin. Sehr wertvoll war für mich die Unterstützung von Lehrern und Mentoren, die mich immer wieder ermutigt und in meinem Weg bestärkt haben. Auch habe ich dort Freundschaften geschlossen, die bis heute bestehen. Eine weitere prägende Erfahrung war ein freiwilliges soziales Jahr im Bereich der Altenpflege direkt nach dem Abitur, weil ich dort sehr offen und auf Augenhöhe von der Stationsleitung und dem gesamten Team aufgenommen wurde.
Diese positiven Erfahrungen, aber auch mein Naturell, Herausforderungen anzunehmen, haben dazu beigetragen, dass ich immer wieder den Mut hatte, Neues auszuprobieren und meine Wünsche und Ziele Schritt für Schritt zu verwirklichen. Nach dem Abitur nahm ich ein Studium an der Gesamthochschule Kassel auf, das ich als diplomierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin abschloss. Im Anschluss absolvierte ich beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt eine zweijährige Weiterbildung zur wissenschaftlichen Dokumentarin. Auch wenn diese Einblicke in die Medienwelt sehr interessant waren, entschied ich mich danach dafür, mit Menschen im sozialen Bereich zu arbeiten.
Gemeinsam mit meinem Mann, den ich gegen Ende des Studiums kennengelernt hatte, bin ich in die Region um Hamburg umgezogen. Bis heute engagiere ich mich dort ehrenamtlich in der Selbsthilfe für Blinde und Sehbehinderte. Seit 2012 bin ich Ausbilderin in der beruflichen Rehabilitation und begleite spät erblindete Erwachsene dabei, wichtige Blindentechniken zu lernen - etwa die Brailleschrift oder den Umgang mit Smartphone und Computer. Es erfüllt mich sehr, Menschen auf diesem Weg zu unterstützen und ihre Fortschritte mitzuerleben, beispielsweise weil sie sich mit dem weißen Langstock jetzt wieder eigenständig und selbstsicher von Ort zu Ort bewegen können.
Gerne gebe ich Schulklassen aller Altersstufen Einblicke in das Leben mit einer Sehbehinderung und Blindsein.
Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit sind Schulungen für Unternehmen, die ihre Angebote für sehbehinderte und blinde Menschen barrierefrei gestalten möchten. Dabei geht es etwa darum, Museen oder andere Einrichtungen und deren Webseiten so zu gestalten, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen im Sehen aktiv teilhaben können. Ein Herzensthema ist mir das (Fußball-)Stadion als Lern- und Begegnungsort. Als Fußball-Fan, die selbst regelmäßig Spiele besucht, ist es mir ein Anliegen, dass Sehbehinderte und Blinde die besondere Atmosphäre im Stadion erleben und spannende Spiele verfolgen können. Darüber hinaus besuche ich Schulklassen aller Altersstufen, um mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen und ihnen Einblicke in das Leben mit einer Sehbehinderung und Blindsein zu geben.
TK: Welche Rolle spielt Sport in Ihrem Leben?
Dolle: Sport spielt schon immer eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben. Er ermöglicht mir, körperlich fit zu bleiben und meine Wahrnehmung zu schulen. Zudem gibt er mir Gelegenheit, neue Menschen kennenzulernen und soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Im Lauf der Jahre habe ich eine große Bandbreite an Sportarten ausprobiert, vom Schwimmen und Barrenturnen in der Grundschule über Voltigieren, Reiten und Rudern bis hin zu Skilanglauf im Winter, Trampolinspringen, Tandemfahren, Yoga oder Feldenkrais.
Sport spielt schon immer eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben. Er ermöglicht mir, körperlich fit zu bleiben und meine Wahrnehmung zu schulen.
Sehende Menschen sind sich oft kaum bewusst, wie stark das Sehen den Alltag bestimmt - und wie viel zusätzliche Energie der Umgang mit Blindheit erfordert. Alles, was ich unternehme, dauert in der Regel länger, weil jeder kleine Schritt mehr Aufmerksamkeit verlangt. Es strengt mich an, mich mit dem Langstock auf unbekanntem Terrain in unbekannter Umgebung oder im Straßenverkehr zu bewegen. Ich bin sehr erfahren und geübt und habe keine Probleme, eine Straße zu überqueren oder Treppen zu steigen und komme dabei grundsätzlich sehr selten ins Stolpern. Aber ich bin als blinde Person vom Aufstehen bis zum Schlafengehen in ständiger Anspannung, um jederzeit das Gleichgewicht halten zu können, falls Unvorhergesehenes passiert, sei es, dass ein Bus, in dem ich sitze, plötzlich abbremst oder unerwartet in eine Kurve fährt. Dieses körperliche "Nicht-Loslassen-Können" begleitet mich durch meinen Alltag. Daher ist Sport für mich auch ein wichtiges Mittel, um Stress abzubauen und neue Energien zu tanken.
TK: Wie haben Sie zum Sport gefunden?
Dolle: Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, in der Sport und Bewegung selbstverständlich gefördert wurden. Mit zwei sehenden Jungs - meinem Bruder und einem Nachbarjungen - bin ich schon in meiner frühen Kindheit auf Bäume geklettert. Auch in den beiden Internaten, die ich besucht habe, insbesondere am Gymnasium, wurde Sport intensiv gefördert. Heute gehe ich im Urlaub gern mit meinem Mann wandern oder wir fahren gemeinsam Tandem. Ich habe aber auch schon allein an Wanderwochen für blinde und sehbehinderte Menschen teilgenommen. Zudem bin ich in einer Reha-Sportgruppe, einer Sportgruppe "für alle" - also auch für Sehende. Es freut mich ganz besonders, dass ich dort ohne Vorbehalte willkommen bin, gerade weil ich es auch schon erlebt habe, dass Trainerinnen oder Trainer meine Teilnahme als blinde Person als eine zu große Herausforderung erlebt haben.
TK: Wie würde eine perfekte Sportwelt für Sie aussehen?
Dolle: Vieles hängt davon ab, wie offen Teilnehmende sowie Trainerinnen und Trainer aufeinander zugehen und ob eigene Vorurteile in der Kommunikation abgebaut werden können. Viele Sehende wissen einfach nicht, mit welchen Barrieren Blinde längst sicher umzugehen gelernt haben. Daher wird oft angenommen, Blinde könnten an Sportkursen "für alle" nicht sicher teilnehmen, was aber nicht der Realität entspricht. Sinnvoll ist aus meiner Sicht, dass Trainerinnen und Trainer bereit sind, die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten aller Teilnehmenden wahrzunehmen, so dass eine Sehbehinderung kein Ausschlusskriterium darstellt. Es gehört aber auch, wenn man blind ist, ein gewisses Selbstbewusstsein dazu, in einer Sportgruppe mit Sehenden aktiv zu sein. Denn während ich selbst die Übungen der anderen nicht sehen und daher nicht überprüfen kann, ob ich sie korrekt ausführe, werde ich als blinde Person selbstverständlich von den anderen wahrgenommen und beobachtet.
TK: Welche Erfahrungen haben sie mit inklusiven Sportkursen gemacht?
Grundsätzlich schätze ich barrierefreie Online-Sportangebote sehr, die ich bequem von zu Hause nutzen kann.
Dolle: Inklusion im Sport birgt nach wie vor großes Potenzial. Grundsätzlich schätze ich barrierefreie Online-Sportangebote sehr, die ich bequem von zu Hause nutzen kann - ohne den für mich fordernden Weg zur Sportstätte. Momentan trainiere ich sehr gerne mit einem von der TK geförderten Online-Sportangebot der Initiative "Bewegte Inklusion", das mir ermöglicht, gemeinsam mit einer Gruppe Sport zu treiben. Ergänzend nutze ich die barrierefreien Trainingsangebote der dazugehörigen App, die ich flexibel in meinen Tagesablauf einbauen kann. Beides ist für mich sehr wertvoll, nicht nur wegen der Bewegung, sondern auch wegen des Austauschs mit den anderen Teilnehmenden in der Gruppe. Manchmal müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu viel quasseln.
Sportprojekt für blinde und sehbehinderte Menschen
Blinde und sehbehinderte Menschen dauerhaft für regelmäßige Bewegung und Sport zu begeistern - das war das Anliegen einer Reihe von Online-Fitnesskursen, an denen von Juni bis September 2025 blinde und sehbehinderte Menschen sowie deren Begleitpersonen bequem von zu Hause aus per Livestream teilnehmen konnten. Das Projekt wurde vom Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen in Kooperation mit dem gemeinnützigen Sportunternehmen Bewegte Inklusion ins Leben gerufen und wurde im Rahmen der Selbsthilfeförderung von der Techniker Krankenkasse in Hessen unterstützt. Mit der begleitenden App "Fitness zum Hören" können die Teilnehmenden auch danach audiogestützt und selbstständig weiter trainieren - wann und wo sie möchten. So wirkt das Projekt über seine Laufzeit hinaus und gibt blinden und sehbehinderten Personen einen Schlüssel an die Hand, um im Alltag selbstbestimmt aktiv zu bleiben.