TK: Herr Professor Amelung, eineinhalb Jahrzehnte führten Sie als Vorstandsvorsitzender den Bundesverband Managed Care. Welche großen Entwicklungen haben unser Gesundheitswesen in dieser Zeit verändert?

Prof. Dr. Volker E. Amelung: Zwar ist das Gesundheitswesen noch immer von Silostrukturen geprägt, aber es ist in den letzten 15 Jahren an vielen Stellen wesentlich durchlässiger geworden. Es gibt mehr Dialog und Austausch unter den Akteuren. Hier sind wir einen großen Schritt vorangekommen. Ausgerechnet die Digitalisierung ist aber ein Paradebeispiel für ein Vorhaben, in dem dieser Dialog nicht in ausreichendem Maße stattgefunden hat. Ausgerechnet die Digitalisierung ist aber ein Paradebeispiel für ein Vorhaben, in dem dieser Dialog nicht in ausreichendem Maße stattgefunden hat. Dass wir mit der elektronischen Patientenakte oder mit dem E-Rezept noch nicht weit genug gekommen sind, liegt auch daran, dass die Ärzteschaft nicht von Beginn an ins Boot geholt wurde. Es gibt keinerlei Mehrwert für die einzelne Arztpraxis und damit auch keinen Anreiz, diese Themen voranzutreiben.

Ausgerechnet die Digitalisierung ist aber ein Paradebeispiel für ein Vorhaben, in dem dieser Dialog nicht in ausreichendem Maße stattgefunden hat. Prof. Dr. Volker E. Amelung

TK: Für eine zunehmend individuellere, präzisere und präventive Medizin kommt dem Zugang zu Daten und deren Nutzung enorme Bedeutung zu. Welche Maßnahmen braucht es hier, damit die Patientinnen davon wirklich profitieren und die Versorgung effizienter gestaltet werden kann?

Amelung: Es sind mittlerweile riesige Datenmengen vorhanden. Bisher werden daraus aber noch zu wenige Erkenntnisse für das System abgeleitet. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass beispielsweise die Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes - um es gelinde auszudrücken - noch ziemlich ungeübt im Umgang mit Daten sind. Hier ist eine grundsätzliche Neuausrichtung notwendig. Man muss aber auch die entsprechenden Voraussetzungen schaffen. Der DSGVO liegt der Grundsatz der Datensparsamkeit bzw. Datenvermeidung zugrunde. Diese Prämisse muss im Kontext des Gesundheitswesens neu diskutiert werden. Es gilt, die berechtigten Ansprüche an Datenschutz und Datensicherheit mit der Datennutzung im Sinne der Patientinnen und Patienten bzw. der Bevölkerung in Einklang zu bringen. Gesundheitsversorgung gehört zu den kritischen Infrastrukturen, das wissen wir nicht erst seit der Corona-Pandemie. Neben weiteren guten Argumenten für den Ausbau von Public Health gilt es auch, sich mithilfe von Versorgungsforschungsdaten besser auf kritische Situationen vorzubereiten.

TK: Dank digitaler Lösungen können die Gesundheitsakteure direkt miteinander interagieren. Welche Chancen ergeben sich daraus für die Versorgung in Niedersachsen?

Amelung: Dank digitaler Lösungen kann Versorgung teilweise zeit- und ortsunabhängig stattfinden. Das ist in allen Flächenländern ein Vorteil. In Niedersachsen haben wir beispielsweise mit der Medizinischen Hochschule Hannover Einrichtungen, in denen man Spitzenmedizin auf dem Stand der technologischen und therapeutischen Möglichkeiten erhält, aber wir haben auch ländliche Regionen, in denen der Zugang zur fachärztlichen Versorgung mit langen Wartezeiten und/oder Entfernungen verknüpft ist. Digitale Lösungen können solche das Versorgungsnetz enger knüpfen, damit - im Sinne eines Versorgungsstufenmodells - das richtige Maß und die richtige Qualität an Versorgung für die richtigen Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen. Ein Anwendungsbeispiel sind Apps, die jemand auf dem Land nutzt und für die das Monitoring in der Facharztpraxis oder der Klinik erfolgt. Ein anderes Beispiel wären Telekonsile zwischen ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten und Spezialistinnen und Spezialisten in Kliniken.

Prof. Dr. Volker E. Amelung

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Professor für Internationale Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

TK: Wagen Sie einen Blick in die Glaskugel: Wie sieht die Zukunft der sektorübergreifenden Versorgung aus?

Amelung: Mit der Zunahme von komplexen Krankheitsbildern wie Typ-2-Diabetes oder Parkinson kommen wir gar nicht mehr darum herum, in umfassenderen Versorgungskonzepten zu denken und zu handeln. Die Digitalisierung gibt dem Thema weiteren Schub und verbessert die organisatorischen und prozessualen Voraussetzungen für sektorenübergreifende Versorgung. Insofern sehe ich die Zukunft durchaus positiv.

Die Digitalisierung gibt dem Thema weiteren Schub und verbessert die organisatorischen und prozessualen Voraussetzungen für sektorenübergreifende Versorgung. Insofern sehe ich die Zukunft durchaus positiv. Prof. Dr. Volker E. Amelung

TK: Ein viel besprochenes Thema ist derzeit die neue Krankenhausreform in Niedersachsen. Das neue Gesetz soll die Versorgung auf neue Füße stellen, wie bewerten Sie die nun geplanten Änderungen?

Amelung: Die Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren grundlegend geändert und diesen Veränderungen muss man Rechnung tragen, wenn man ein modernes, leistungsfähiges Gesundheitssystem gestalten will. Ich möchte unter den vielfältigen Faktoren nur zwei Beispiele herausgreifen:

Erstens ist der vermutlich stärkste Veränderungstreiber im stationären Sektor die prekäre Personalsituation. Um eine adäquate Personalausstattung zu erreichen, wird es notwendig sein, personaltechnisch "notleidende" Standorte zu einem gemeinsamen Point of Care zu verschmelzen, der eine angemessene Ausstattung an Fachpersonal sicherstellen kann. Auf diese Weise wird es gegebenenfalls sogar ermöglicht, dass der stationäre Sektor Leistungen der ambulanten Versorgung mit übernimmt.

Zweitens hat sich, wie bereits erwähnt, das Krankheitsspektrum verschoben. Traditionell stand die Akutversorgung im Vordergrund, das Krankenhaus bildete gleichsam den Mittelpunkt der Versorgung. Heute liegt der Fokus auf der langfristigen Versorgung multimorbid chronisch kranker Patientinnen und Patienten, bei denen der Krankenhausaufenthalt nicht im Zentrum der Versorgung steht. Das bedingt auch ein neues Rollenverständnis von Krankenhäusern im Versorgungssystem. Die Krankenhausreform setzt vor diesem Hintergrund an den richtigen Punkten an und könnte auch als Blaupause für andere Bundesländer dienen.

Zur Person

Prof. Dr. Volker Amelung hat seit 2001 eine Professur für Internationale Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er studierte Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen sowie an der Universität Paris-Dauphine und promovierte an der Universität St. Gallen. Von 2007 bis 2022 war er Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care e. V. (BMC). Professor Amelung hat langjährige Erfahrung als Berater für internationale und nationale Unternehmen im Gesundheitswesen sowie für die Weltgesundheitsorganisation (WHO). 2011 gründete er das inav - privates Institut für angewandte Versorgungsforschung GmbH. Über seine Tätigkeiten kann Professor Amelung auf ein breites Netz an Expertinnen und Experten zurückgreifen und ist in Wissenschaft, Praxis und Politik etabliert.

Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Managed Care und Integrierte Versorgung, der Beratung von Stakeholdern im Gesundheitswesen, der Evaluation von Versorgungskonzepten sowie der Entwicklung innovativer Versorgungskonzepte.