TK: Das Thema Nachhaltigkeit befindet sich in aller Munde. Doch wie lässt sich hier ein Bezug zu unserem Gesundheitssystem herstellen? 

Prof. Dr. Claudia Bozzaro: Nachhaltigkeit bedeutet, den Umgang mit Ressourcen so zu gestalten, dass auch Menschen in der Zukunft mit diesen Ressourcen ihre Bedürfnisse befriedigen können. Im Kern geht es bei der Nachhaltigkeit also um die Frage des effizienten Umgangs mit Ressourcen - und zwar mit Ressourcen jeglicher Art. Aus ethischer Perspektive ist dieser Begriff insofern bedeutsam, als er auf der Annahme der intergene-rationellen Gerechtigkeit beruht. Wer von Nachhaltigkeit spricht, geht davon aus, dass Menschen Be-ziehungswesen sind, die in einer Generationsabfolge leben, was ihnen eine gewisse Verantwortung für die Zukunft auferlegt. 

Auch ein funktionierendes und gutes Gesundheitswesen stellt eine gesellschaftliche Ressource dar, die es in vielerlei Hinsicht nachhaltig zu gestalten gilt, zumal wir in der Gesundheitsversorgung ganz spezifische Nachhaltigkeitsprobleme haben. Ein anschauliches Beispiel dafür sind antibiotikaresistente Keime: Expertinnen und Experten prognostizieren, dass diese bis zum Jahr 2050 die häufigste Todesursache in Europa sein werden. Um also nicht nur die heutigen Patientinnen und Patienten effektiv behandeln zu können, sondern auch die von morgen, müssen wir Maßnahmen für einen nachhaltigen Gebrauch von Antibiotika sicherstellen. Aber auch folgende Beispiele sind Nachhaltigkeitsprobleme: die längerfristige Finanzierung unseres Gesundheitssystem; der unzureichende Ausbau von Datengrundlagen für die moderne medizinische Forschung; die Ausgestaltung von Versorgungsstrukturen für eine älterwerdende Gesellschaft, um nur einige Wichtige zu nennen. 

Prof. Claudia Bozzaro

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Professorin für Medizinethik und Leiterin des gleichnamigen Arbeitsbereichs an der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

TK: An welche Maßnahmen denken Sie?

Bozzaro: Tatsächlich gibt es verschiedene Stellschrauben zur Gestaltung eines nachhaltigen Gesundheitssystems. Hierzu gehören beispielsweise Ansätze der Präzisionsmedizin, denen der Gedanke zugrunde liegt, dass Behandlungsmethoden möglichst präzise auf einzelne Personen zugeschnitten werden, um Therapien effektiver und auch kostengünstiger zu gestalten. Hier halte ich es zudem für wichtig, neben den genetischen und biomedizinischen Faktoren auch individuelle Lebensvorstellungen, soziale und kulturelle Faktoren, sicher auch Umweltfaktoren, mit zu berücksichtigen. 
Nachhaltige Medizin setzt zudem auf Digitalisierung, die große Chancen zur Vereinfachung und Beschleunigung von Prozessen bietet - sowohl in der Forschung, als auch in der Versorgung.

Auch die Förderung der Patientenpartizipation kann zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem beitragen. Hierzu muss stärker in die Prävention und Edukation der Patientinnen und Patienten investiert werden, damit diese frühzeitig und aktiv an der Bewahrung ihrer Gesundheit mitwirken können. Dabei sollten gleichzeitig die Zugangsbedingungen zu Präventionsprogrammen und zur Gesundheitsversorgung so gestaltet sein, dass Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen gleichermaßen partizipieren können. Die gezielte Ausbildung von Personen für medizinische Fachbereiche, die in den kommenden Jahrzehnten gebraucht werden und die angemessene Anerkennung von professionell Tätigen im Gesundheitswesen scheint mir ebenfalls zentral. 

TK: Gibt es bereits konkrete Projekte, die einen Beitrag zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem leisten?

Bozzaro: Zwei konkrete Beispiele bieten das Shared Decision Making sowie die Implementierung der klinischen Ethikberatung, die bereits am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) praktiziert werden. Beim Shared Decision Making geht es darum, dass Patientinnen und Patienten zu kompetenten Entscheidungsträgern gemacht werden, um gemeinsam mit der Ärzteschaft die für sie passendste Therapieform auswählen zu können. Dabei stehen die persönlichen Bedürfnisse des betroffenen Menschen im Mittel-punkt. Als Resultat steigt bei den Erkrankten die Bereitschaft, die von ihnen gewählte Therapieform auch langfristig und effektiv umzusetzen. Damit ist die Behandlung nicht nur besonders nachhaltig im Blick auf den Gesundheitszustand der Betroffenen, sondern auch ressourcensparend für das Gesundheitssystem. Die klinische Ethikberatung wiederum unterstützt Behandlungsteams und Patientinnen und Patienten sowie deren Stellvertreter bei schwierigen Therapieentscheidungen.

Auch dieses Instrument führt nachweislich nicht nur zu einer Verbesserung von Entscheidungsprozessen, sondern auch zu effektiveren Therapieentscheidungen im Sinne der Patientinnen und Patienten. Während solche Instrumente bereits implementiert sind, muss sich meines Erachtens der Fokus noch stärker auf soziale Faktoren beziehen, die auch einen bedeutsamen Einfluss auf den Behandlungsablauf und die Versorgung haben können. Vor dem Hintergrund der Alterung unserer Gesellschaft ist zu erwarten, dass immer mehr Menschen über immer längere Zeiträume hinweg mit chronischen Krankheiten leben werden. Da ist es von zentraler Bedeutung, auch bei der Therapieentscheidungen frühzeitig soziale, kulturelle und lebensweltliche Faktoren mit zu berücksichtigen, um die Adhärenz der Betroffen zu gewährleisten. Hier kann auch die Digitalisierung eine wichtige Rolle übernehmen. 

TK: Welche Potenziale bieten digitale Angebote, Telemedizin und KI für eine bessere und nachhaltige medizinische bzw. pflegerische Versorgung für Patientinnen und Patienten sowie Behandelnde und Pflegende?

Bozzaro: Auf der Forschungsebene können zum Beispiel eigens entwickelte Apps und Gesundheitstracker helfen, ein besseres Verständnis der Lifestyle-Gewohnheiten der Patientinnen und Patientinnen zu entwickeln und zu berücksichtigen. Solche Instrumente können natürlich auch hilfreich sein in der Behandlung, wenn es beispielsweise darum geht, bestimmte Lebensgewohnheiten zu verändern. Damit dies nachhaltig gelingt, es ist von essentieller Bedeutung, realistische Ziele mit den Patientinnen und Patienten zusammen zu entwerfen und dabei auch deren Lebenskontexte mit zu berücksichtigen. Gleichzeitig sollte die Entwicklung digitaler Unterstützungsmittel dahingehend begleitet und überprüft werden, dass Überforderung und neue Formen "digitaler Vulnerabilitäten" (der Begriff stammt von Prof. Stefan Selke) vermieden werden. 

Zur Person

Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro ist Professorin für Medizinethik und Leiterin des gleichnamigen Arbeitsbereichs an der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie ist zudem Vorstandsvorsitzende des klinischen Ethikkomitees am UKSH Kiel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf ethischen Fragestellungen am Lebensanfang und am Lebensende, ethische Herausforderungen im Umgang mit chronischen Erkrankungen, der Ethik des Alterns und des guten Lebens.