TK spezial: Studien belegen, dass die Gesundheitskompetenz der Deutschen immer schlechter wird. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Prof. Marie-Luise Dierks: Ob die Gesundheitskompetenz wirklich immer schlechter wird, kann man aktuell nicht belegen. Wir kennen jedoch die Ergebnisse aus ersten bevölkerungsbezogenen, repräsentativen Umfragen, die zeigen, dass über die Hälfte der deutschen Erwachsenen Probleme damit hat, gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden (Schaeffer et al 2017). Menschen mit niedriger Schulbildung geben mehr Schwierigkeiten an als Menschen mit mittlerer und höherer Schulbildung, ebenso Personen mit Migrationshintergrund, aber auch chronisch Kranke.

Bei der Interpretation der Daten muss unbedingt folgendes berücksichtigt werden: Die Ergebnisse basieren auf Selbsteinschätzungen der Befragten, z. B. zu Items wie "Wie schwierig ist es für Sie zu beurteilen, ob Informationen über Gesundheit in den Medien vertrauenswürdig sind?" oder "Wie schwierig ist es für Sie, Vor- und Nachteile von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen?" Wenn Befragte hier Probleme angeben, hat das einerseits etwas mit ihren individuellen Fähigkeiten zu tun, aber es geht auch und aus meiner Sicht vor allem um die Verantwortung des Gesundheitssystems und der Versorgungseinrichtungen. Diese müssten zum Beispiel bei der Informationsvermittlung die individuellen Fähigkeiten der Nutzer berücksichtigen und die Vermittlung so gestalten, dass es Erkrankten und ihren Angehörigen unabhängig von ihrem Bildungsgrad leicht gemacht wird, die Vor- und Nachteile von Behandlungsvorschlägen wirklich abzuwägen und die Konsequenzen ihrer Entscheidung einzuschätzen. Wir sollten uns unbedingt davor hüten, im Sinne eines "blaming the victim" Probleme der Menschen im Umgang mit Informationen auf deren "Unvermögen" zurückzuführen, sondern vielmehr Strategien entwickeln, wie unser Gesundheitssystem gesundheitskompetenzfördernd werden kann.

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Prof. Marie-Luise Dirks

TK spezial: Wer ist für den Aufbau und den Erhalt von Gesundheitskompetenz verantwortlich und in welcher Form sollten die Informationen zur Verfügung gestellt werden?

Prof. Dierks: Wenn wir die oben skizzierte doppelte Sicht auf Gesundheitskompetenz ernst nehmen, sind für den Aufbau und den Erhalt der Gesundheitskompetenz diverse Akteure auf unterschiedlichen Ebenen verantwortlich. Im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz haben wir einige zentrale Bereiche adressiert. Dazu gehört zuerst das Erziehungs- und Bildungssystem, das für die Ausbildung der individuellen Fähigkeiten der Menschen eine wichtige Rolle übernehmen muss, gleichzeitig muss das Gesundheitssystem nutzerfreundlich und gesundheitskompetent gestaltet werden. Das bedeutet unter anderem, die Navigation im Gesundheitssystem zu erleichtern, die Behandlungsqualität von Versorgungseinrichtungen transparent und verständlich zur Verfügung zu stellen, eine gute und verständliche Kommunikation zwischen den Gesundheitsprofessionen und Nutzern zu ermöglichen oder auch Gesundheitsinformationen leicht zugänglich und gut verständlich zu gestalten. Dies gilt im Übrigen auch für die Vereinfachung von Antragsformularen von Kosten- und Leistungsträgern.

Zum zweiten Teil der Frage: In welcher Form die Informationen zur Verfügung gestellt werden, ist dann vielleicht eher zweitrangig - sie müssen verständlich sein, die Bedürfnisse der Nutzer treffen und leicht auffindbar sein. Das Internet ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Ressource, aber wir wissen auch, dass für die meisten Menschen besonders dann, wenn es um Entscheidungen zu Diagnostik und Therapie geht, die personale Information durch Fachpersonen sehr, sehr wichtig ist. Hierfür brauchen die Professionellen Rahmenbedingungen, die die Kommunikation und Information unterstützen, z. B. genügend Zeit, gleichzeitig muss es um eine Stärkung ihrer kommunikativen Kompetenzen gehen.  

TK spezial: Welchen Beitrag kann aus Ihrer Sicht die Digitalisierung zur Erhöhung der Gesundheitskompetenz leisten?

Prof. Dierks: Wenn Digitalisierung dazu beiträgt (was noch zu beweisen wäre), dass in der Versorgung mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten bleibt, Versorgungspfade gut entwickelt werden, oder sektorenübergreifende Behandlungen erleichtert werden - würde die systembezogene Gesundheitskompetenz profitieren, Einrichtungen könnten gesundheitskompetenzfördernd agieren und damit die Kompetenzen ihrer Nutzerinnen und Nutzer gut adressieren. Dies erfordert allerdings über die Digitalisierung hinaus ein Umdenken aller an der Versorgung Beteiligten im Sinne von konsequenter Patientenorientierung.

Wenn Digitalisierung bedeutet, dass die informierte Entscheidung über den Zugang zu guten Informationen verbessert wird, dass Patientinnen und Patienten zeitnah die Befunde von Untersuchungen einsehen können, sie jederzeit Zugriff auf ihre persönlichen Informationen haben, sie schnell und einfach über das Internet gute Informationen finden können und zudem unbürokratisch Unterstützung und Beratung in Gesundheit und Krankheit finden - dann kann Digitalisierung auch die Gesundheitskompetenz der Menschen beeinflussen. 

Wichtig ist es hier, dass Digitalisierung nicht zum Selbstzweck wird, und dass entsprechende Angebote in die Kommunikation zwischen Nutzern und Professionellen eingebunden sind. Dies gilt auch für telemedizinische Sprechstunden oder online-basierte Coaching- oder Therapieangebote.

Und ein letzter Gedanke dazu: Zahlreiche Apps werden heute angeboten, zur Selbstüberwachung, zur Dokumentation des körperlichen und seelischen Wohlbefindens, zur Stressbewältigung oder zu mehr Bewegung - zur Gesundheitskompetenz oder E-health-Literacy gehört dann auch, dass sich Nutzerinnen und Nutzer über die Verwendung ihrer persönlichen Informationen durch die Anbieter informieren und sie nicht unreflektiert zahlreiche sehr intime Details dem Netz anvertrauen. 

TK spezial: Gesundheitsportal: Wie sehen Sie den Stellenwert eines Nationalen Gesundheitsportals?

Prof. Dierks: Ein nationales Gesundheitsportal, so die Idee, könnte und sollte ein wichtiger Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung der Gesundheitskompetenz von Menschen sein. Eine allgemein bekannte und akzeptierte Informationsplattform, finanziert durch die Öffentliche Hand, wäre der Ort, an dem alle Nutzer verständliche, evidenzbasierte und geprüfte Informationen finden. Hier sollten zudem unterschiedliche Nutzerbedürfnisse, und besonders die Bedürfnisse auch der bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, berücksichtigt werden. Informationsvermittlung würde nicht nur textbasiert erfolgen, sondern auch audiovisuelle Formate bieten, verbunden mit verständnisfördernden Elementen, durchaus aus den Bereichen des Edutainments, aber auch mit der Möglichkeit, den Zugang zu telefonischen und persönlichen Beratungsangeboten in Deutschland zu vereinfachen. Ob und wann genau es ein solches Gesundheitsportal geben wird, zeichnet sich aktuell noch nicht ab.

TK spezial: Spezialfall Chroniker: Laut TK-Studie fällt es kranken Menschen schwerer als Gesunden, an gute Gesundheitsinformationen zu kommen, dabei wäre es gerade für kranke Menschen wichtig, sich Gesundheitswissen anzueignen. Woran liegt das und wie ist das veränderbar?

Prof. Dierks: Dass Menschen mit chronischen Erkrankungen über mehr Schwierigkeiten beim Umgang mit Gesundheitsinformationen berichten als Gesunde, kann in unterschiedliche Richtungen interpretiert werden. Aus meiner Sicht deuten die Daten aus der oben skizzierten Bevölkerungsbefragung darauf hin, dass erst in der realen Erkrankungssituation die Schwierigkeit, Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, wirklich deutlich wird, und daraus dann die „schlechteren“ Ergebnisse der chronisch kranken Menschen resultieren. Dies deutet zudem einmal mehr auf die Relevanz einer patientenorientierten Versorgung hin. Schritte dorthin liegen in mehr Partizipation von Betroffenen bei der Gestaltung der Versorgung und der relevanten Informationen. Dazu gehören auch nutzerfreundliche Unterstützungsangebote, flexible Informations- und Lernangebote und gute, unabhängige Patienteninformationszentren. 

Nicht zuletzt sollten die Fähigkeiten zum Selbstmanagement der Betroffenen gestärkt werden. Nützlich sind in diesem Zusammenhang Methoden und Anwendungen, die das Selbstmanagement und die Alltagsbewältigung bei chronischen Erkrankungen unterstützen, wie Tagebücher, Erinnerungsfunktionen zur Medikamenteneinnahme, Motivation zu gesundheitsförderlichem Verhalten. Unabhängig von diesen eher auf eine individuelle Nutzung zugeschnittenen Hilfsmitteln sind gezielte, sozial-kommunikative Angebote relevant - u. a.  Selbstmanagementprogramme (z. B. das krankheitsübergreifende, peer-geleitete Selbstmanagementprogramm "Initiative für Aktives Leben - INSEA"), Patientenschulungen und Patientenbildung. Ein wichtiger Partner ist für viele dieser Aktivitäten die etablierte, von vielen Bürgerinnen und Bürgern geschätzte gesundheitsbezogene Selbsthilfe, die dazu beiträgt, dass chronisch Kranke ihre Situation gut bewältigen, und sie ist ein wichtiger Akteur bei der Weiterentwicklung der Gesundheitskompetenz der Betroffenen. 

Zur Person

Prof. Dr. Marie-Luise Dierks, Erziehungswissenschaftlerin, seit 2004 Professorin für Public Health an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Leitung des Ergänzungsstudiengangs Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health). Mit-Initiatorin und Leiterin der 2006 gegründeten ersten deutschen Patientenuniversität an der MHH. Forschungsschwerpunkte: Patientenbedürfnisse und Patientenzufriedenheit, Qualität von Patienteninformation und -beratung, gesundheitliche Versorgung älterer Menschen, Entwicklung und Evaluation von Bildungsprozessen, Stärkung von Selbstmanagementfähigkeiten bei Menschen mit chronischen Erkrankungen, Wirkungen der organisierten Selbsthilfe.