TK: Wie wird sich die medizinische Versorgung durch den Einfluss von Gesundheits-Apps aus Ihrer Sicht verändern?

Prof. Scherenberg: Schon jetzt werden immer mehr Gesundheits-Apps in der medizinischen Versorgung eingesetzt und die Akzeptanz wird langfristig steigen: Einerseits aufgrund der jungen Generation, die jetzt mit digitalen Medien groß wird und andererseits durch die wachsende Technik-Affinität bei älteren Menschen. Wie stark sie wächst, hängt auch von der Akzeptanz vertrauter Multiplikatoren ab, die Apps empfehlen - also beispielsweise von Ärzten.

Der Erfolg einer App wird letztlich an ihrem Nutzen gemessen. Nützlich können Gesundheits-Apps etwa in unterversorgten Bereichen sein. Also beispielsweise in dünn besiedelten Gebieten oder bei mangelnden Therapieplätzen. Gesundheits-Apps können hier ergänzend Hilfe leisten. Dabei dürfen Apps niemals als isoliertes System angesehen werden, sondern als ein ergänzender Bestandteil der medizinischen Versorgung. Die Kombination aus persönlicher Beratung, Videosprechstunde und App-Begleitung macht's. 

Prof. Viviane Sche­ren­berg

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Vizepräsidentin für Strategische Kooperationen und Transfer & Dekanin Public Health und Umweltgesundheit, APOLLON Hochschule, Bremen

TK: Wie schafft man es, die Menschen mit Apps zu erreichen?

Prof. Scherenberg: Für die Erreichbarkeit sind besonders lernoffene Situationen, sogenannte "teachable moments" relevant. Solche emotionalen Aha-Momente stellen teils kritische Lebenssituationen dar, die uns veranlassen, den Reset-Knopf zu drücken. Das kann etwa eine Krankheitsdiagnose sein oder es können kritische Selbsttests zum Fitnesszustand oder zu Ernährungsgewohnheiten sein, aber auch Gespräche mit Ärzten oder Gleichgesinnten. Solche Test- oder Austauschelemente kann man auch in Gesundheits-Apps integrieren.

Zudem kann es förderlich sein, die Erinnerungsfunktion in den Apps zu nutzen. Allerdings können immer wiederkehrende Push-Nachrichten auch bevormundend wirken, was zur Folge hat, dass die jeweilige Person die App nicht nutzt. Gleiches gilt für die Integration von Gamification-Elementen, also wenn es darum geht, eine Rangliste zu erklimmen oder Abzeichen zu erhalten. Diese können motivieren, sich aber auch mit der Zeit abnutzen oder gar demotivieren, wenn die Anreize aufgrund des aktuellen Gesundheitszustandes oder -verhaltens nicht zu erreichen sind. 

Daher ist es ratsam, Gesundheits-Apps zu personalisieren und Ziele persönlich zu besprechen, um die App bedarfsgerecht einzustellen. Letztlich muss es immer darum gehen, Menschen darin zu unterstützen, ihre Selbstwirksamkeit zu stärken. Auch sollten beispielsweise unterschiedliche Altersgruppen verschieden angesprochen werden. Meist sind junge Menschen aufgeschlossener gegenüber digitalen Medien, mitunter verlieren sie aber auch schneller das Interesse, wenn die App nicht gleich das bietet, was sie für nützlich halten. Für ältere Menschen wird es wiederum oft zu kompliziert: Eine App mit möglicherweise reduzierten Senioren-Funktionen, die leichter bedienbar ist, wäre eine Lösung. 

Was ist Gamification?

In dem Begriff Gamification steckt das englische Wort "game", das übersetzt "Spiel" bedeutet. In deutscher Sprache würde Gamification daher Spielifikation lauten. In Spielen finden sich viele Mechanismen, die sehr motivationssteigernd sein können. In der virtuellen Spielewelt sind unter anderem visuell attraktiv aufbereitete Ranglisten, Auszeichnungen oder Punktegewinne solche motivierenden Elemente. Diese können auch in Angeboten eingebaut werden, die sonst erst einmal ohne spielerischen Ansatz entwickelt wurden, wie etwa digitale Lernprogramme. Ist das der Fall, so spricht man von Gamification.

TK: Was muss eine Gesundheits-App mitbringen, damit sie dem Menschen hilft?

Prof. Scherenberg: Gesundheits-Apps können vielfältige Funktionen haben: Sie können Anstupser sein für Verhaltensänderungen, sie können Sicherheit geben, die eigene Krankheit besser im Griff zu haben und den eigenen Körper und die Konsequenz des eigenen Handels besser zu verstehen. Dies setzt voraus, dass bei der App-Entwicklung zukünftig stärker bedacht wird, dass sich die Gesundheitskompetenz eines Users durch die App-Nutzung weiterentwickelt. Der "Outcome" muss stimmen: Baut die App beim User Wissen auf, das ihm hilft, mit seiner Krankheit umzugehen? Ist die App in der Lage, neue Gewohnheiten zu etablieren? Hier scheint es Nachholbedarf zu geben. Beispielsweise orientieren sich DiGAs am medizinischen Nutzen, und beziehen die systematische Steigerung der Gesundheitskompetenz nicht mit ein.

Der Aufbau von Gesundheitskompetenz - etwa durch alltagstaugliche und spielerische Lerneinheiten oder ein Quiz - ist aber ein entscheidender Faktor, um einen Menschen im Umgang mit seiner Krankheit zu stärken. Also kurzum: Die App muss in der Lage sein, Einstellung zu ändern, indem sie sensibilisiert und Wissen stärkt, um so das Verhalten zu ändern.

TK: Was brauchen wir in Deutschland, damit Apps als ein Versorgungselement bei den Menschen ankommen?

Prof. Scherenberg: Man muss sich immer fragen, was sich für ein Land besonders anbietet. Australien zum Beispiel hat mit Abstand die höchste Hautkrebsrate. Hier bietet sich eine UV-Warn-App für die Bevölkerung an. Dabei ist nicht nur der Blick auf das mögliche Präventionspotenzial - insbesondere vulnerabler Gruppen - wichtig, sondern es muss auch geschaut werden wo Lücken bestehen. Welche Hilfsangebote existieren bereits? Wie und wie gut sind diese inhaltlich ausgestaltet? Oft gleichen sich die App-Funktionen sehr, etwa bei Bewegungs-Apps: Diese sind meist als Tracking-Apps ausgelegt, die Schritte zählen.

Wichtiger ist, die Nutzer in die Lage zu versetzen, neue Gewohnheiten zu etablieren. Apps sollten einen stärkeren Fokus darauf legen, wie der innere Schweinehund ausgetrickst werden kann oder wie Menschen mit Rückfällen in alte Gewohnheitsmuster umgehen sollten. Außerdem sollte die App positive Emotionen wecken, die Freude auslösen. Gleichzeitig sollte sie auch Verständnis ausdrücken, wenn sie kleinste Verhaltensänderungen registriert, die etwa dazu führen können, dass Ziele nicht erreicht werden.

TK: Aus welchem Grund beschäftigen Sie sich bei Ihren Forschungen ausgerechnet mit Gesundheits-Apps?

Prof. Scherenberg: Das ist ein sehr spannendes und dynamisches Feld. Es ist ein Bereich, der stark wächst und kompliziert zu durchdringen ist. Das liegt nicht nur daran, dass Apps und die Nutzergruppen so heterogen sind. Sondern auch daran,  dass Apps nicht mehr isoliert betrachtet werden können: Die Apps und die Funktionen innerhalb der Apps lassen sich zunehmend mit anderen Gadgets, wie Uhren oder Virtual-Reality-Brillen, verknüpfen. Hier sind noch starke Entwicklungen zu erwarten, die auch kritisch betrachtet werden müssen. Zu oft wird die Digitalisierung pauschal als Heilsbringer angesehen, aber es müssen auch Gefahren - zum Beispiel mögliche Abhängigkeiten, betrachtet werden. Es gibt kein Patentrezept, wie Apps einzuschätzen sind, da es noch zu wenig Langzeitstudien gibt. Das zu begleiten, ist extrem spannend.

Zur Person

Prof. Dr. Viviane Scherenberg leitet den Fachbereich "Public Health und Umweltgesundheit". Die gebürtige Wuppertalerin ist seit 2011 für die APOLLON Hochschule Gesundheitswirtschaft in Bremen tätig.

Die Gesundheitswissenschaftlerin leitet zudem die beiden selbst entwickelten Studiengänge Präventionsmanagement (B. A.) und Master Public Health (M.Sc). Prof. Scherenbergs Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich ePublic Health, Präventions-Apps und Präventionsmarketing. In ihrer Freizeit fotografiert sie leidenschaftlich gerne Tiere in der Natur und legt bei diesem Hobby unbewusst - laut Fitness-Tracker - mehr Schritte zurück als bei Ihren Firmenläufen.