TK: Was waren die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, die zur Gründung der Landesvertretungen der Ersatzkassen führten? 

Jörg Niemann: Vonseiten der Länder gab es damals Forderungen, die bundesweiten Ersatzkassen zu regionalisieren und für alle Kassen die Beitragssätze regional zu kalkulieren. Das hätte dem Selbstverständnis der Ersatzkassen als bundesweiten Solidargemeinschaften zentral widersprochen. Kernaufgabe der neu gegründeten Landesvertretungen war es, den Landesregierungen und der Landespolitik als verlässliche Ansprechpartner für alle Fragen der landesbezogenen Gesundheitspolitik zur Verfügung zu stehen und damit gleichzeitig zur Wahrung der bundesweiten Organisationsprinzipien der Ersatzkassen beizutragen. Gab es damals noch fast 1.200 Krankenkassen, so sind es heute nur noch rund 100, die Mehrzahl davon wie die Ersatzkassen mit bundesweit kalkulierten Beitragssätzen. Insofern haben wir die Mission erfüllt und darüber hinaus zunehmend weitere Aufgaben übernommen. Heute vertreten wir die Ersatzkassen auf Landesebene im Vertragsbereich als gemeinsamer Bevollmächtigter und politisch in allen wesentlichen Versorgungsfeldern der Kranken- und Pflegeversicherung.

TK: Können Sie sich noch an Ihren 1. Arbeitstag bei der damals neu gegründeten Landesvertretung der Ersatzkassen erinnern? 

Niemann: Sehr gut sogar. Es war ein heißer Juli-Tag; unsere Büroräume konnten wir erst ab August beziehen, auch die neuen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren noch nicht da. Ich saß in den Räumen der BARMER vor einem halben Meter VdAK-Rundschreiben vom Beitrags- über das Leistungs- bis zum Vertragsrecht. So begann ich mir einen Überblick über die ganz verschiedenen Aufgaben des Verbandes zu verschaffen. Die Öffnung der neuen Landesvertretung fand dann am 19.11.1990 mit Grußworten des damaligen neuen Niedersächsischen Sozialministers Walter Hiller und des VdAK-Vorsitzenden Karl Kaula statt.

Jörg Niemann

Jörg Niemann, ehemaliger Leiter der vdek-Landesvertretung Niedersachsen Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Ehemaliger Leiter der vdek-Landesvertretung Niedersachsen

TK: Ihre 31 Jahre als Leiter der Landesvertretung fallen in die Zeit bedeutsamer Umbrüche für die Gesetzliche Krankenversicherung. Was waren die großen Entwicklungslinien dieser Zeit?

Niemann: Die Diskussionslage in der Gesundheitspolitik hat sich massiv verschoben. In der Zeit vor 1990 bis zur Finanzkrise 2008 gab es einen steten Wechsel von Gesetzen zur Kostendämpfung und Begrenzung der Ausgabendynamik sowie einer vorsichtigen Weiterentwicklung und Anpassung des Leistungsrahmens der GKV. So wurden beispielsweise mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 die Ausgabenentwicklung für Ärzte und Ärztinnen an die Entwicklung der Einnahmen der Krankenkassen angepasst und die Zahl der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzte und Ärztinnen begrenzt. Auch im Krankenhausbereich wurde eine strikte Vergütungsbudgetierung eingeführt. Dagegen ist die Gesundheitspolitik der letzten beiden Legislaturperioden gekennzeichnet von einer Vielzahl kostentreibender Gesetze zugunsten der Leistungserbringer. In der Folge haben sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2000 von 126 Mrd. Euro auf über 260 Mrd. Euro mehr als verdoppelt, der Beitragssatz ist von 13,6 Prozent auf durchschnittlich 15,9 Prozent gestiegen. An diesen Zahlen wird übrigens deutlich, dass Behauptungen, wonach das Gesundheitswesen "kaputtgespart" wurde, jeder realen Grundlage entbehren. 

Lange Jahre wurde die Diskussion dominiert von einer Verbesserung der Versorgung mit den bestehenden Finanzmitteln sowie dem Nutzen der medizinischen Behandlung für die Patienten und Patientinnen, beispielsweise durch die Einführung strukturierter Behandlungsprogramme. Heute stehen demgegenüber häufig die Einkommensinteressen der Leistungserbringer und die vermeintlich notwenige Steigerung der Attraktivität der Tätigkeit im Gesundheitswesen im Vordergrund. 

TK: Was war die schwierigste Reform mit dem größten Veränderungsdruck?

Niemann: Das kommt auf den Fokus des Betrachters an. Für die Ärzteschaft war mit Sicherheit die Kopplung der Ausgaben an die Entwicklung der Einnahmen der Krankenversicherung 1993 - die im Übrigen wieder weitgehend aufgehoben worden ist - eine besondere Zäsur. Aus Sicht der Krankenhäuser ist es das Fallpauschalengesetz (FPG) aus dem Jahr 2003 mit der Umstellung der Vergütung nach Liegezeiten hin zu landeseinheitlichen Fallpauschalen und Sonderentgelten nach diagnosebezogenen Fallgruppen (DRGs). Für die Krankenkassen war es das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), das ab 1993 die Öffnung aller Krankenkassen für alle Versichertengruppen sowie einen Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen (Risikostrukturausgleich) vorsah. Damit wurde der Wettbewerb in der Krankenversicherung erheblich intensiviert. 

TK: Was war die Gesundheitsreform, die aus Ihrer Sicht am ehesten verzichtbar gewesen wäre? 

Niemann: Eindeutig das GKV Wettbewerbsstärkungsgesetz (WSG) aus dem Jahr 2007. Damit wurde die Finanzhoheit der Krankenkassen über ihre Beitragsmittel abgeschafft. Stattdessen werden die Beiträge seitdem an den neu eingeführten Gesundheitsfonds überführt, aus dem dann Mittel nach dem Risikostrukturausgleich an die Kassen zurücküberwiesen werden. Gleichzeitig wurden die Aufgaben der Bundesverbände der gesetzlichen Krankenkassen abgeschafft und an den neu geschaffenen "Spitzenverband Bund der Krankenkassen" übertragen. Wie stark die Politik inzwischen auf die Finanzmittel der Beitragszahler im Gesundheitsfonds zugreift, wird an den aktuellen Regelungen zur Pandemie deutlich. Für die Krankenkassen wurden mit diesem Gesetz die Möglichkeiten der sozialpolitischen Gestaltung deutlich reduziert und der Druck für eine betriebswirtschaftliche Ausrichtung weiter erhöht. 

TK: Stichwort Pflege: War die Einführung der Pflegeversicherung aus heutiger Sicht richtig? Oder ist sie eine "Unvollendete" geblieben? 

Niemann: Mit Sicherheit war die Schaffung der Pflegeversicherung zur solidarischen Absicherung dieses großen Lebensrisikos richtig. Es zeigt sich aber auch, dass die Trennung zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung viel zu kurz gedacht war und der Ansatz der Ausgabenbegrenzung durch begrenzte Leistungen (Teilkasko) nicht haltbar ist. Die stark steigenden Eigenbeteiligungen überfordern die Pflegebedürftigen und machen die Pflegeversicherung zu einer Dauerbaustelle.

Trotz der starken Ausgabensteigerung auf inzwischen weit über 40 Mrd. Euro haben die immer stärkeren Erwartungen an die Pflegeversicherung etwa durch die Ausweitung der Leistungen oder auch die Diskussionen um das Einkommen der Pflegekräfte zu einem hohen Maß an Unzufriedenheit und Kritik geführt, das der wichtigen Funktion der Pflegeversicherung für die Betroffenen  nicht gerecht wird. 

TK: Was waren die größten Erfolge der niedersächsischen Gesundheits- und Pflegepolitik und wo muss die Niedersächsische Landesregierung in den kommenden zehn Jahren anpacken? 

Niemann: Ein besonderer Impuls, der über Niedersachsen hinaus wahrgenommen wird, sind die Gesundheitsregionen. Damit ist es dem Land gelungen, nahezu flächendeckend die wesentlichen Akteure der Versorgung auf regionaler Ebene an einen Tisch zu bekommen. Auf der anderen Seite fällt der große Gegensatz auf zwischen dem Anspruch der Länder, entsprechend der Zuständigkeit nach dem Grundgesetz Gesundheitspolitik auf Landesebene mitzugestalten und der Bereitschaft, entsprechende notwendige Finanzmittel für Investitionen zur Verfügung zu stellen. Deutlich wird dies etwa im Bereich der Pflege, wo für stationäre Einrichtungen überhaupt keine Investitionsmittel bereitgestellt werden und für ambulante Einrichtungen die Investitionsmittel seit über zehn Jahren nicht erhöht wurden.

Dramatisch ist die Situation im Krankenhausbereich, wo einer Vielzahl wichtiger und sinnvoller Investitionsprojekte viel zu geringe Fördermittel des Landes gegenüberstehen. Das Land hat erheblich dazu beigetragen, dass in Niedersachsen viele Projekte für moderne, leistungsfähige Krankenhäuser entwickelt wurden. Es ist nun dringend gefordert, für die Initiativen zur Fusion von Krankenhäusern zugunsten größerer, leistungsfähigerer Einheiten nun auch die entsprechenden Finanzmittel bereitzustellen. Die Bürger und Bürgerinnen werden nicht verstehen, wenn nach einer langen, intensiven Diskussion die Verwirklichung moderner Strukturen am Geld scheitert. 

TK: Wenn Sie zurückschauen: Was war die schwierigste Auseinandersetzung und was der größte Erfolg, den Sie erreichen konnten? 

Niemann: Beides war mit Sicherheit unser Beitrag zur Weiterentwicklung der Krankenhausstruktur in Niedersachen. Als wir 2013 die Notwendigkeit einer Veränderung der Krankenhauslandschaft thematisiert hatten, damit Krankenhäuser nicht immer stärker schrumpfen, sondern größer und leistungsfähiger werden, blies uns der Wind ins Gesicht und wir mussten uns viel Kritik anhören. Inzwischen ist es Konsens in Niedersachsen, dass für bessere Qualität und höhere Wirtschaftlichkeit weniger Krankenhausstandorte benötigt werden. Das ist auch in der sehr intensiven Diskussion in der Enquetekommission des Landtags am Ende noch einmal bestätigt worden.

Nach meinem Eindruck ist Niedersachsen inzwischen bundesweit führend bei der Entwicklung von Fusionsprojekten zur Schaffung größerer Krankenhäuser auf regionaler Ebene. Neun Fusionsprojekte, etwa in Georgsheil, dem Landkreis Vechta, dem Heidekreis oder dem Landkreis Diepholz, bedeuten echte Meilensteine für eine hochwertige stationäre Versorgung der Zukunft in Niedersachsen. Diese Diskussion auch gegen erhebliche Widerstände auf Landesebene geprägt zu haben, war ein wichtiger Beitrag der Ersatzkassen.  

TK: Was schätzen Sie an der niedersächsischen Gesundheitsszene im Vergleich zur Bundesebene in Berlin? 

Niemann: Der Unterschied der Aufgaben besteht grundsätzlich darin, dass auf Bundesebene die grundsätzlichen Regelungen festgelegt und der Rahmen gesteckt wird. Die konkrete, operative Umsetzung für die Versorgung durch konkrete Abstimmungen und Verträge erfolgt auf Landesebene. Hier bestehen erhebliche Möglichkeiten zur Gestaltung. 

Beim Vergleich zwischen den Ländern gilt für das Gesundheitswesen das, was auch für viele andere Bereiche gilt. In Niedersachsen wird häufig unaufgeregt und pragmatisch nach tragfähigen, guten Lösungen gesucht. An ganz vielen Stellen gelingt dies ohne medienträchtige Auseinandersetzungen. Umso mehr fällt es dann auf, wenn in einzelnen Bereichen die Erwartungen und Forderungen der Leistungserbringer so hoch sind, dass ein fairer Interessensausgleich kaum möglich ist. 

TK: Wenn Sie den Akteurinnen und Akteuren für die kommenden zehn Jahre eine Rat geben können, was wäre das?

Niemann: Es geht mir weniger um einen Rat als um eine Einschätzung. Etwas mehr Demut und etwas weniger Katastrophenrhetorik würde dem Gesundheitswesen sicher guttun. Die Pflegekatastrophe an die Wand zu malen, während die Zahl der Beschäftigten und der Auszubildenden enorm gestiegen ist und weiter zunimmt, zeugt nicht von Verantwortungsbewusstsein. Patienten und Patientinnen mit der Botschaft "Die Versorgung ist in Gefahr" vor den Karren eigener Einkommensinteressen zu spannen lehne ich ab. Das führt nicht zu anderen Abschlüssen, schafft aber große Verunsicherung gerade bei denen, die sich auf eine gute Versorgung besonders verlassen können müssen. Nicht die Interessen der Leistungserbringer, sondern eine gute Behandlung der Patienten und Patientinnen muss im Vordergrund stehen. 

Bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens müssen die Finanzierbarkeit und die Belastung der Beitragszahler berücksichtigt werden.

TK: Vielen Dank!