Im Fokus: Zukunft der ambulanten Versorgung
Interview aus Sachsen
Die Arztzahlen steigen, gleichzeitig sind immer mehr Versicherte mit ihrer Termin- und Versorgungssituation unzufrieden. Umso größer wird der Handlungsdruck im Hinblick auf spürbare Reformen. Nahezu alle Akteure in der ambulanten Versorgung erarbeiteten bereits Vorschläge und Ideen, wie Verbesserungen erreicht werden könnten. Ein gemeinsamer Nenner dabei ist, dass eine bessere Steuerung der Patientinnen und Patienten in und durch das System erfolgen muss.
Es geht hier um Bedarfsgerechtigkeit, also einer niedrigschwelligen Versorgung von leichten Fällen und einer besser koordinierten Behandlung bei schwereren Fällen.
Wie die Zukunft der ambulanten Versorgung zum Wohle der Patientinnen und Patienten aussehen sollte, haben wir mit Alexander Krauß, Leiter der TK-Landesvertretung Sachsen, besprochen. "Die ambulante Versorgung muss ganzheitlich, das heißt vom vermuteten medizinischen Bedarf des Versicherten, über die Identifizierung des tatsächlichen Bedarfs, bis zum Abschluss der Behandlung betrachtet werden. Sie muss ferner auf eine zielgerichtete und damit effektive sowie effiziente Versorgung hin transformiert werden", so Krauß.
TK: Warum braucht es eine umfassende Reform der ambulanten Versorgung?
Alexander Krauß: Das gegenwärtige ambulante Versorgungssystem kommt aktuell teils an seine Grenzen. Die Bürgerinnen und Bürger spüren insbesondere im Hinblick auf Terminfindung und Wartezeiten im Facharztbereich seine Schwächen. Gleichzeitig fordern viele Ärztinnen und Ärzte Entlastung. Aufgrund der Komplexität des ambulanten Systems sind punktuelle Anpassungen nicht erfolgversprechend. Wir brauchen Mut und Kraft für strukturelle Veränderungen. Dabei muss vor allem mehr digitale Unterstützung eine Schlüsselrolle einnehmen. Mit dieser Ansicht sind wir übrigens nicht allein. Auch die Koalition möchte hier ran.
TK: Was ist dafür zu tun?
Krauß: Aus unserer Sicht ist es notwendig, sowohl den Zugang in und die Wege durch die Versorgung zu reformieren. Dafür müssen wir neue Wege einschlagen. Auch Krankenkassen sollten mehr Möglichkeiten bekommen, ihre Versicherten noch aktiver bei ihrer Versorgung zu unterstützen.
Alexander Krauß
TK: Und wie kann eine zukunftsfähige ambulante Versorgung aufgebaut sein?
Krauß: Die Versorgung sollte künftig nach dem Prinzip 'Digital vor ambulant vor stationär' strukturiert sein. Da es sich um einen strukturellen Reformansatz handelt, bedarf es mehrerer Elemente. Ich möchte anschließend einige herausgreifen. Zunächst bedarf es einer standardisierten, digital gestützten Ersteinschätzung zur Identifikation des medizinischen Bedarfs. Diese gibt eine schnelle Einordnung des Anliegens und definiert den weiteren Behandlungspfad. Wer einen Arztkontakt braucht, soll diesen über eine zentrale Terminplattform in der passenden Versorgungsform zeitnah vermittelt bekommen. Begleitend dazu sind im Sinne der besseren Nutzung der Arztkapazitäten die Optionen zu telemedizinischer Behandlung, Delegation und Substitution mithilfe von qualifiziertem medizinischem Personal auszubauen. Denn dadurch wird es noch besser möglich, dringliche und komplexe Fälle gezielt zu versorgen.
TK: Wie und wann soll die Ersteinschätzung ablaufen?
Krauß: Grundsätzlich muss vor jedem neuen Behandlungsanlass, also vor dem eigentlichen Arztkontakt, eine Abklärung des Behandlungsbedarfs erfolgen. So können leichte Fälle, etwa eine Krankschreibung oder telemedizinisch erbringbare Fälle, niedrigschwelliger und schnell versorgt werden. Gleichzeitig wäre es möglich, die Versicherten gezielt zu Terminvermittlung, Informationsangeboten und anderen Services weiterzuleiten. Die Ergebnisse der Ersteinschätzung reichen demnach von selbstgesteuerter Gesundheitsfürsorge, wo wir als Krankenkasse auch gern unterstützen, über Behandlung durch Ärztinnen und Ärzte oder qualifiziertes medizinisches Personal bis zum direkten Auslösen des Notrufs. Nach welchen standardisierten Kriterien eine solche Ersteinschätzung erfolgen soll, müssen natürlich medizinische Fachleute festlegen und es muss auf evidenzbasierten Erkenntnissen beruhen.
TK: Und wo kann die Ersteinschätzung durchgeführt werden?
Krauß: Das Ersteinschätzungsverfahren muss unabhängig von Zeit und Ort verfügbar sein und standardisiert ablaufen. Der oder die Versicherte entscheidet, wann und wo er es nutzt. Idealerweise findet die Verwendung vor dem Weg in die Praxis per Browser oder App statt. Neben dem bevorzugten digitalen Zugangsweg muss auch eine telefonische Nutzung, zum Beispiel über die 116 117 möglich sein. Beim persönlichen Aufsuchen der Praxis oder des neu zu schaffenden Integrierten Versorgungszentrums (INZ) erfolgt die Ersteinschätzung dort. Dabei muss gewährleistet sein, dass die Ergebnisse einheitlich sind, also völlig unabhängig vom Eingabe- oder Abrufungsort ausfallen.
TK: Der ambulante Bereich steht also unmittelbar vor einer großen Reform, oder?
Krauß: Ja. Die Politik hat sich Primärversorgung auf ihre Agenda gesetzt, jetzt gilt es mutig an die Strukturen zu gehen. Seitens der Ärzteschaft und in den Reihen der Kassen sind viele für wirksame Veränderungen bereit.